Betreuer Hannes liest aus einer Krimi-Geschichte vor. Aufmerksam verfolgt Harald die Handlung und ist erst dann zufrieden, wenn er das Ende kennt.

Foto: derStandard.at/Elisa Weingartner

Die beim Waldspaziergang gefundenen Beeren sind der einzige erlaubte kulinarische Luxus zwischen den Mahlzeiten, ansonsten müssen die Jugendliche, die am PWS-Syndrom erkrankt sind, streng Diät halten.

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Eine Runde Scrabble kurbelt die Konzentrationsfähigkeit an.

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An einem sonnigen Julimorgen führt mich Johannes Nievoll, Landwirt und Waldpädagoge, durch den Torbogen hinein ins "Tschipsiländ" - ein vom Schloss Oberkindberg in der Steiermark zur Verfügung gestellter "Naturspielraum" am Bauernhof. Dort eröffnet sich ein Paradies für Tierliebhaber. Grüne Wiesen, so weit das Auge reicht, junge Katzen spielen zwischen Hühnerstall und Heuballen.

Unter, auf und neben einem Kirschbaum stehen und sitzen sechs aufgeregte Jugendliche und erfreuen sich sichtlich am Genuss des frisch gepflückten Obstes. In Streichelweite sind Ziegen, Esel und ein Schwein, die sich von den Mädchen und Burschen mit Blättern füttern lassen. Ich platze in das idyllische Geschehen, bekomme sofort großzügig Kirschen und eine Führung durch den Bauernhof angeboten.

Was wie ein Ausflug in Alice' Wunderland klingt, ist der Beginn eines Tages, den ich mit Jugendlichen, die am Prader-Willi-Syndrom (PWS) leiden, beim alljährlichen Ferienlager am Bauernhof verbringe. Ganz so harmonisch geht es nicht immer zu, erklären mir die Betreuer der sechsköpfigen Gruppe, Jutta Ochsenhofer, Fachkraft für tiergestützte Therapie, Sozialbetreuerin, Kräuterpädagogin und Organisationsleiterin in Tschipsiländ sowie ihr Kollege Johannes Nievoll. Die beiden sind primär damit beschäftigt, die Jugendlichen zwischen 14 und 23 Jahren von Gedanken ans Essen abzulenken und zur Bewegung zu animieren.

Unkontrolliertes Essverhalten

Menschen mit Prader-Willi-Syndrom haben immerzu Hunger und werden - egal wie viel sie essen - nie satt. So lässt sich das tägliche Leid von Betroffenen beschreiben. Besonders unfair ist, dass der verminderte Muskeltonus auch noch eine schnelle Gewichtszunahme begünstigt, was oft bereits bei Kindern und Jugendlichen zu starkem Übergewicht führt.

Halten die Betroffenen nicht lebenslang Diät, ist mit schweren gesundheitlichen Folgen aufgrund der raschen Gewichtszunahme zu rechnen. Viele entwickeln zusätzlich eine geistige Behinderung, was die Kontrolle des Essverhaltens nicht unbedingt  einfacher macht.

Kinder, die diesen seltenen angeborenen Gendefekt auf dem Chromosom 15 haben, weisen unmittelbar nach der Geburt bereits eine Muskelschwäche auf. Außerdem trinken sie auffällig wenig und sind in ihrer Entwicklung deutlich verlangsamt. Im Alter von drei oder vier Jahren setzt dann eine regelrechte Esssucht ein, oft in Kombination mit einem ausgeprägten Starrsinn. Während andere Kinder an Selbstständigkeit gewinnen,  benötigen jene mit PWS weiterhin eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, Häufig sind sie bis ins Erwachsenenalter von der Obhut der Eltern und Angehörigen abhängig.

Motivation zur Bewegung

Klaus*, der bereits 15 Jahre alt ist, glaubt noch an Märchenfiguren. Stolz zeigt er mir im Wald die von ihm und seinen Freunden selbstgebauten kleinen Behausungen, die sie für die Zwerge gemacht haben, von denen sie für den Aufwand hin und wieder mit kleinen Naschereien belohnt werden.

"Für viele ist der kurze Spaziergang in den Wald körperlich sehr anstrengend, da braucht es schon eine besondere Motivation", erklärt Hannes den Grund für die aufwendige Zwergen-Belohnungsgeschichte. Am Weg zurück zum Bauernhof finden wir Beeren, die gleich gegessen werden dürfen. Der einzige erlaubte kulinarische Luxus zwischen den Mahlzeiten, ansonsten müssen die Jugendliche, die am PWS-Syndrom erkrankt sind, permanent strenge Diät halten.

Tun sie das nicht, lauern schwerwiegende gesundheitliche Risiken aufgrund der schnellen Gewichtszunahme. Es ist fünf Minuten vor 12 und Klaus freut sich bereits aufs Mittagessen. Es gibt Cousous mit selbst gepflückten Kräutern, etwas mageren Schinken und Sauerrahm, davor eine Gemüsesuppe und zum Dessert 3 Schokokugeln.

Nach dem Essen gibt es Kaffee für alle. "Der hilft uns etwas munterer zu werden. Denn wir PWS-Kinder sind immerzu müde", erklärt die 13jährige Sonja*. Um die Konzentrationsfähigkeit und den Kalorienverbrauch gleich wieder anzukurbeln, werden nach dem Essen sofort Pläne für die nächsten Aktivitäten gemacht.

Sonja hat eine zirkusreife Show im Garten vorbereitet. Sie führt eine Ziege über eine Bretter-Schaukel und anschließend durch einen Parcours aus Stöcken. Nach einer Runde Scrabble begleiten einige Kinder Hannes in den Wald zum Äste-Sammeln für eine neue Stallausstattung der Wachteln und Seidenhühner. Der Rest bricht mit Jutta zu einem Spaziergang auf.

Nun habe ich auch Gelegenheit, mit Harald*, 18 Jahre alt, zu sprechen, der mich bei meiner Ankunft skeptisch beäugt hat. Als wir schließlich entdecken, dass wir beide von der Geschichte eines bestimmten Kriminalromanes fasziniert sind, lässt er mich nicht wieder los, bis ich ihm bis ins kleinste Detail die Charaktere des Krimis beschrieben habe.

"Oft versteifen sich die Jugendlichen auf etwas und lassen nicht locker bis ihre Neugier vollends gestillt ist. Das kann bis zum großen Wutanfall gehen", erzählt Jutta. Doch ich bin an einem guten Tag in Tschipsiländ, an dem sich die Laune der Kinder scheinbar der Stimmung des strahlend blauen Himmels angepasst hat. Kaum vorzustellen, dass vor wenigen Tagen noch ein handgreiflicher Streit zwischen den Burschen geschlichtet werden musste.

Sommerlager als Highlight

"Manchmal halten sich die Kinder und Jugendlichen nach einigen Tagen gegenseitig nicht mehr aus", berichtet Brigitte Mair. Sie ist Mutter eines 16-jährigen Sohnes mit Prader-Willi-Syndrom und Mitbegründerin der Selbsthilfegruppe in Wien. Das ist mit einer Organisation in Salzburg die größte Anlaufstelle für Eltern von Kindern mit PWS. In fast allen Bundesländern sind Ansprechpartner, die mit einer der beiden Organisationen in Verbindung stehen.

"In Österreich gibt es 100 Familien mit Betroffenen, die Prader-Willi-Syndrom haben und auch in Kontakt mit unseren Selbsthilfegruppen stehen", erklärt Mair. Neben dem Zusammenkommen der Eltern werden Experten-Vorträge zu den Themen Ernährung, Sachwalterschaft und Ähnlichem angeboten. "Es geht uns vor allem um den Austausch der Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen", sagt Mair. Das Highlight ist aber das jährliche Sommerlager für von PWS betroffene Kinder und Jugendliche, das nicht zuletzt die Angehörigen eine Woche im Jahr von ihrer 24-Stunden-Betreuung entlasten soll.

Als ich mich am Ende des Tages von den Jugendlichen verabschiede, werde ich noch mit Wachteleiern, selbstgemachten Zeichnungen und jeder Menge Umarmungen beschenkt. Die Jugendlichen mit PWS sind  sehr emotional, liebevoll, ungeduldig und fantasievoll und sich ihrer Krankheit durchaus bewusst. Oder wie Harald es formuliert: "Mit spätestens 18 Jahren wissen die meisten von uns, wie wir mit Wutanfällen umgehen können". (Elisa Weingartner, derStandard.at, 19.7.2013)

* Name von der Redaktion geändert