Transidente Personen werden auch heute noch vielfach diskriminiert - nicht zuletzt durch die "Pathologisierung" im ICD-10.

Foto: Claudia Köhn

Das vorherrschende Bild vom "Menschen im falschen Körper" ist ein Mythos. - Nicht alle transidenten Personen streben eine genitalanpassende Operation an.

Die Bilder stammen aus einer Fotoserie der Wiener Künstlerin Claudia Köhn, bei der Transidente- und Transgender-Personen portraitiert werden.

Foto: Claudia Köhn

Es mag vielleicht trivial klingen, aber eines haben alle Menschen gemeinsam: Sie wurden geboren. Für die US-amerikanische Philosophin Judith Butler markiert dieses "Auf-die-Welt-Kommen" allerdings den Anfang einer Kette von Zu- und Festschreibungen, die mit der freudvollen Botschaft "Es ist ein Junge" oder "Es ist ein Mädchen" begonnen wird. Das heißt, das Subjekt wird durch den Anderen "gesprochen", lange bevor sich ein Mensch selbst als "männlich" oder "weiblich" wahrnehmen und erleben kann. Das sollte uns nicht weiter stören, denn an diesem biologisch determinierten Dualismus gibt es scheinbar nichts zu rütteln. - Die Menschheit teilt sich nun mal "naturgegeben" in "Mann" und "Frau", wie uns nicht zuletzt die primären Geschlechtsmerkmale zu verstehen geben. Oder etwa doch nicht?

Julia* ist eine Frau, die sich nicht länger in dieses "natürliche" Korsett zwängen kann - samt den damit verknüpften sozio-kulturellen Prägungen. In ihren amtlichen Dokumenten steht im Vornamen als letzter Buchstabe noch ein "n" - ein Konsonant, für den sie in ihrem familiären Umfeld keine Verwendung mehr hat, nicht mehr haben will. Nicht einfach nur ein vernachlässigbares syntaktisches Zeichen, sondern ein "Nomen est Omen" der Geschlechterrolle. Dieses "n" schreibt fest, wer sie zu sein hat - nämlich ein Mann.

Julia ist zum ersten Mal Gast in der Selbsthilfegruppe "Trans-Austria" - eine Plattform für sogenannte transidente Personen. Julias dichter Bartwuchs, ihre stattliche Figur und der muskulöse Körperbau irritieren hier niemanden - schließlich haben sich alle hier Anwesenden für einen ähnlichen Weg entschieden: "Den Weg zum eigenen Ich", wie es Sabine* nennt, und die seit etwa eineinhalb Jahren den ungangbaren Pfad als Mann verlassen hat: "Ich ging einkaufen - war auf der Suche nach hochhakigen Damenschuhen. Da wurde mir bewusst, dass das nicht mehr rein sexuell motiviert ist, sondern mehr dahinter steckt."

Diskriminierung

Tatsächlich werden transidente Personen nicht selten auf ihre Sexualität reduziert. - Das zeigt auch das weitaus gebräuchlichere Synonym "Transsexualismus" - eine Bezeichnung, die sich nicht zuletzt durch ihre Festschreibung im IDC-10 hartnäckig am Leben hält. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass Geschlechtsidentität nicht nur eine Frage der körperlichen Merkmale ist, sondern auch über soziale Interaktionen konstruiert wird. - Daher verwundert es nicht, dass transidente Personen die klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 in mehrfacher Hinsicht als diskriminierend empfinden.

So sieht die WHO in ihrem international anerkannten Diagnoseklassifikationssystem im "Transsexualismus" den "Wunsch als Angehöriger des anderen anatomischen Geschlechtes zu leben und anerkannt zu werden". Hier von "Wunsch" zu sprechen, ist blanker Euphemismus, der eine Wahlfreiheit suggeriert, die schlichtweg nicht gegeben ist. - Das vermitteln zumindest die Erfahrungsberichte in der Selbsthilfegruppe "Trans-Austria". "Ich fühlte lange ein ständiges Unbehagen in mir und wusste, dass irgendwas nicht stimmt", beschreibt Anna* ihren Zustand, den sie Jahre über sich ergehen hat lassen.

"Als Kind bist du intuitiv und lebst so, wie es spontan aus dir herauskommt. In meinem Fall äußerte sich das darin, dass ich die Verhaltensmuster von Buben übernommen habe. Die Familie versucht dir das aber sukzessive 'abzutrainieren' beziehungsweise zu verbieten und schreibt dir vor, wie du dich als Mädchen zu verhalten hast. Irgendwann gibst du eben auf und lässt dich brechen", schildert Peter* seine Erfahrungen in der Kindheit.

Parallelwelten

Als Konsequenz bleibt nur mehr die Flucht in Parallelwelten: "Man zieht sich zurück und versucht im Geheimen jene Momente zu suchen, in denen zumindest durch die eigene Fantasie alles in Ordnung kommt", erzählt Peter. - Es folgen Jahre der scheinbaren Angepasstheit, die vom gesellschaftlichen Dogma "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" geprägt sind. - Bis zu jenem Punkt, an dem das Unbehagen unerträglich wird, und die fantasierten "Kopfgeburten" der reifen Überzeugung weichen: "Ich bin keine Frau, auch wenn mir mein Umfeld etwas anderes erzählen will".

Der weitere Weg zum "Ich" ist für Betroffene meist sehr verwirrend und häufig von Ängsten, Depressionen, Panikzuständen und auch psychosomatischen Krankheiten geprägt, die weitgehend auf die nach wie vor herrschende Transphobie in der Mehrheitsgesellschaft zurückzuführen sind. - Schließlich gelten Menschen, deren geschlechtliche Identität nicht mit dem nach der Geburt zugewiesen Geschlecht übereinstimmt als "psychisch krank" - so ist es jedenfalls im ICD-10 festgeschrieben, der "Transsexualismus" unter die Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen kategorisiert.

Um im Identitätsgeschlecht Schritt für Schritt leben zu lernen, ist soziale Anerkennung aber enorm wichtig - angefangen vom Freundes- sowie Familienkreis bis hin zum Arbeitsplatz und im Kontakt mit Behörden und Ämtern. Zwar wurde in den Antidiskriminierungsbestimmungen des Wiener Gleichbehandlungsgesetzes die Geschlechtsidentität mittlerweile berücksichtigt, dennoch "sind noch immer rund zwei Drittel  der transidenten Personen von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen", betont Sarah-Michelle Fuchs, Psychotherapeutin und Geschäftsführerin von Trans-Austria.

Gegenseitig helfen und bestärken

Genau hier setzt auch die Selbsthilfegruppe "Trans-Austria" an, indem ein Erfahrungsaustausch zum "Coming-Out" ermöglicht wird. "Alleine kommt man häufig nicht mehr weiter und manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass niemand für dich da ist", beschreibt Monika* jene Zeit als sie noch nicht die Selbsthilfegruppe besuchte. Grundsätzlich haben hier aber alle Themen Platz: rechtliche Fragen zu Namens- und Personenstandsänderung, Hormontherapie und genitalanpassenden Operationen, aber auch ganz alltägliche Dinge wie Kosmetik- und Bekleidungstipps.

Ein Mythos in der öffentlichen Wahrnehmung transidenter Personen ist besonders das vorherrschende Bild vom "Menschen im falschen Körper", durch das die Physis in ihrer Gesamtheit infrage gestellt und damit abgewertet wird. Vielmehr sollte bei der "Reise ins eigene Geschlecht"  der unvollkommene Körper als Ausgangpunkt genommen werden, der dort verändert werden kann, wo er sich nicht stimmig anfühlt, schreiben Jo Schedlbauer und Angela Schwarz von der Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweise in ihrer Informationsbroschüre "Trans*Identitäten". Zudem streben nicht alle transidenten Personen eine genitalanpassende Operation an, die letztendlich nur einer von vielen Schritten ins eigenen Geschlecht sein kann. Oder wie es Anna formuliert: "Das Geschlecht des Menschen sitzt nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren". (Günther Brandstetter, derStandard.at, 23.8.2013)

* Name von der Redaktion geändert