Marius Wanders ist Leiter des World-Vision-Büros in Brüssel und als Experte ins 15-köpfige Gremium der EU-Kommission gegen Menschenhandel bestellt. Zuvor war der Niederländer Generalsekretär von Caritas Europa.

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Zu Menschenhandel in Europa gibt es keine validen Zahlen, weil es keinen Datenaustausch gibt, sagt Marius Wanders von World Vision. Im Gespräch mit Julia Herrnböck erklärt er, wie die EU das ändern will.

Standard: Wie definieren Sie Menschenhandel?

Wanders: Es gibt verschiedene Formen davon - Zwangsarbeit, Sklaverei, sexueller Missbrauch - aber das Ziel ist immer Ausbeutung. Wichtig sind folgende Faktoren: der Akt des Verkauftwerdens an sich. Zweites wird der Transport durch Gewalt oder Erpressung erzwungen, und drittens verliert der Mensch die Kontrolle über seine Freiheit.

Standard: Was ist mit Menschen, die nach Europa geschmuggelt werden, um Asyl zu beantragen?

Wanders: Das ist kein Menschenhandel. Die meisten Flüchtlinge nehmen die Gefahr ja freiwillig und bewusst auf sich, weil ihre Situation unerträglich ist.

Standard: Innerhalb dieses Prozesses können sie aber an Menschenhändler geraten, oder?

Wanders: Ja, es kann sich während der Reise in so etwas verwandeln.

Standard: Gibt es einige wenige große Organisationen, oder agieren die Händler dezentral?

Wanders: Es gibt keine Struktur wie bei der Mafia - aber Clans, oft aus Rumänien und Bulgarien, die mafiaähnlich aufgebaut sind.

Standard: 880.000 Menschen, die in der EU als Sklaven leben - ist das eine reine Schätzung?

Wanders: Ich persönlich mag es nicht, mit den Zahlen um mich zu werfen - wir wissen schlichtweg nicht, wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind. Menschenhandel ist ein verborgenes Geschäft. Deshalb versucht die EU-Kommission, ein unionsweites Datennetzwerk aufzubauen.

Standard: Wenden eigentlich alle EU-Staaten die gleiche Definition von Sklaverei und Zwangsprostitution an?

Wanders: Daran arbeiten wir. Grundsätzlich basieren alle Richtlinien auf den UN-Konventionen. Wir drängen alle Staaten darauf, ihre Gesetze anzupassen.

Standard: In Wien sind nur sechs Beamte für rund 6000 Prostituierte zuständig. Haben die Staaten zu wenig Interesse an der Bekämpfung von Menschenhandel?

Wanders: Menschenhandel ist ein hoch lukratives Geschäft, personell und finanziell sind uns die Händler immer überlegen. Es geht weniger darum, wie viele Ressourcen wir haben, sondern wie wir diese möglichst effektiv einsetzen.

Standard: Am Stichtag im April hatten nur sechs der 27 EU-Länder die EU-Richtlinie gegen Menschenhandel umgesetzt. Schwächt das das Vorgehen?

Wanders: Es ändert nichts daran, dass es sich um eine rechtlich verbindliche Anweisung handelt. Die EU kann Sanktionen verhängen.

Standard: Österreich gehört nicht zu den Umsetzungsstaaten - ein besonderer Nachzügler?

Wanders: Nun, besonders weit liegt etwa Großbritannien zurück, warum auch immer. Vorreiter hingegen sind Finnland, die Niederlande und Frankreich.

Standard: Zu welchem Zweck werden Kinder nach Europa verkauft?

Wanders: Hauptsächlich zum Betteln und für Sexarbeit, Organhandel ist eher außerhalb der EU ein Geschäft. In vielen Ländern Südostasiens bestimmen Armut und hohe Kinderzahl die Entscheidung der Eltern. Die Kinder werden Agenten übergeben, die behaupten, sie würden ihnen eine Ausbildung ermöglichen. Ich schätze, die Hälfte der weltweit verkauften Kinder kommt aus Indien. Einige werden als Kameljockeys in arabische Länder verkauft. Wenn sie verletzt oder zu groß sind, werden ihnen oft Organe entnommen. Das ist die schlimmste Form von Menschenhandel, die es gibt: Ich denke nicht, dass irgendwer seine Kinder dem wissend aussetzt.

Standard: Bei allen Berichten über Sklaverei in Katar - sollte sich die EU nicht von der WM distanzieren?

Wanders: Das müssen Sie die EU fragen. Aber ich habe immer daran gezweifelt, dass eine Fifa- Weltmeisterschaft in einem Land organisiert werden kann, das keine Menschenrechte wahrt. (DER STANDARD, 21.10.2013)