Ben Winters: "Der letzte Polizist"
Broschiert, 352 Seiten, € 9,30, Heyne 2013 (Original: "The Last Policeman", 2012)
Ich glaube nicht, dass 2013 als "Das Jahr von ..." in die Phantastik-Geschichte eingehen wird. Dieser Eindruck hat sich übers Jahr allmählich aufgebaut und bestätigt sich, wenn ich mir so die Jahres-Best-ofs ansehe, die derzeit im englischsprachigen Raum aufzupoppen beginnen. Keine allgemeine Einigung auf das überragende Buch oder wenigstens die Bücher 2013. Und die kleine Schnittmenge an Mehrfachnennungen enthält tendenziell Bekanntes: Entweder Fortsetzungen ("MaddAddam" von Margaret Atwood oder der zweite Teil in Alastair Reynolds' "Poseidon's Children"-Reihe, "On the Steel Breeze"). Oder zumindest Fortführungen dessen, womit sich AutorInnen bereits etabliert haben ("The Ocean at the End of the Lane" von Neil Gaiman oder "The Shining Girls" von Lauren Beukes).
Nicht zu vergessen zwei Titel, die auch LeserInnen-Favoriten sind: "Wool" von Hugh Howey (auf Deutsch: "Silo") und die Trilogie, zu der dieses Buch hier gehört: "The Last Policeman" von Ben Winters. Beide Reihen brachten heuer im Original Fortsetzungen hervor, die in LeserInnen-Polls stark vertreten sind. Auf Deutsch haben sie parallel dazu ihre jeweils ersten Teile ins Rennen geschickt. Und "Der letzte Polizist" gefällt mir auf seine unaufdringliche Art sogar noch besser als "Silo".
Das Szenario
Unaufdringlich - und das bei einer Prämisse, wie sie spektakulärer kaum sein könnte: In sechs Monaten wird der 6,5-Kilometer-Asteroid Maia auf die Erde stürzen und die Menschheit vermutlich zur Gänze auslöschen. Es werden ein paar kurze melancholische Rückblicke auf die Monate nach der Entdeckung Maias eingestreut, als die Einschlagswahrscheinlichkeit noch nicht bei 100 Prozent lag, aber die Zahl stetig nach oben kletterte. Mittlerweile herrscht Gewissheit. Ruhe, Fatalismus und Galgenhumor prägen den Ton.
Massenunruhen, Staatsstreiche, religiöser Irrsinn: All das, was man sich in einem solchen Szenario erwarten würde, spielt sich auch in Winters' Romanwelt ab. Aber man kriegt es nur vom Hörensagen mit, insbesondere im symbolträchtigen Kleinstadtidyll Concord (der Name!), New Hampshire, dem Schauplatz des Romans. Klar, der Drogenkonsum ist stark gestiegen, es gibt eine Welle von Selbstmorden und strenge neue Gesetze (zum Beispiel ein allgemeines Schusswaffenverbot; dafür dürfte es in den USA tatsächlich eines Weltuntergangs bedürfen).
Aber die überwiegende Mehrheit macht einfach weiter wie bisher. Soldier on, wie das auf Englisch so schön heißt. Im Allgemeinen wursteln die Leute einfach weiter vor sich hin. Gehen zur Arbeit, sitzen an ihrem Schreibtisch, hoffen, dass die Firma am kommenden Montag noch existiert. Gehen in den Supermarkt, schieben den Einkaufswagen, hoffen, dass die Lebensmittelregale heute nicht ganz leer sind. Treffen ihre Liebste mittags auf ein Eis. Und weil der Zeitraum der Prä-Apokalypse so lang ist, sind mittlerweile auch die meisten derer zurückgekehrt, die aufgebrochen waren, um ihre "Löffelliste" abzuarbeiten. (Das Wort hatte ich zuvor noch nie gehört: Es meint all die mehr oder weniger spektakulären Dinge, die man noch tun will, ehe man "den Löffel abgibt"; auf Englisch: bucket list). Eine seltsame neue Normalität ist eingekehrt.
Stille Apokalypse
"Der letzte Polizist" hat die gleiche Ausgangslage wie der Klassiker "Luzifers Hammer" von Larry Niven und Jerry Pournelle, macht aber etwas komplett anderes daraus. Es ist eine stille Apokalypse à la Will McIntoshs "Wie die Welt endet" ("Soft Apocalypse") oder Lars von Triers "Melancholia". Die Menschen stehen dabei im Vordergrund, nicht das Feuerwerk.
Und wenn es tatsächlich mal um die großmaßstäblichen Vorbeben der Katastrophe geht, dann baut Winters sie stets bewundernswert organisch in dazu passende Situationen ein: Etwa wenn ein Protagonist an der Unzuverlässigkeit seines Handys verzweifelt (die Netz-Infrastruktur wird nur noch unzureichend gewartet, und viele kleine Nachlässigkeiten schaukeln sich auf). Oder wenn Unternehmen schon aus geringfügigen Gründen Filialen abwickeln: Für die dortigen MitarbeiterInnen wird das zur höchstpersönlichen Katastrophe, verlieren sie dadurch doch ein weiteres Stück Normalität.
Die Hauptfigur
"Der letzte Polizist", das ist Henry Palace. Ein junger Streifenpolizist, der vor kurzem aufgrund der allgemeinen Personalknappheit zum Detective ernannt worden ist. Gäbe es keinen Asteroiden, könnte man sagen, dass für Henry damit ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen ist. Dementsprechend ernst nimmt er seinen Job auch. Vor allem, als er einen Fall, der bloß ein weiterer Selbstmord zu sein scheint, verdächtig findet. Henry glaubt, dass der Mann ermordet wurde und will den Fall unbedingt aufklären - zum völligen Unverständnis seiner KollegInnen. "Warum geben Sie sich solche Mühe, diesen Mordfall zu lösen?" "Weil ..." Ich hebe die Hände. "Weil er ungelöst ist."
Und wie sollte es Henry auch besser erklären? Ist er sich dessen bewusst, dass er Parallelen zwischen dem Toten und sich selbst sieht? Und lässt es sich irgendwie in Worte fassen, dass man einfach weitermachen muss, selbst wenn es sinnlos erscheinen mag - einfach nur deshalb, weil jede Alternative dazu noch deprimierender wäre?
Henry ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Dass der so angenehm schlicht daherkommt, liegt also nicht zuletzt an der Hauptfigur, die die Handlung in Ich-Form und im Präsens erzählt. Denn Henry ist zwar tüchtig, aber kein Genie. Und er macht Fehler. Alles in allem versteht es Winters hervorragend, den richtigen Ton zu treffen. Das hätte ich vorab nicht unbedingt erwartet, denn erstens hat der noch junge Autor einen verdächtig hohen Output an Büchern. Und zweitens hatte er seine Karriere ausgerechnet inmitten der Mashup-Mode begonnen, die für mich nie mehr als eine Einmal-witzig-dann-ist's-aber-auch-gut-Erscheinung war. Winters' Beiträge hießen übrigens "Sense and Sensibility and Sea Monsters" und "Android Karenina".
Krimi am Ende der Zeit
Bei all dem Eingehen auf Genrehintergrund und existenzialistische Philosophie sollte man aber nicht vergessen, was "Der letzte Polizist" vor allem ist: ein Krimi. Mit allem, was da so dazugehört, also rätselhaften Beweisstücken (im Nachlass des Toten finden sich kryptische Zahlenreihen, die mit dem Asteroiden zusammenhängen), falschen Fährten und dem aufkeimenden Verdacht, dass Henrys Ermittlungen sabotiert werden. Der Fall schlägt mehrere Volten, und auch sonst hält der Autor einige Überraschungen bereit - etwa den Selbstmord einer Nebenfigur, der sich mit schockierender Ansatzlosigkeit ereignet.
Dazu kommt dann noch eine Nebenhandlung, die sich um Henrys Schwester entfaltet - sieht aus, als wäre die geheimen Regierungsaktivitäten auf der Spur. Am Schluss bleiben also - trotz Aufklärung des aktuellen Falls - noch genügend lose Enden übrig, um dem zweiten Teil ("Countdown City") mit Spannung entgegenzusehen. Dann ist der Tag, an dem Maia einschlägt, noch näher gerückt.