Multimorbidität verlangt Multimedikation. Sprich, wer viele Krankheiten in sich vereint, bekommt auch viele Medikamente. Zu viele, mahnen die deutschen Geriater während ihres Jahreskongresses im bayrischen Hof. Denn gerade hochbetagte Patienten sind betroffen. "Fünf oder mehr Medikamente an jedem Tag einzunehmen ist im Alter keine Seltenheit. Die große Schwierigkeit besteht darin, diese Multimedikation jetzt verträglich zu halten oder zu Gunsten der Gesundheit des Patienten zu reduzieren", sagt Kongresspräsident Hans Jürgen Heppner.

Schwere Nebenwirkung von Multimedikation oder potenziell inadäquaten Medikamenten (PIM) sind Stürze und diese ziehen im Alter meist eine signifikante Verschlechterung des Allgemeinzustandes nach sich. "Es gilt Stürze zu vermeiden und so die Sicherheit der Patienten zu erhöhen" sagt Heppner.

Sturzrisiko minimieren

Um die Sicherheit älteren Patienten zu erhöhen, ist die konsequente Reduzierung inadäquater Medikamenten (PIM) entscheidend. Wie eine aktuelle Studie zeigt, sind Stürze älterer Patienten im Krankenhaus mit Tetrazepam, Lorazepam und Zopiclon assoziiert. "Diese Assoziation bedeutet, dass man mit dem Einsatz dieser Wirkstoffe bei älteren Menschen vorsichtig sein sollte", sagt Wolfgang von Renteln-Kruse, Geriater in Hamburg.

Um potenziell inadäquate Medikamente (PIM) bei geriatrischen Patienten zu vermeiden, beziehungsweise richtig zu dosieren, existieren bestimmte Screening-Tools, wie zum Beispiel die PRISCUS-Liste. Diese ist die speziell an den deutschen Arzneimittelmarkt angepasst und bewertet 83 Arzneistoffe aus 18 Arzneistoffklassen als potenziell inadäquat für ältere Patienten. Für die PRISCUS-Liste wie auch für internationale Listen sollte allerdings noch die Wirksamkeit (Validität) und der Nutzen (Praktikabilität) belegt werden. "Hier setzt aktuell als eine von wenigen Studien das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte LUCAS (Longitudinale Urbane Cohorten Alters-Studie) Teilprojekt Sechs an", sagt von Renteln-Kruse. "Wir warten auf Ergebnisse."

Eine in diesem Rahmen durchgeführte retrospektive Fall-Kontrollstudie hat die Medikation von 212 "Stürzern" und 636 "Nicht-Stürzern" untersucht, um den Zusammenhang zwischen PIM der PRISCUS-Liste und Stürzen zu erfassen. Beide Gruppen waren hinsichtlich Diagnose, Verweildauer und weiteren Kriterien vergleichbar. "Insgesamt waren die Sturzraten in der Klinik niedrig", erläuterte von Renteln-Kruse. "Auch der Anteil der PIM an den verordneten Medikamenten war mit 4,1 Prozent gering". 

Vorsichtiger Arzneimitteleinsatz

Eine Multimedikation (von fünf oder mehr Medikamenten) war nicht mit einem höheren Sturzrisiko assoziiert. Allerdings hatten die "Stürzer" signifikant häufiger ein oder mehrere PIM verglichen mit den "Nicht-Stürzern" (39 Prozent versus  31 Prozent) erhalten. Dieser signifikante Unterschied bestand jedoch nicht mehr, wenn man nur die ersten Stürze (Indexstürze) der Patienten betrachtete.

Stürze traten häufiger auf, wenn Benzodiazepine wie Tetrazepam, Lorazepam (in niedriger Dosierung) oder die Z-Substanz Zopiclon eingenommen wurden. "Folglich sollte man diese Wirkstoffe mit Vorsicht einsetzen und prüfen, ob eine weniger riskante Alternative verordnet werden kann", so Renteln-Kruse. Im laufenden Projekt wird geprüft, ob ein PIM-Alert die Zahl von Stürzen senken kann.

Hausärztlicher Alltag

"Das Thema viele Medikamente für einen einzelnen Patienten ist auch für Hausärzte extrem wichtig", betonte Kongresspräsident Heppner. Hier helfen krankheitsspezifische Leitlinien in der Regel nicht weiter, denn sie enthalten meist keine Empfehlungen zur Therapieanpassung bei älteren Patienten. "Daher sollten Hausärzte die Verordnungen ihrer Patienten – auch wenn sie frisch aus dem Krankenhaus entlassen sind – kritisch überprüfen", rät der Geriater. Patienten oder Angehörige sollten ihren Hausarzt zudem konkret zur Überprüfung ihrer Medikamentenliste auffordern. Entsprechend sollten zu Hause einmal alle Medikamente protokolliert und danach dem Arzt vorgelegt werden.

Dabei ist der MAI (Medication Appropriate Index) sehr wichtig: Es gilt die Medikation zu erfassen, die Angemessenheit zu bewerten und gegebenenfalls eine Intervention im Sinne einer Medikamentenanpassung durchzuführen. Heppner dazu: "Einige Leitfragen dafür sind: Stimmt die Indikation? Braucht der Patient das Medikament wirklich? Denn nach Möglichkeit sollte die Zahl der Arzneimittel begrenzt werden. Wirkt das Medikament so, wie es soll? Stimmt die Dosis? Bestehen Kontraindikationen oder Interaktionen mit anderen Medikamenten?".

Bewusstsein schärfen

In regelmäßigen Abständen sollte ein erneute Bestandsaufnahme erfolgen. "Zu viele Medikamente schaden eher, als dass sie nutzen. Dieses Bewusstsein gilt es für alle zu schärfen – Patienten wie behandelnde Ärzte", zieht Kongresspräsident Heppner sein Fazit. (red, derStandard.at, 13.9.2013)