Vor fast 50 Jahren hatte der Belgier François Englert gemeinsam mit seinem inzwischen verstorbenen Kollegen Robert Brout einen Aufsatz zur Erklärung der Masse kleinster Teilchen eingereicht, zwei Monate vor Peter Higgs. Trotzdem setzte sich der Name des Briten in der Öffentlichkeit fest: Higgs-Mechanismus, Higgs-Teilchen oder Higgs-Boson - Englert blieb fast ausschließlich in der Forschergemeinde bekannt. Doch seit diesem Dienstag kommt man auch um den Namen Francois Englert nicht mehr herum. Gemeinsam mit Higgs wurde der 80-Jährige als Gewinner des diesjährigen Physik-Nobelpreises bekanntgegeben.

Die Karriere von Englert, am 6. November 1932 in Etterbeek geboren, als Physiker ist eng mit der Universität Brüssel verknüpft. Hier schloss er 1955 sein Studium als Elektroingenieur ab und schrieb seine Doktorarbeit in Physik. Nach einem kurzen Intermezzo an der Cornell University im US-Bundesstaat New York kehrte er wieder nach Brüssel zurück.

Gemeinsam mit Robert Brout reichte Englert im Juni 1964 seinen bahnbrechenden Aufsatz "Broken Symetry and the Mass of Gauge Vector Mesons" ein. Erst im August zog Higgs mit ähnlichen Erkenntnissen nach. "Wenn man ehrlich ist, müsste man den Higgs-Mechanismus eigentlich Brout/Englert/Higgs-Mechanismus nennen", sagt Wolfgang Hollick, Direktor am Max-Planck-Institut für Physik. Im Gegensatz zu Higgs hätten Englert und Brout lediglich das später so genannte Higgs-Teilchen nicht erwähnt.

Englert scheint es nicht besonders zu stören, dass Higgs bisher in der Öffentlichkeit meistens im Mittelpunkt stand. Bei seiner Pressekonferenz am Dienstag lobte er die Arbeit seines britischen Kollegen. Allein die Physik habe Englert Zufriedenheit beschert: "Dass ich mein ganzes Leben mit dem Eindruck verbracht habe, nie gearbeitet zu haben, weil es immer eine Freude war zu forschen, das hat mich wirklich glücklich gemacht", sagte er nach der Bekanntgabe des Preises.

Doch Englerts Lebenslauf verrät: Der Physiker hat auch ein Leben jenseits der Wissenschaft. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Mit ihnen und seiner Frau erwartete er am Dienstag die Entscheidung aus Stockholm. Deshalb hätte er wohl, auch wenn es mit dem Nobelpreis nicht geklappt hätte, trotzdem eine Auszeichnung bekommen: "Sie (das Nobel-Komitee) verspäteten sich, ich war überzeugt, dass ich den Preis nicht habe. Also haben wir zusammen entschieden: Wir machen trotzdem eine Party. Weil meine kleinen Kinder denken, ich bin der Beste beim Servieren von Bananen-Toast, haben sie entschieden, mir den Bananen-Toast-Preis zu verleihen."

Peter Higgs: "Manchmal nett, recht zu haben"

Auch der Name Peter Higgs war lange Zeit nicht sehr weit über die Physiker-Szene hinaus bekannt. Bereits 1964 hatte er die Existenz eines entscheidenden Bausteins der Materie vorhergesagt - eine Antwort auf Goethes Frage im "Faust", was die Welt im Innersten zusammenhält. Fast zeitgleich hatten das auch andere Physiker postuliert. Etwa 50 Jahre mussten sie warten, bis der Beweis für die These angetreten werden konnte. In diesem Jahr endlich - mit 84 Jahren - bekommt Higgs den Physik-Nobelpreis gemeinsam mit dem Belgier Francois Englert für die Vorhersage des Higgs-Teilchen.

"Still genießend" soll Higgs die Nachricht zu Kenntnis genommen haben, die Ende 2011 aus dem europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf (Schweiz) zu ihm drang. Seine Kollegen in Genf hatten ein Teilchen nachgewiesen, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das Higgs-Teilchen handelte. Als etwa ein halbes Jahr später tatsächlich die Existenz eines Teilchens mit den entsprechenden Eigenschaften bei einem spannungsgeladenen, öffentlichen Seminar verkündet wurde, musste sich Higgs ein paar Tränen aus den Augen wischen. Auf dem Flug nach Hause, vertraute er in einem Interview der Öffentlichkeit an, habe er sich eine Dose "London Pride" gegönnt - ein englisches Ale, das für kontinentaleuropäische Gaumen ein wenig fahl daherkommt.

Das Higgs-Teilchens gilt als eine der größten Entdeckungen in den vergangenen 50 Jahren. Es war das fehlende Puzzlestück im Standardmodell vom Aufbau der Materie.

Higgs war als junger Forscher an der Universität Edinburgh tätig, als ihm seine revolutionäre "Eingebung" kam. Während einer Wanderung in den Bergen des schottischen Hochlands sei er dem Teilchen auf die Spur gekommen. Nicht sofort wurde ihm Glauben geschenkt. Sein erster Aufsatz zum Thema wurde in den vom CERN herausgegebenen "Physics Letters" nicht einmal abgedruckt. Später gab das CERN Milliardenbeträge aus, um die Higgs-Theorie zu verifizieren.

Der überarbeitete Aufsatz wurde schließlich 1964 im Konkurrenzblatt "Physical Review Letters" veröffentlicht. Aber die Fachwelt zweifelte weiter, so auch der Physiker Stephen Hawking. Er schloss sogar eine Wette dagegen ab. Später musste Hawking zugeben, dass er 100 Dollar verloren habe.

Widerwillen gegen das "Gottesteilchen"

Der oft verwendete Begriff "Gottesteilchen" war Higgs stets zuwider. Den Namen hat 1993 ein Verleger geprägt. Der Physik-Nobelpreisträger Leon Lederman wollte ein Buch unter dem Titel "Das gottverdammte Teilchen" veröffentlichen - sein Verleger setzte aber den Titel "Gottesteilchen" durch. Warum mag Higgs das Wort "Gottesteilchen" nicht? "Erstens bin ich Atheist", sagte er der BBC. "Zweitens ist mir bewusst, dass der Name als Witz gemeint war - und zwar kein besonders guter, wie ich finde."

Higgs' Arbeit ist kompliziert. 1993 bot der damalige britische Wissenschaftsminister William Waldegrave eine Flasche Champagner für jeden, der auf einem einzigen Blatt die Erkenntnisse erklären könne.

Higgs wurde am 29. Mai 1929 in Newcastle upon Tyne als Sohn eines Toningenieurs geboren. Er engagierte sich auch politisch. Higgs unterstützte die Anti-Atomwaffen-Bewegung, stoppte sein Engagement aber, als diese sich auch gegen die zivile Nutzung der Atomkraft richtete. Greenpeace unterstützte er solange, bis sich die Organisation gegen den Einsatz der Gentechnik positionierte. "Sie waren ziemlich hysterisch", sagte er dem "Daily Telegraph".

2004 blieb er der Preisverleihung für den Wolf-Preis in Jerusalem fern - eine der prestigeträchtigsten Auszeichnungen in der Physik. Er werde nicht nach Israel reisen, aus Protest gegen die Palästinenser-Politik der Regierung, begründete er sein Fernbleiben.

Bezüglich seiner Entdeckung blieb der zweifache Vater Higgs stets bescheiden. "Ich dachte nicht, dass es Zeit meines Lebens noch passiert", sagte er jüngst dem Fachblatt "New Scientist". Die Lage habe sich geändert, als die großen Teilchenbeschleuniger gebaut wurden. "Manchmal ist es nett, recht zu haben", fügte er hinzu. (APA/red, derstandard.at, 08.10.2013)