Es mag ermüden, aber es ist immer wieder mal nötig, die Definition des immer weiter ausufernden Indie-Begriffes zu wiederholen. Die für diese Serie gültige "Universaldefinition" ist nach wie vor folgende: Ein Indie-Game ist jedes Spiel, das (a) von Anfang bis Ende ohne den Einfluss eines Publishers oder Lizenzgebers fertiggestellt und/oder (b) von einem einzelnen Entwickler oder einem kleinen Team erstellt wurde.

In Zeiten, in denen Sonys PS4 auf die Zugkraft der Indieszene setzt und Einzelphänomene wie "Minecraft" sowieso alle Grenzen sprengen, wird auch der ursprünglich rein betriebswirtschaftliche Indie-Begriff aufgeweicht. "Indie", das ist 2013 längst auch eine Frage der Philosophie, etwa wenn Jenovah Chens "Journey" trotz fester Umklammerung durch Sony ästhetisch eher ins innovative Indie-Lager passt; es ist aber auch eine Frage der wirtschaftlichen Unschärfe in einer Gamesbranche, die sich im Umbruch befindet: Unterhalb von AAA ist ein ganzer Mittelstand an kleinen Studios weggebrochen, die sich zuvor unter dem schützenden Dach eines Publishers befanden. Jetzt finden sich viele dieser Veteranen trotz Industrievergangenheit  als "neue Indies" in der "aufregenden" Situation, mit weniger Mitteln, aber dafür größerer künstlerischer Freiheit tun und lassen zu können, was ihnen beliebt.

Bild: "The Wolf Among Us"

Ist das noch Ind ... gähn!

Zwei Streitfälle seien deshalb an den Beginn in den Vorspann des diesmonatigen "Best of Indie" gestellt - denn sowohl "Path of Exile" als auch Telltales "The Wolf Among Us" (Windows, Mac, PS3, XBox360) werden wohl kaum unwidersprochen in der untenstehenden Sammlung bestehen. Der bessere "Diablo 2"-Nachfolger im Geiste schickt sich an, mit bei so manchen Spielern ungeliebten F2P-Modell und beachtlicher Spielerbasis von über 2,5 Millionen die Zuordnung zum Indie-Sektor in Frage zu stellen: Sowohl das Spielprinzip als auch die schiere Größe des neuseeländischen Monstertotklick-Epos stehen zunächst gefühlsmäßig dagegen. Indie? Discuss!

Auch das von Freunden des letztjährigen Ausnahmeadventures "The Walking Dead" herbeigesehnte neue Spiel der - ebenfalls tatsächlich vom Publisher unabhängigen - Industrieveteranen Telltale Games mag sich trotz immer noch innovativem episodischen Vertriebsmodell, gewohnt kniffliger Entscheidungsstruktur und neuer Franchise - diesmal stand die Graphic-Novel-Kultserie "Fables" Pate - nicht so unwidersprochen als Indie titulieren lassen. Egal: Beide, sowohl "Path of Exile" als auch "The Wolf Among Us" werden von ihren jeweils nach Nachschub lechzenden Zielgruppen mit Freuden in die Arme geschlossen werden - egal ob sie jetzt Indie sind oder nicht.

Auf jeden Fall Indie: Die untenstehenden Highlights des Monats.

The Stanley Parable (Windows, 10 Euro)

Freunde des besonderen Spiels, aufgepasst: Wer "Dear Esther", "Journey" oder "Proteus" nur das geringste Fitzelchen Innovation zugestehen kann und somit dem Experiment im Medium nicht ganz feindlich gegenübersteht, der möge jetzt bitte Vertrauen beweisen und einfach das Spiel des Monats willkommen heißen. Es ist unmöglich, über die HD-Standalone-Version des bereits 2011 als Mod erschienenen "The Stanley Parable" Genaueres zu sagen, ohne zu spoilern, deshalb nur so viel: Moderate Englischkenntnisse vorausgesetzt erlebt man in diesem cleveren narrativen Irrgarten so manches Erleuchtungserlebnis, wird staunend von Metaebene zu Metaebene geführt und gleichzeitig so humorvoll unterhalten, wie es bislang höchstens das - spielerisch total unterschiedliche - "Portal" geschafft hat. Die Demo gibt einen wunderbaren Einblick in die grandios-verrückte Parallelwelt dieses Ausnahmespiels.

Foto: Screenshot

Knock-knock (Windows, Mac, Linux, 8,99 Euro)

Und noch ein Anwärter für den Titel "Seltsamstes Spiel des Jahres": Die russischen Entwickler Ice-Pick Lodge sind Kennern von ihren bisherigen Spielen "Pathologic" und "The Void" als schräge Querköpfe bekannt, doch "Knock-knock" geht noch einen Schritt weiter. Das Spiel sei aus mysteriös aufgetauchten Emails und Files auf Anweisung als okkult-mysteriöse Versuchsanordnung nachgebaut worden und eröffne sein Geheimnis nur demjenigen, der sich ernsthaft, nachts und allein damit beschäftige - grusel grusel. Der Marketing-Okkultismus kann getrost außen vor bleiben, denn "Knock-knock" ist auch ohne diesen Verkaufsgag eine, hm, interessante Erfahrung geworden, die durchaus Gänsehaut beschert: Als nur halb niedlicher Cartoon-Einsiedler hat man sein sich ständig veränderndes Haus geisterdicht zu machen und erwartet schlaflos den Morgen - wer konventionelles Gameplay erwartet, wird enttäuscht, aber zumindest all jenen, die vor dem Spiegel viereinhalb Mal nach dem Candyman rufen, wird auch "Knock-knock" ein faszinierendes Experiment mit der eigenen Angst ermöglichen.

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Democracy 3 (Windows, Mac, Linux, 22,99 Euro)

Apropos Angst haben: Mit dem dritten Teil des komplexen Politiksimulators "Democracy" liefert das britische One-Man-Entwicklerstudio Positech wieder einen spannenden Experimentierkasten für politisch Interessierte. Die Gesellschaftssimulation bietet eine beeindruckende Anzahl an Stellschrauben und Rädchen, in die einzugreifen auch politischen Laien die Komplexität des Ganzen klar macht. Als Ministerpräsident eines westlichen Landes ist es Sache des Spielers, das Gemeinwohl zu befördern und Wohlstand, Frieden und Glück für möglichst alle herbeizuführen - es ist müßig, hinzuzufügen, dass dieser Drahtseilakt des Öfteren mit desaströsen Resultaten endet. Spannend, komplex und eine willkommene Abwechslung zu Fantasy-, Sci-Fi- oder Military-Eintopf - es zahlt sich aus, sich in das komplexe, aber stylische Interface einzuarbeiten und mal nachzusehen, ob man es nicht vielleicht doch etwas besser machen könnte als die reale Politik.

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Eldritch (Windows, 11,99 Euro)

Klischee, Klischee: Kein "Best-of" ohne Roguelike-like - aber "Eldritch", das Spiel der texanischen Zwillingsbrüder Pittman, sticht durch besondere Zugänglichkeit mühelos aus der Menge hervor. Kein Wunder, haben die Macher doch zuvor an AAA-Titeln wie Borderlands, Borderlands 2, BioShock 2, and The Bureau: XCOM Declassified  mitgewerkelt. Wer angesichts der Blockgrafik "Minecraft" schreit, liegt spielerisch ganz daneben: Bis auf die Optik gibt es keine Gemeinsamkeiten.Vielmehr begibt man sich als Abenteurer immer tiefer in eine Reihe prozedural generierter Kerker, in denen gar schröckliche Monster der Marke HP Lovecraft hausen. Wie bei allen guten Rogue-likes faszinieren auch hier vor allem die endlose Wiederspielbarkeit und die robuste Vielfalt an Möglichkeiten, die sich immer wieder eröffnen. "Spelunky" trifft hier auf das Stealth-Gameplay von "Thief" - in Kombination mit trotz vermeintlicher Simpelgrafik beachtlicher Atmosphäre und einem im Vergleich zu anderen Rogue-likes moderaten Schwierigkeitsgrad entfaltet "Eldritch" so einen Sog, dem man ebenso schwer entrinnt wie seinen Kerkern. Kurz, aber gut.

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Forced (Windows, Mac, Linux, 10,99 Euro)

Koop-Feinschmecker, aufgepasst: Mit "Forced" bietet das dänische Indie-Team Beta Dwarf eine der derzeit wohl motivierendsten Multiplayer-Erfahrungen - und das mit einem ganzen Schwung origineller Ideen, die man dem Titel auf den ersten Blick kaum ansieht. Wer hier ein klassisches ARPG à la "Diablo" oder ein MOBA der Marke "DotA" erwartet, irrt: In einzelnen Arenen steuert man sein - im besten Fall perfekt aufeinander abgestimmtes - Team an Kämpfern gegen unterschiedliche Gegnerhorden und hat einfache bis komplexere Aufgaben zu erledigen. Das junge dänische Team, das für die Fertigstellung seines Traumspiels so einige Entbehrungen auf sich nehmen musste - unter anderem lebten die Dänen während der zweijährigen Entwicklungszeit heimlich illegal an der Uni Aalborg in einem Klassenzimmer -, liefert mit seinem Erstling einen kleinen Geheimtipp für Koop-Freunde ab. Nicht von der herkömmlichen Optik verwirren lassen - "Forced" verbindet Koop-Taktik und innovatives Teamwork-Gameplay zu einem spannenden Ganzen. Auch für Singleplayer gibt es Content, doch letztlich ist "Forced" ein Multiplayerspiel geworden. Ein sehr gutes sogar.

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Auch abseits dieser kleinen Auswahl hat sich viel getan, worauf aus Platzmangel hier nur zusammenfassend hingewiesen werden kann: auf das hübsche Jump'n'Run "Glare" (im Bild) etwa, auf den PSN-Multiplayer-Spaß "Atomic Ninjas", auf das solide Action-RPG "Iesabel" oder auf zwei Spiele, die auf ganz unterschiedliche, aber sehr unterhaltsame Art und Weise mit Sound experimentieren: Mit "140" erfreut sogar ein IGF-Gewinnerspiel unsere Gehörgänge, und auch "Soundodger" tummelt sich zwischen Musik und Interaktion. Wer's gern ernsthafter hat, möge sich an "Montague's Mount" versuchen - das auf einer irischen Insel spielende FPS-Adventure probiert sich mit nicht restlos überzeugender Konsequenz, aber viel Ambition an der Verschmelzung von "Dear Esther"-artiger Atmosphäre und handfesterem Adventure-Gameplay.

Der Oktober hat somit wohl wirklich für jeden was zu bieten - nur Konsolenbesitzer bleiben vorerst etwas unterbeschäftigt. Mit dem Start der neuen Generation ändert sich das hoffentlich - wir sind gespannt. (Rainer Sigl, derStandard.at)

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