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Zu Hause wartet ein leeres Zimmer. Unter dem Empty-Nest-Syndrom leiden kurzfristig viele Mütter und wohl auch Väter.

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Sie kam mitten in der Nacht. Eigentlich schon fast am Morgen, zwischen drei und vier war sie auf einmal da und veränderte mein damals gerade 23-jähriges Leben komplett. Das war im Frühling vor 18 Jahren. Nach Monaten, die vor allem von Aufregung, Zweifeln und Ängsten und tausend Vorbereitungen erfüllt waren, legte mir die Hebamme ein vollkommenes, zartes, schönes kleines Baby in die Arme, das alle Bedenken, ob und wie ich Mutter sein könnte, mit einer Bewegung der kleinen Hand wegwischte.

Euphorie stellte sich ein. Ein Gefühl, wie frisch verliebt zu sein. Den ersten Tag verbrachte sie vor allem in meinen Armen. Krankenschwestern, die ab und zu in unser Zimmer schauten und meinten, ich solle jetzt vielleicht dann doch einmal essen oder schlafen, grinste ich nur blöd an. Körpereigene Drogen, die während so einer Geburt ausgeschüttet werden, können wirklich was.

Zur Begrüßung ein leeres Zimmer

Vor zwei Wochen kam ich von einer Verhandlung, über die ich berichten musste, zurück und stand vor ihrer halb geöffneten Zimmertür. Ihre vielen bunten Sachen, ihre Bücher, CDs, ihre Handtaschensammlung, das kreative Chaos auf ihrem Schreibtisch, die selbst gemalten Bilder. Alles weg.

Natürlich wusste ich, dass meine Tochter jetzt erwachsen ist, natürlich fand ich ihre Entscheidung, in eine andere Stadt zu ziehen, um etwas zu studieren, das sie interessiert, gut. Natürlich hatten wir einander - nicht nur - an diesem Morgen, bevor sie die Kartons mit ihrem Papa und ihrem Freund in einem VW-Bus verstaute, umarmt und uns mehrmals verabschiedet. Aber das leere Zimmer traf mich jetzt wie eine Keule.

Irgendwo in der Ecke lagen ein paar Sachen wie alte, selbstgebastelte Fotoalben aus der Volksschulzeit. Es folgte ein Heulkrampf auf ihrem leeren Bett - nicht der letzte in den nächsten Tagen. 18 Jahre. War es das? Ein Gefühl wie, ja, eben wie ein Abschied, ein Trennungsschmerz.

"Du hast ja eh noch zwei"

Freunde reagierten unterschiedlich auf meine Stimmung. Manche mitfühlend und verständnisvoll. Viele auch etwas irritiert. Das sei doch normal und gut so, dass ein Kind flügge wird. Ich sei doch auch mit 18 ausgezogen. Das Schlimmste war der gut gemeinte Satz: "Du hast ja eh noch zwei." Den konnte ich bald nicht mehr hören. Kinder sind keine Wintermäntel, von denen man den ältesten gerne ausmustert, sondern Menschen. Jedes ist für sich besonders und anders.

Meine Älteste konnte mich immer besonders gut auf die Palme bringen. Wir sind einander im Temperament recht ähnlich. Da blitzt und donnert es schnell, aber die Wolken verziehen sich ebenso rasch. Und wir teilen einen - sagen wir - schrägen Humor, der uns viele gemeinsame Lachkrämpfe bescherte.

In den letzten beiden Wochen ertappte ich mich mehrmals dabei, dass ich mir ihr schmutziges Geschirr, das sie gerne irgendwo stehenließ, und das saubere Gewand, das sie einfach auf den Boden schmiss, zurückwünschte oder Dinge im Supermarkt ins Regal zurücklegte, mit denen ich ihr eine Freude machen wollte. Ich hatte vergessen, dass sie nicht mehr zum Essen da sein würde.

Dass sie mich manchmal aufweckte, wenn sie laut und wenig sensibel Türen auf und zu machend spät heimkam, hat sich relativiert. Denn zurzeit schlafe ich nicht gut, weil sie nicht heimkommt.

Empty-Nest-Syndrom

In der Woche nach ihrem Auszug fand ich mich zum zweiten Mal in meinem Leben beim Stöbern in sogenannter Ratgeberliteratur wieder. Das erste Mal war, als ich mir verschiedenste Schwangerschafts-, Geburtsvorbereitungs- und Erziehungsbücher diverser moderner - und mittlerweile schon wieder überholter - Denkrichtungen reinzog. Jetzt las ich in den Heulpausen im Internet unter Begriffen wie "Empty-Nest-Syndrom". Das ist ungefähr so sinnvoll wie als Hypochonder bei Schmerzen den Netdoctor zu konsultieren.

Von schweren depressiven Lebenskrisen, aus denen - fast nur - Frauen manchmal gar nicht mehr herauskämen, war da zu lesen. Und innerhalb von Sekunden war ich wieder mitten in einem Frauenbild, das mir schon vor 18 Jahren in der Schwangerschaft Sorgen machte. Die Frau, die ihren einzigen Lebenssinn in der Aufzucht der Jungen findet. Die Frau, die sich aufopfernd aus dem Berufs- und überhaupt jeglichem Restleben zurückzieht auf den Planeten Mama. Diese Frau, diese Urmutter quasi, treffe das Empty-Nest-Syndrom besonders arg. Und mich?

Nein, ich hatte immer gearbeitet und war mit einer ähnlichen Leidenschaft Journalistin wie Mutter. Ich hatte nicht drei Menschen zu meinem einzigen Lebenssinn gemacht. Sie waren und sind das Wichtigste in meinem Leben - und bei weitem das Beste -, aber ich fand mich im kolportierten Bild nicht wieder. Ich musste nun nicht einen neuen Lebenssinn suchen. Eher empfand ich Trauer, dass ich nicht etwas weniger gearbeitet hatte und dafür etwas mehr Zeit für meine Kinder aufgebracht hatte. Aber wie heißt es so schön: Ich war jung und brauchte das Geld.

Das-Kind-zieht-aus-Ratgeber

Darüber sprach ich auch oft mit meiner Tochter. Die sagte dann immer, eine andere Mama hätte sie fad gefunden. Sie interessierte sich auch meist für die Dinge, über die ich gerade schrieb. Apropos schreiben: Vielleicht schreibe ich einmal selbst einen Das-Kind-zieht-aus-Ratgeber für die anderen Mütter, die alleinerziehenden, arbeitenden Mütter zum Beispiel. Aber erst in zwölf Jahren, wenn vielleicht mein jüngstes Kind auszieht.

Als ich im Netz in meinem Abschiedsschmerz keinen Trost, sondern nur Horrorszenarien fand, zog ich mich allein aus meiner Trübsal.

Meine Tochter wurde im Februar auf einem Zebrastreifen von einem Auto angefahren. Sie hatte großes Glück und einen Fahrer, der sich Gott sei Dank nicht davonmachte, sondern Hilfe holte. Eine gebrochene Nase, Prellungen, Schürfwunden, eine schwere Gehirnerschütterung, einige Tage im Spital und eine gruselige, aber vorrübergehende Teilamnesie (über die wir schon wieder schräge Witze machen können) waren das glimpfliche Resultat dieses Unfalls. Aber das Gefühl, das ich hatte, als ich nach einem Anruf, vor dem man sich als Elternteil sein ganzes Leben lang fürchtet, nachts ins LKH fuhr, ohne zu wissen, wie es ihr genau ging, hat sich tief in mir eingebrannt. Da stand eine andere Art von Verlust drohend im Raum. Daran denke ich jetzt, wenn ich in Selbstmitleid zu vergehen drohe, und sage mir: Studieren und das Leben genießen in Wien ist eigentlich echt sehr okay.

Um mich davon zu überzeugen, werde ich jetzt eben öfter als bisher am Wochenende von Graz nach Wien fahren. Das arme Kind. (Colette M. Schmidt, derStandard.at, 11.10.2013)