Igort in Sankt Petersburg.

Foto: privat

In seinen Graphic Novels beschreibt Igor Tuveri (mit Künstlernamen Igort) unter anderem politische Systeme, Kriege und deren Folgen für einzelne Personen. Igorts aktuelles Buch "Berichte aus Russland. Der vergessene Krieg im Kaukasus" beschäftigt sich mit den Gräueln der Tschetschenienkriege. Für die Recherche bereiste der Autor die ehemalige Sowjetunion und interviewte Augenzeugen sowie Insider. Darunter befinden sich auch Bekannte der kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja, die hauptsächlich über die Tschetschenienkriege berichtete und am 7. Oktober 2006 ermordet wurde. derStandard.at sprach mit ihm über sein Werk.

Standard.at: Es ist nun sieben Jahre her, dass Anna Politkowskaja ermordet wurde. Wie denken Sie über die heutige politische Situation in Russland?

Igort: Ich bin weder Politologe noch Journalist, ich bin ein Geschichtenerzähler. Ein Autor, der Graphic Novels produziert. Was heute passiert, ist sehr traurig. Und dabei spreche ich noch gar nicht über die Khimki-Aktivisten, die getötet werden oder so lange verprügelt werden, bis sie im Rollstuhl sitzen. Ich spreche auch nicht über Pussy Riot, Nawalny oder darüber, dass Russland das syrische Regime unterstützt. Das ist nur die Spitze des Eisbergs.

derStandard.at: Warum wählten Sie gerade dieses Thema?

Igort: Ich habe rund zwei Jahre in der Sowjetunion gelebt und bin dort herumgereist. Das war eine harte Erfahrung, aber ich war immer noch der Privilegierte, der Glückliche, der aus dem Westen kam. Ich konnte dort beobachten, dass der Begriff Freiheit in der Sowjetunion einem ganz anderen Konzept entspringt und ganz anders wahrgenommen wird. Und das Leben dort hat fast keinen Wert. Es war für mich ein Schock, das zu erkennen, das brachte mich auch dazu, darüber zu schreiben.

derStandard.at: Wie wird das Format des Graphic Novel von den Lesern und Leserinnen wahrgenommen, vor allem bei einem so ernsten Thema?

Igort: Ich denke, dass es heutzutage wichtig ist, eine eigene, echte Sprache zu finden um über die echten Probleme zu sprechen. Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden, dass es Vorurteile gegenüber dem Format des Comics gibt, viele Menschen denken immer noch, dass das für Kinder ist. Mich kümmert das nicht mehr, ganz im Gegenteil: Mich interessiert diese Wahrnehmung sogar. Und zwar insoferne, dass das Format Comic die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen auf meine "echten Geschichten" zieht. In manchen Ländern ist es anders, in Frankreich zum Beispiel werden ernste Comics in der Schule gelesen.

derStandard.at: Wie ist Ihre Herangehensweise an die Darstellung der Geschichte von Tschetschenien?

Igort: Bei meinen Reisen musste ich sehr viele brutale Dinge und auch grobe Menschenrechtsverletzungen mitansehen oder davon hören. Geschichte ist für mich nicht das Märchen von ein paar Helden, in meiner Vision ist Geschichte etwas, das sich massiv in jedermanns Leben widerspiegelt. Ich möchte die einfache Geschichte von einem einfachen Menschen erzählen, so wie ich einer bin. Ich möchte den Alltag schildern.

derStandard.at: Haben Sie Angst, über Anna Politkowskaja und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien so explizit zu schreiben?

Igort: Als ich die Personen aus dem engeren Kreis von Anna Politkowskaja kennenlernte sah ich vor allem eines: Den Willen, sich nicht den "offiziellen Versionen" über "Fakten" eines Regimes zu beugen. Angst ist in so einer Situation nur menschlich, aber die Empörung über Geschichtsfälschung ist stärker als die Angst. Deshalb möchte man die wahren Erlebnisse der Opfer und Zeugen verbreiten. Ich denke, dass jeder es verdient Geschichten über ganz normale Menschen zu erfahren, Geschichten, die wir uns gar nicht vorstellen könnten. (Lisa Stadler, derStandard.at, 5.10.2013)