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Orale Polioimpfung: Die abgeschwächten Poliomyelitis-Viren werden unmittelbar in den Mund getropft.

Foto: APA/Akhter Gulfam

Bombenexplosionen, Schussgefechte, Trümmerhaufen. Der Bürgerkrieg in Syrien fordert jeden Monat tausende Opfer. Die Krankenhäuser sind überlastet, die hygienischen Grundbedürfnisse der Menschen oft nicht erfüllt. Ansteckende Krankheiten haben da leichtes Spiel. So befürchten Experten, dass die Kinderlähmung in Syrien wieder vor dem Ausbruch stehen könnte. Zum ersten Mal seit 14 Jahren gibt es in dem Land wieder Hinweise auf den lebensgefährlichen Virus.

Am Dienstag, 29. Oktober wurde ein Ausbruch der Erkrankung im Nordosten Syriens von der WHO (World Health Organisation) bestätigt.

Die spinale Kinderlähmung (Poliomyelitis) wird von Polioviren verursacht, die Ansteckung erfolgt über das Rachensekret und den Stuhl infizierter Menschen. Am stärksten betroffen sind Kinder bis zu fünf Jahren. Wer sich ansteckt, muss allerdings nicht unbedingt mit Symptomen rechnen: "Über 90 Prozent der Infektionen verlaufen, ohne dass der Betroffene Beschwerden hat", erklärt Herwig Kollaritsch, Facharzt für spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin und Hygiene und Mikrobiologie.

Epidemiologische Zeitbomben

Treten Beschwerden auf, so deuten diese oft nicht auf Poliomyelitis hin: Durchfall oder Kopfschmerzen messen den meisten wohl eher wenig Bedeutung zu. Genau hier liegen die Tücken: Denn die Infizierten merken nicht, dass sie betroffen sind, setzen also keine Sicherheitsmaßnahmen. "Sie sind epidemiologische Zeitbomben", sagt Kollaritsch. Bis zu zwei Wochen lang scheiden die Infizierten die Polioviren mit ihrem Stuhl aus, die Viren gelangen ins Abwasser. In Ländern mit guten Wasseraufbereitungssytemen sei dies kein Problem, sagt Kollaritsch. Gelangt das ungereinigte Abwasser aber in die Nahrungsmittelkette, beginnt der Ansteckungskreislauf.

Und dieser endet für viele Betroffenen nicht so glimpflich: In einem von 200 Fällen kommt es tatsächlich zu Lähmungserscheinungen. Die Muskeln der Extremitäten erschlaffen, es kommt zu Hirnnervenausfällen und meist zu einer Lähmung der Atemmuskulatur. Die Betroffenen sterben oder überleben mit starken Behinderungen. Aufgrund des punktuellen Auftretens der Lähmungserscheinungen stellte man sich die Krankheit lange Zeit als "Gewitterblitz" - so der englische Wissenschafts-Autor Ritchie Calder - vor, der nur manche Menschen traf.

Behandel- oder gar heilbar ist die Kinderlähmung nicht. "Die Krankheit verläuft schicksalshaft, es ist also praktisch Glückssache. Die Patienten können nichts tun, sie wissen nicht, wie weit ihre Lähmung voranschreiten wird", sagt Kollaritsch.

Poliofreies Europa

In Europa gilt die Kinderlähmung als ausgerottet, die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärte die Region 2002 als poliofrei. In Österreich erkrankten nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die frühen 1960er-Jahre fast 13.000 Kinder an Polio, 1500 von ihnen starben. "Der letzte Fall von Kinderlähmung in Österreich trat schon in den 1980er-Jahren auf", sagt Virologin Heidemarie Holzmann.

Zu verdanken ist das dem von US-Bakteriologen Jonas Edward Salk entwickelten Impfstoff gegen die Infektionskrankheit. In den 1960er-Jahren kam die Impfung großflächig zum Einsatz und ist seitdem fixer Bestandteil des Österreichischen Impfplans. Heute wird der Impfstoff nicht mehr wir früher oral, sondern per Injektion verabreicht und bietet Schutz für mindestens zehn Jahre. Danach sind Auffrischungsimpfungen nötig. Die Österreicher seien jedoch leider nachlässig, sagt Kollaritsch. Fast die Hälfte der über 20-Jährigen hat keine Auffrischung. Dabei wäre der Weltpoliotag am 28.Oktober ein guter Anlass. Denn nur wenn sich Bewohner der poliofreien Regionen weiterhin impfen lassen, haben importierte Infektionen keine Chance.

Großangelegte Impfkampagnen

Anders als in Europa ist die Lage in vielen Ländern des asiatischen und afrikanischen Raumes, wo Kinderlähmung nach wie vor präsent ist. Mit großangelegten globalen Impfkampagnen versucht die WHO, die Krankheit auszurotten. Der Fortschritt ist greifbar: Seit Beginn des Programms im Jahr 1988 ist die Zahl der Erkrankungen weltweit von rund 350 000 auf bisher 285 im Jahr 2013 zurückgegangen.

Dass dieses Vorhaben oft aber alles andere als leicht ist, zeigt sich nun am Beispiel Syrien. Experten befürchten, dass der Anfang 2011 ausgebrochene Bürgerkrieg große Immunisierungskampagnen unmöglich machen wird. Die Durchimpfungsrate der syrischen Bevölkerung ist von 95 Prozent vor dem Krieg im Jahr 2010 auf geschätzte 45 Prozent im Jahr 2013 gefallen. (Sarah Dyduch, derStandard.at, 28.10.2013)