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Immer häufiger lautet die Diagnose "depressive Episode". Welche Institutionen und Mechanismen dahinterstehen, analysiert das Wiener Psychiater- und Psychoanalytiker-Ehepaar Marianne Springer-Kremser und Alfred Springer.

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Ein Ansatz der Autoren: Das Verständnis der Depression aus wissenschaftlicher und allgemein menschlicher Perspektive leistet einen wichtigen Beitrag für das Verständnis des menschlichen Wachstums, der menschlichen Entwicklung und der Conditio humana generell.

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Im Jahr 1974 waren knapp drei Prozent der Weltbevölkerung von Depressionen betroffen, heute sollen zehn bis 20 Prozent an affektiven Erkrankungen leiden, zu denen die Depression zählt. Bei 33, 4 Millionen Europäern – das sind 7,5 Prozent – wird eine schwere depressive Erkrankung diagnostiziert, jeder siebte ist im Laufe seines Lebens von schweren Stimmungsstörungen betroffen. Rechnet man Angstzustände und leichtere Formen der Depression hinzu, steigt die Zahl auf etwa 25 Prozent.

In zunehmendem Maß leiden auch junge Menschen an Depressionen. Alleine in der EU begehen jährlich 78.000 Menschen Suizid, aber vor allem in der Adoleszenz ist Selbsttötung die dritthäufigste Todesursache. Bis zum Jahr 2030 sollen laut Expertenprognosen psychische Leiden zu den am häufigsten diagnostizierten Krankheiten zählen. Als Gründe dafür werden Stress, Vereinsamung und die Auflösung der traditionellen Familienverbände aber auch körperliche Erkrankungen angeführt.

Schicksalhafter Prozess oder gesellschaftlicher Wandel?

Sind heute tatsächlich immer mehr Menschen psychisch krank, oder ist diese Steigerung als Ausdruck von Veränderungen in Diagnostik und therapeutischen Möglichkeiten zu werten? Ist die Zunahme von Depressionen "ein schicksalhafter Prozess, der Einzelpersönlichkeiten und einzelne Kulturen befällt, oder ist sie als Ausdruck eines tiefergreifenden gesellschaftlichen Wandels zu verstehen?", fragen die renommierten Wiener Psychoanalytiker und Fachärzte für Psychiatrie, Marianne Springer-Kremser und Alfred Springer. Mit ihrem Buch "Die Depressionsfalle" wenden sie sich an Betroffene wie generell an alle Menschen, die an einem kritischen Zugang zu dieser Erkrankung interessiert sind.

Im Zentrum ihrer Intention steht die Förderung der Selbstkompetenz in den verschiedenen Dimensionen und den vielfältigen Facetten der Erkrankung. Was mit der grundlegenden Fragestellung beginnt: Ist das Leiden ein Seelenzustand, ein genetischer Defekt, eine unausweichliche Bestimmung oder eine Krankheit? Und im besten Fall in "Empowerment" mündet, im Sinne einer Stärkung der schützenden Wahrnehmungsmöglichkeiten; einer "Kraft, die etwa aus der aktiv bemühten Erinnerung an die Bewältigung vergangener Schicksalsschläge" geschöpft werden kann, so die Autoren.

Melancholia wirft ihren Schatten auf die Erde

Abseits schwer verständlicher Fachterminologie und stets unter kritischem Blickwinkel widmet sich das Expertenpaar den kranken Gefühlen Betroffener, den geschlechterbezogenen Leidenszuständen, den Definitionen von Depression und Trauma, den realistischen Optionen von Psychotherapie, Psychoanalyse aber auch somatischen Behandlungen, dem Phänomen Depression im Alter, der Geschichte der Psychopharmaka, der Entwicklung der Psychiatrie oder den Phänomenen Abhängigkeit und Sucht.

Auch den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Depression und Melancholie sowie Depression und Trauer, wird auf den Grund gegangen - allerdings in aller Kürze - und bereits im Vorwort Lars von Triers Film "Melancholia" als Sinnbild für das Prinzip Melancholie als mächtige, "kosmische" Bedrohung, die die Erde überrollt, herangezogen. Demnach ist die Depression als Erkrankung aber auch als wichtiger Inhalt unseres kulturellen Raumes zu verstehen.

Die Strategien der Pharmaindustrie

In einem Kapitel mit hohem Informationsgehalt setzen sich die Autoren mit der Frage "gute Therapie oder gutes Geschäft?" auseinander und zeigen Wege und Irrwege der Pharmaindustrie auf. Zwölf Strategien der Pharmaindustrie zählen sie auf: von der Beeinflussung der Ärzte und ihres Verschreibungsverhaltens über die Dominanz der Forschung samt Unterdrückung negativer Resultate bis zur Einflussnahme der Pharmaindustrie auf die Patienten über Selbsthilfegruppen oder die Schaffung neuer Krankheitsbilder spannt sich die sorgfältige Recherche, die durchaus es eine eigene Publikation wert gewesen wäre.

Ebenso brisant ist die Aufarbeitung der "psychiatrischen Fallen". Diese beginnen mit dem Fortschritt und Missbrauch des konventionellen gesellschaftlichen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit, führen über die umfassende Vertrauenskrise zwischen Patienten, Ärzten und Pharmaindustrie und münden in der Problematik der Häufigkeit der Diagnose Depression. Ganze sieben Fallen sind es, die in die Erkrankung Depression hinein beziehungsweise nicht mehr heraus führen können. Das Autorenpaar beschönigt nichts: Für Betroffene sei es alles andere als einfach, sich aus dieser "Fallenlandschaft" zu befreien.

Mögliche Auswege aus der Falle

Womit man wieder beim Empowerment angekommen ist: Mit der Lektüre des Buches werden die Leserinnen und Leser nicht nur mit umfangreichem Wissen über die Erkrankung sondern auch über mögliche Auswege aus der Depressionsfalle ausgestattet. Dafür seien allerdings die gemeinsamen Anstrengungen aller Beteiligten nötig: Marianne Springer-Kremser und Alfred Springer entwickeln für die Ärzteschaft, die Pharmaindustrie, die Forschung und nicht zuletzt die gesamte Psychiatrie Strategien gegen das weltweit wachsende Stigma einer "Hirnkrankheit" und die Flut von "korrigierenden" Arzneimitteln, die in einer generellen Revision des psychodynamischen Denkens münden.

Für die Betroffenen selbst liegt der allererste Schritt zur Befreiung aus der Depressionsfalle jedenfalls in der Generierung von Wissen, denn "Wissen ist Macht", wissen auch Marianne Springer-Kremser und Alfred Springer. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 3.9.2013)