Als Nicholas Chirls bei Lehman Brothers anfing, redeten alle von der "Straße zu den Zweihundert". Richard Fuld, der Chef der Investment Bank, ließ in aller Öffentlichkeit wissen, er werde erst in den Ruhestand gehen, wenn die Lehman-Aktie 200 Dollar wert sei. Das war etwa das Dreifache des damaligen Börsenkurses, aber zu jener Zeit, im Juni 2007, hing der Himmel noch voller Geigen, auch wenn die Klügeren bereits erkannten, dass die Luft aus der Immobilienpreisblase zu entweichen begann und die Kasinoprodukte der Finanzberater auf Sand gebaut waren.

Chirls war frisch von der Eliteschmiede Yale zu dem Traditionshaus in Manhattan gekommen. Ein Job an der Wall Street, erinnert er sich, galt in der Spitzenliga der Ivy League als das Normale, Erstrebenswerte. Von den Absolventen seines Jahrgangs gingen 40 Prozent in die Finanzbranche, die sich förmlich überbot mit lukrativen Angeboten und auch Mathematiker und Physiker anlockte: "Ich habe neben Raketenwissenschaftern gearbeitet", erinnert sich Chirls. "Hochintelligente Leute, die unvorstellbare Summen bewegten."

Vermögenstransfer

Irgendwann dämmerte dem jungen Analysten, dass sich hinter den komplizierten Rechenmodellen nur ein simpler Vermögenstransfer verbarg. Das Geld, fasst er lakonisch zusammen, floss von schlecht informierten Anlegern zu solchen, die die Tricks kannten, oft zu den Jongleuren der Hedgefonds. Gut ein Jahr nach dem Start war Chirls arbeitslos, "ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde". Aus der Verunsicherung sei die schönste, die kreativste Zeit seines Lebens geworden.

Chirls, mit Leib und Seele New Yorker, reiste wochenlang durch Asien, ehe er seinen Master in Betriebswirtschaft machte. Zurück in New York, gründete er mit wechselndem Erfolg kleine Start-up-Unternehmen. Dann heuerte er bei Betaworks an, einer Firma, die Start-up-Unternehmen Geld leiht. Er baue jetzt etwas auf, sagt Chirls, das gebe ihm ein Gefühl tiefer Zufriedenheit.

"Einfach ignorieren"

Greg Smith ist für die einen ein Whistleblower, für die anderen ein Nestbeschmutzer. Nicht nur, dass er seinen Job bei Goldman Sachs ernüchtert an den Nagel hängte, nachdem er zwölf Jahre mit Derivaten gehandelt hatte. Zum Abschied schrieb er einen Brandbrief, öffentlich, in den Spalten der New York Times. Früher habe sich in der Goldman-Sachs-Kultur alles um Teamarbeit, Anstand und die Interessen des Kunden gedreht. Heute mache am schnellsten Karriere, wer Anlegern skrupellos Wertpapiere aufschwatze, die Goldman loswerden wolle. Statt von den Kunden, so Smith, spreche man intern gern von den "Muppets", den Deppen. Dem heiß diskutierten Essay folgten ein Buch und, im August, ein Auftritt vor der amerikanischen Börsenaufsicht. Smith war als Kronzeuge geladen, um über die Volcker-Regel zu reden. Benannt nach dem einstigen Notenbankchef, soll sie den Geldinstituten den riskanten Eigenhandel verbieten. Vor Sommer 2014 tritt sie indes nicht in Kraft, und bis dahin, glaubt Smith, dürften die Lobbyisten der Finanzwelt noch manches raffinierte Manöver fahren, um sie aufzuweichen. Sein Rat an die Regulierer: einfach ignorieren, was aus der Wall Street an Nachbesserungen kommt. (Frank Herrmann aus Washington, DER STANDARD, 14.9.2013)