Ohne Krücken: Stürze sind nachweislich eine der größten Gefahren für über 70-Jährige. Prophylaxe beginnt Jahrzehnte davor in Form von Bewegung.

Foto: Klaus Fritsch

Krank zu werden ist die Hauptsorge älterer Menschen. Das ergab eine Studie des Pflegeheimbetreibers SenaCura bei über 65-jährigen Österreicherinnen und Österreichern. 37 Prozent nennen Angst um die eigene Gesundheit und Angst um das Gesundheitssystem als ihre größte Sorge, bei über 80-Jährigen steigt der Wert auf 42 Prozent. Die Chancen, dass heute 65-jährige Europäerinnen und Europäer immer länger in guter Gesundheit leben, stehen aber laut Statistik gut. Für die "Restlebenserwartung ohne Einschränkung täglicher Aktivitäten" errechnet das EU-Gesundheitsdatenprojekt EuroREACH durchschnittlich 8,8 Jahre bei Frauen und 8,6 Jahre bei Männern.

Nur, wie schafft man es, die letzten Jahre in Gesundheit zu verbringen? Mit Disziplin und Bewegung, lautet eine der Antworten. Und so entdecken immer mehr alte Menschen Sport als ihr Lebenselixier. Sie organisieren Wandertouren, treffen sich auf dem Bewegungsplatz oder schieben den Rollator in den Kraftraum. Regelmäßige Bewegung fördert neben der körperlichen auch die geistige und soziale Mobilität, sagt die Pflegewissenschaft.

Aktives Anti-Aging

Sich zu bewegen hebt die Stimmung, weiß Dieter Muther, Leiter eines kleinen Seniorenheims in Bartholomäberg in Vorarlberg. Im alten Haus in den Montafoner Bergen gibt es keinen Aufzug. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen Treppen steigen, wenn sie am Gemeinschaftsleben teilnehmen wollen. Die Quote der Bettlägerigen sei gering, sagt Muther. Er führt das auf die regelmäßige körperliche Aktivität zurück, die das Herz-Kreislauf-System stabilisiere und sich positiv auf das Immunsystem auswirke. Muther plädiert für Kraft- und Gleichgewichtstraining zur Sturzprophylaxe. Durch Übungen an den Geräten lasse sich die Knochendichte erhalten, Muskelmasse aufbauen. Wer Kondition und Koordination trainiere, beispielsweise durch Nordic Walking, könne sich zudem besser konzentrieren. Ein weiterer Positivfaktor: Gemeinsamer Sport schützt vor der Vereinsamung. Im Neubau des Altenheims ist deshalb ein Kraftraum eingeplant.

Altern, und da kann die Anti-Aging-Industrie noch so trommeln, ist vorprogrammiert. Kann man den biologischen Alterungsprozess dennoch beeinflussen? Beatrix Grubeck-Loebenstein, Leiterin des Instituts für Biomedizinische Alternsforschung (IBA) in Innsbruck: "Man kann auf alle möglichen Arten Einfluss nehmen. Wenn man über das biologische Altern spricht, muss man sich aber vor Augen führen, dass die Regenerationsfähigkeit der Zellen in der Embryonalphase am stärksten ist und dann mit dem Lebensalter abnimmt." Die Fähigkeit zur Zellerneuerung lässt zwischen 40 und 50 Jahren stark nach.

Kalorische Restriktion

"Manche Zellen regenerieren überhaupt nicht mehr, andere immer schlechter", erklärt Grubeck-Loebenstein. Besonders betroffen ist das Immunsystem, weil Abwehrzellen wie T-Lymphozyten nicht mehr heranreifen können, B-Lymphozyten nur noch verringert. Man könne den Stoffwechsel aber positiv beeinflussen, durch "Hilf dir selbst" oder hochwissenschaftliche Erkenntnisse, sagt Beatrix Grubeck-Loebenstein. Als eine mögliche Maßnahme, sich länger biologisch jung zu erhalten, nennt die Wissenschafterin die kalorische Restriktion, bekannt als "Dinner-Cancelling".

Noch fehlten zwar Langzeitstudien, welche die Wirkung des Fastens beim Menschen belegen, sagt die Biomedizinerin, von Versuchen mit niedrigen Organismen wisse man aber, dass die Reduktion der Kalorienzufuhr sehr gut funktioniere. Lange Intervalle zwischen den (kalorienreduzierten) Mahlzeiten, am effektivsten durch Streichung des Abendessens, wirkten sich positiv auf molekularer Ebene aus. Grubeck-Loebenstein: "Man weiß jetzt über Moleküle Bescheid, die unter kalorischer Restriktion an- und abgeschaltet werden, das nützt man aus, um Medikamente zu entwickeln, die dieselben Effekte bewirken, ohne gleichzeitig hungern zu müssen."

Da die körpereigene Abwehr im Alter schwächer wird, sind alte Menschen anfälliger für Infektionskrankheiten. So können Grippe oder Gürtelrose fatale Folgen haben. Der beste Schutz sei die Impfung, sagt Grubeck-Loebenstein. Das Problem dabei: "Das Immunsystem lässt in seiner Funktion nach, und Impfungen wirken nicht mehr so gut." Ein weiteres Problem ist, dass viele alte Menschen in jungen Jahren nicht gut vorimmunisiert wurden. "Die Impfung baut darauf auf, dass ein Mensch ein Pathogen nicht erst im Alter zum allerersten Mal sieht, sondern möglichst schon in früher Jugend geimpft worden ist, wenn die Impfungen optimal wirken", sagt Grubeck-Loebenstein. Auf den Impfschutz aus der Jugend und Kindheit kann man sogenannte Booster-Impfungen, Auffrischungen, im späteren Leben setzen. An speziellen Impfungen für alte Menschen wird nun intensiv geforscht. Soll man impfen, obwohl die Wirkung nicht optimal ist? Grubeck-Loebenstein: "Doch ganz sicher. Es heißt ja nicht, dass die Impfungen nicht wirken. Sie wirken nur nicht so gut wie bei Kindern. Schutz ist immer besser als kein Schutz."

Neue Gelassenheit

Die deutsche Soziologin und Gesundheitswissenschafterin Annelie Keil ist 75 und sprüht vor Vitalität. "Es ist schön, alt zu werden", sagt sie, "denn Altern ist ein Befreiungsprozess." Auf ihr laste kein Entscheidungsdruck mehr, freut sich die erfolgreiche Autorin und gefragte Referentin. "Ich muss mich nicht mehr fragen, ob ich heiraten will, welche Ausbildung ich machen soll oder welchen Job." Und: "Ich muss mich nicht mehr fragen, ob ich hoffentlich ganz gesund bleibe." Diese Frage habe sich für sie längst erübrigt: "Ich bin dreimal an Krebs erkrankt, hab einen Herzinfarkt gehabt, meine Schilddrüse ist weg. Medizinisch gesehen bin ich ein Wrack. Aber ich würde mir nicht einreden lassen, dass ich nicht gesund bin."

Annelie Keil plädiert für einen umfassenden Gesundheitsbegriff. Die Thematik Gesundheit und Krankheit dürfe man nicht den Medizinern überlassen: "Nicht ein Organ wird krank, sondern der ganze Mensch. Wenn das nicht so wäre, würde man seinen Herzinfarkt in der Kardiologie abgeben und sagen, ich komme in drei Wochen wieder, meinen Bypass abholen."

Verantwortung für die Gesundheit trage die Gesellschaft als Ganzes: "Ein Lehrer ist verantwortlich für die Gesundheit. Eltern sind es. Das Milieu, die Stadt, die Kommunalpolitik kann massiven Einfluss nehmen auf die Gesundheit. Wie wir Stadtteile mischen, wie Häuser gebaut werden, wie die Politik Vertrauen erweckt oder eben nicht. Dies alles ist wesentlich für die Lebenszusammenhänge, die Bedürfnisse."

Seelische Perspektive

Von Werbebotschaften für gesundes Leben hält Annelie Keil nicht viel. "Die Leute haben dann ihre Trainingsgeräte stehen, können ganze Bibliotheken mit ihren Diätbüchern füllen, aber die Frage, wie ich damit umgehe, wenn mein Mann sagt: 'Bleib mir doch mit dem gesunden Fraß vom Leib!', die beantwortet mir keiner."

Gesund alt werden ist für Annelie Keil eine wichtige Perspektive, den Fitnessbegriff aber nur auf das Körperliche zu beschränken, hält sie für problematisch.

Sie nennt ein ganz bezeichnendes Beispiel aus dem europäischen Jahr der Gesundheitsförderung im Alter: "Ich war in einer Jury. Wir haben fast 400 Projekte zur Sturzprophylaxe gesehen. 400 für den somatischen Teil, also Strategien, wie man nicht stürzt. Aber kein einziges Projekt beschäftigte sich mit den seelischen Abstürzen, kein einziges mit der Frage: Was ist eigentlich ein geistiger Absturz, was ist ein ökonomischer Absturz? Solange wir diese Fragen nicht in unser Leben, in unser Forschen aufnehmen, haben wir nicht begriffen, was das Positive, aber auch das Dramatische, das Schwierige am Älterwerden ist. (Jutta Berger, DER STANDARD, CURE, 14.8.2013)