"Als ich anfing, über Galilei zu arbeiten, gab es ein paar Dutzend Leute, die in Florenz Zugang zu den Manuskripten hatten. Heute können sich Studenten in Australien damit beschäftigen, weil es die ganzen Primär- und Sekundärquellen online gibt" - Jürgen Renn, leidenschaftlicher Verfechter des freien Zugangs zu wissenschaftlichem Wissen.

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STANDARD: Die Globalisierung gilt gemeinhin als ein relativ junges Phänomen. Warum kommen Sie in Ihren Studien zu einem ganz anderen Befund?

Renn: Das hat damit zu tun, dass wir unser Augenmerk nicht auf die wirtschaftlichen und die kulturellen Prozesse lenkten, sondern auf das Wissen. Und wenn man das ins Zentrum rückt, sieht man, dass Globalisierung sehr viel früher beginnt, eigentlich schon seit Beginn der Menschheitsentwicklung.

STANDARD: Können Sie dafür Beispiele nennen?

Renn: Denken Sie an die Einführung von Ackerbau und Viehzucht vor rund 10.000 Jahren im fruchtbaren Halbmond. Innerhalb von wenigen tausend Jahren verbreiteten sich diese Errungenschaften nach Europa und Zentralasien. Oder denken Sie an die Erfindung der Schrift in Mesopotamien vor mehr als 5.000 Jahren, die wiederum eine entscheidende Voraussetzung für die Weitergabe anderer Formen des Wissens war. Das wurde dann in anderen Regionen aufgenommen, oder es gab parallele Entwicklungen wie in Ägypten, und später in Indien und China.

STANDARD: Könnte es nicht sein, dass diese Schriften unabhängig voneinander entstanden sind?

Renn: Das ist jedenfalls eine offene Forschungsfrage. Aber es ist ebenso gut denkbar, dass diese Entwicklungen nicht völlig isoliert verliefen und dass es Wechselwirkungen gab. Wenn man etwa die Entstehung der Schriften von Mesopotamien und Ägypten über Indien bis nach China auf einer Karte aufträgt, dann scheint es ziemlich plausibel, dass Diffusionsprozesse hier eine Rolle gespielt haben können. Die von Mesopotamien und Ägypten weiter entfernten Schriften sind jeweils soviel später entstanden, dass man zwischenzeitliche Kontakte kaum ausschließen kann.

STANDARD: Aber sind diese Schriften nicht sehr verschieden?

Renn: Das stimmt schon, es gibt in der Geschichte des Wissens neben dem bloßen Kopieren immer auch so etwas wie die Übernahme von Ideen, die dann völlig transformiert wurden. Deshalb sind Diffusion und Neuerfindung auch keine so absoluten Gegensätze, wie sie oft diskutiert wurden. Heute setzt sich jedenfalls immer mehr die Überzeugung durch, dass bereits die Welt der Antike sehr viel stärker durch Austauschprozesse vernetzt war, als man lange Zeit angenommen hat. Am Max-Planck-Institut bringen wir Forscher aus verschiedenen Fachgebieten in regelmäßigen Workshops zusammen, um Prozesse des globalen Wissensaustausches, aber auch der langfristigen Akkumulation des Wissens besser zu verstehen. Zu den Themen gehört nicht nur die Schrift, sondern auch das praktische und technologische Wissen, und nicht zuletzt die Wissenschaft selbst.

STANDARD: Warum ist man da nicht früher schon draufgekommen?

Renn: Das hat sicher etwas mit der disziplinären Aufsplitterung zu tun, die wir mit unseren Workshops und Konferenzen überwinden helfen wollen. Ich glaube, dass dadurch größere Zusammenhänge leicht aus dem Blick geraten.

STANDARD: Wir sprachen bis jetzt von der Ausbreitung des Wissens. Wann entsteht dann das, was wir heute Wissenschaft nennen? Und was unterscheidet sie von anderen Formen des Wissens?

Renn: Ein wesentliches Merkmal von Wissenschaft ist die Befreiung der Wissensproduktion vom unmittelbaren Anwendungskontext, wenn also Wissen zum Selbstzweck wird. Das geschieht bereits im alten Babylonien, als man dort Berechnungen vornahm, die man im Alltag nie brauchen würde. Da wird erstmals Mathematik um ihrer selbst willen betrieben. Das ist ein ganz entscheidender Moment in der Wissensentwicklung.

STANDARD: Wie und wann kam es dann zur Globalisierung der Wissenschaft?

Renn: Einen wesentlichen Ausgangspunkt hatte ich ja schon genannt: die Erfindung der Schrift, durch die Wissen in völlig neuer Form gespeichert und transportiert werden kann. Eine wichtige Rolle haben aber auch die Weltreligionen gespielt. Als die sich ausbreiteten, wurde die Wissenschaft quasi im Huckepack mitgenommen. Die ganzen komplizierten Textexegesen rund um die jeweiligen heiligen Schriften nehmen ja zum Teil jene Methoden vorweg, die auch in der Wissenschaft zum Einsatz kommen. Für die Entstehung der Wissenschaft im Europa der Frühen Neuzeit ist ein religiöser Hintergrund ebenfalls entscheidend gewesen, denn er hat dazu beigetragen, dass man die Philosophie des Aristoteles, die einen entscheidenden Ausgangspunkt für die neue Wissenschaft lieferte, an den Universitäten lehrte und ausarbeitete.

STANDARD: Warum gab es damals so großes Interesse an Aristoteles?

Renn: Das hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt natürlich in der Antike selbst, hängt aber auch mit der großen Bedeutung zusammen, die Aristoteles für das aufstrebende Islamische Reich im Frühen Mittelalter bekam. Seine Philosophie wurde zum Ausgangspunkt für viele wissenschaftliche Bestrebungen im Bereich des Islam. Dass man im frühen Islam auf Aristoteles und nicht auf Plato setzte, hatte dann schließlich auch zur Folge, dass Aristoteles später im christlichen Mittelalter tonangebend wurde und nicht Plato – obwohl der Platonismus in der christlichen Tradition zunächst viel höher im Kurs stand. Jüdische und christliche Gelehrte übersetzten Aristoteles und seine Kommentatoren aus dem Arabischen und eigneten sich auf diese Weise ein fortgeschrittenes Wissen an, das der europäischen Wissenschaft einen bedeutenden Schub verlieh.

STANDARD: Wurde die neuzeitliche Wissenschaft nicht gerade durch die Emanzipation von der Religion zu dem, was sie heute ist?

Renn: Später ja, denn in der Frühen Neuzeit traf das sich rasch vermehrende praktische Wissen, das in den aufblühenden Städten im Zusammenhang mit Krieg und Handel, aber auch mit großen Bauprojekten entstand, mit dem Dogmatismus des religiösen Weltbilds zusammen. Aber genau dieser Konflikt hatte umgekehrt zur Folge, dass das neue praktische Wissen nicht eine Angelegenheit für Handwerker und Ingenieure blieb, sondern in einen wissenschaftlichen und philosophischen Kontext gestellt wurde, in dem es dann letztlich um ein neues Weltbild ging. Die Wandlung Galileis vom Wissenschafter-Ingenieur zum Hofphilosophen der Medici und Märtyrer der Wissenschaft ist dafür ein Beispiel. Natürlich hat auch der Buchdruck erheblich dazu beigetragen, dass verschiedene Wissenswelten aufeinander treffen konnten.

STANDARD: Wie war das in anderen Weltgegenden, etwa in China?

Renn: Solche Entwicklungen hängen immer auch von lokalen Kontexten ab. Das lässt sich sehr schön am Beispiel von China illustrieren. Im 17. Jahrhundert sind europäische Jesuiten nach China gereist, haben tausende der besten Bücher mitgenommen und insgesamt einen gewaltigen Wissenstransfer unternommen. Dennoch hat dieser Wissenstransfer in China keine der wissenschaftlichen Revolution in Europa vergleichbare Entwicklung ausgelöst.

STANDARD: Warum nicht?

Renn: Das Hauptproblem war, dass das chinesische Wissenssystem im Vergleich zum europäischen nicht in einer vergleichbaren Umbruchsphase war. Hier gab es kein umfassendes Weltbild, das astronomische Prinzipien mit religiösen Glaubenssätzen verband und das durch neues praktisches Wissen zu erschüttern gewesen wäre. Das astronomische Wissen konzentrierte sich in China auf die Vorhersage bestimmter astronomischer Ereignisse wie Sonnen- und Mondfinsternisse. Die Verbindung dieses Wissens zu einer Theorie über die Stellung von Sonne und Erde in einer von Gott geschaffenen Welt gab es so nur in Europa. Die Wissenschaft als Weltanschauung spielte in China damals keine vergleichbare Rolle.

STANDARD: Sie betonen die jeweiligen Kontexte, unter denen sich Wissenschaft durchsetzt oder nicht. Heute gehen wir davon aus, dass wissenschaftliches Wissen universell ist. Wie geht das zusammen?

Renn: Ich würde sagen, dass Wissenschaft immer aus konkreten Kontexten heraus entstanden ist. Die moderne Wissenschaft ist allerdings das Produkt einer sehr langen, global vernetzten Entwicklung, in der diese Kontextabhängigkeit zum Teil überwunden wurde. Und wenn ihr Wissen heute als das überlegene Wissen erscheint, dann hängt das auch am Erfahrungsreichtum, den sie über Jahrhunderte in sich aufgenommen hat. Deshalb ist auch nicht so leicht, sich eine Alternative zur modernen Wissenschaft vorzustellen. Wenn es aber um ihre Weiterentwicklung und um ihre Anwendung geht, dann kommt es wieder genau auf diese Kontextabhängigkeit  an. Deshalb lassen sich auch etwa westliche Lösungen technischer Probleme nicht einfach in andere kulturelle Kontexte übertragen. In einer global zusammenwachsenden Welt wird es jedenfalls vermehrt auf eine Wissenschaft ankommen, die sich ihrer Abhängigkeit von Kontexten bewusst wird.

STANDARD: Wissenschaft entstand Ihrer früheren Definition nach durch Wissen, das nicht primär anwendungsbezogen war. In den vergangenen Jahrhunderten hat sich das aber doch wieder massiv geändert?

Renn: Ja, die Wissenschaft spielt seit der industriellen Revolution eine zunehmend wichtige Rolle für die Ökonomie und Organisation moderner Gesellschaften. Dennoch kann man Wissenschaft nicht einfach planen. Die zweckfreie Auslotung von Erkenntnismöglichkeiten in der Grundlagenforschung bleibt eine entscheidende Voraussetzung für wirkliche Innovationen.  Dafür müssen auch gesellschaftliche Freiräume geschaffen werden. Und dazu gehört auch, die bewährten Grundlagen und Strukturen von Wissen selbst immer wieder in Frage zu stellen. Das haben uns revolutionäre Denker wie Einstein vorgemacht. Zu diesen bewährten Strukturen gehört auch die Kanonisierung des wissenschaftlichen Wissens in der Form von Disziplinen seit dem 18. Jahrhundert, die wiederum entscheidend für die Globalisierung der Wissenschaft wurde.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Renn: Durch die Disziplinen sind institutionelle und intellektuelle "Packungen" oder "mobile Einheiten" von Wissenschaft entstanden, die sich für die Weitergabe des Wissens sehr bewährt haben und sogar zu einem Exportschlager wurden. Sieht man sich heute Universitäten weltweit an, so haben die meist sehr ähnliche Strukturen: nach Disziplinen organisierte Institute und Fakultäten, die es in dieser Form fast überall auf der Welt gibt. Aber es gibt auch Nachteile, denn Probleme, die nicht in den Kompetenzbereich einer Disziplin fallen oder Kontexte, die systematisch ausgeblendet werden, sind nur schwer wieder in den Blick zu nehmen.

STANDARD: Was wäre also zu tun? Die Disziplinen wieder auflösen?

Renn: Nun, man sollte sich zumindest darüber klar werden, dass auch die Disziplinen historische Gebilde sind und nicht einfach eine Ordnung der Natur widerspiegeln. Und ihre Entstehung war bedingt durch bestimmte Medien und Repräsentationsformen des Wissens wie Lehrbücher und Zeitschriften. Durch das Internet gibt es heute neue Möglichkeiten, Wissensstrukturen zu schaffen und Wissen miteinander zu vernetzen. Das könnte auch Folgen für die soziale Organisation der Wissenschaft haben. Die Forderung nach offenem Zugang zu wissenschaftlichem Wissen ("Open Access") läuft ja darauf hinaus, hier einmal die Tür zu öffnen, statt einfach alte Strukturen in ein neues Medium zu übertragen. So könnten Möglichkeiten entstehen, in ganz neuen Modellen zu denken, die stärker an Problemen orientiert sind und um die herum das Wissen neu und flexibel angeordnet werden kann.

STANDARD: Was bräuchte es dazu?

Renn: Die Digitalisierung der Wissensbestände und die öffentliche Zugänglichkeit von Wissen sind dafür natürlich entscheidende Voraussetzungen, und die sind noch längst nicht durchgesetzt. In Bereichen wie etwa der Klimaforschung aber ist man bereits so weit, dass man problemorientiert arbeitet und nicht mehr einzelne Artikel oder Bücher die entscheidenden Wissensquellen sind, sondern es sind vernetzte Datenbanken und Simulationen, in denen sich das eigentliche Wissen konzentriert.

STANDARD: Ist so etwas auch für die Geisteswissenschaften denkbar?

Renn: Durchaus. Und zum Teil passiert das ja auch bereits. Als ich anfing, über Galilei zu arbeiten, gab es ein paar Dutzend Leute, die in Florenz Zugang zu den Manuskripten hatten. Heute können sich Studenten in Australien mit Galileis Manuskripten beschäftigen, weil wir sie gemeinsam mit dem Galilei-Museum in Florenz und der Nationalbibliothek ins Netz gestellt haben. Heute ist es etwa für Historiker im Prinzip nicht nur möglich, von der Interpretation auf die Quelle zu verlinken, statt nur eine Fußnote zu schreiben, sondern von der Quelle auf die verschiedenen Interpretationen. So könnte man zum Beispiel feststellen, welche Interpretationen es im Laufe der Geschichte gegeben hat und wie die sich zueinander verhalten. Aber von der Umsetzung dieser Vision sind wir noch weit entfernt.

STANDARD: Ändert das auch etwas an den Inhalten geisteswissenschaftlicher oder historischer Forschungen?

Renn: Ich denke ja. Man kann heute ein bisschen mutiger sein, insbesondere was die Größe der Themen angeht. Früher war man in den Geisteswissenschaften aufgrund der vorhandenen  Kulturtechniken gezwungen, sich auf einzelne Spezialbereiche und bestimmte Autoren zu konzentrieren. Heute können wir uns dagegen die Themen etwas großzügiger zuschneiden und uns auch mit langfristigen und globalen Zusammenhängen beschäftigen. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 6.11.2013)