Stephen Baxter: "Evolution"
Broschiert, 992 Seiten, € 13,40, Heyne 2013 (Original: "Evolution", 2002)
Der Engländer Stephen Baxter wird in erster Linie mit Kosmophysik assoziiert. "Evolution" stammt allerdings mitten aus seiner ökologischen Phase, die 1999 mit der "Mammut"-Trilogie begann (Mammuts auf dem Mars!, leider nie ins Deutsche übersetzt) und die bis heute nachwirkt: Siehe etwa den Die-Welt-säuft-ab-Wälzer "Die letzte Flut" aus dem Jahr 2008 oder Baxters zuletzt veröffentlichte "Stonespring"-Trilogie. Darin nimmt die Geschichte ab dem Ende der Eiszeit einen anderen Verlauf, als Steinzeitmenschen mit einem gewaltigen Dammprojekt verhindern, dass das ansteigende Meer die Region überflutet, die wir heute als Ärmelkanal kennen.
Hinter "Evolution" steckt nicht weniger als die Absicht, die Entwicklung des Menschen von seinen fernsten Primaten-Urahnen bis zu seinen fiktiven Nachfahren in einer noch ferneren Zukunft zu illustrieren. Aufgelöst wird dieses tendenziell größenwahnsinnige Konzept in eine lange Reihe chronologisch angeordneter Episoden, die jeweils entscheidende Abschnitte der menschlichen Evolution schildern. Unter anderem beschert uns dies eine wahrhaft epische Beschreibung des Kometeneinschlags, der die Dinosaurier ausgelöscht und unseren Ahnen den Weg bereitet hat.
Kalter Mechanismus Evolution
Und so jetten wir durch die Jahrmillionen und nehmen am Überlebenskampf von ProtagonistInnen wie Purga (einer Vertreterin der Urprimaten-Spezies Purgatorius), Weit (Homo erectus) oder Kieselstein (ein Neandertaler bzw. Vertreter einer eng verwandten Menschenart) teil. Mit dem Auftreten des Homo sapiens unterstreicht Baxter die Kontinuität, indem er den durch Jahrtausende getrennten Figuren ähnliche Namen wie Juna, Jahna oder Joan gibt - Ableitungen eines "Urworts", das soviel wie "Mutter" bedeuten soll.
Aber nicht diese Figuren, sondern die Evolution selbst ist der eigentliche Protagonist des Romans. Ihr Wirken wird in nüchterner Kühle geschildert - wobei die menschliche(n) Kultur(en) den Ausleseprozess weniger zu stoppen als mit unverminderter Härte fortzuführen scheinen. Kindstötungen, Vergewaltigungen, Verdrängungsprozesse und der erste Genozid der Geschichte: Gewalt zieht sich wie ein blutroter Faden durch die einzelnen Kapitel.
Und selbst da, wo es nach vorne zu gehen scheint, wahrt Baxter eine nüchterne Perspektive. Die neolithische Revolution etwa, also der Beginn der Landwirtschaft und nach Meinung der meisten Wissenschafter der wichtigste Schritt in der gesamten Menschheitsgeschichte, kommt bei Baxter eher als Rückschritt rüber: Plackerei, Hierarchienbildung, Anstieg von Krankheiten und verringerte Lebenserwartung gegenüber den früheren Jägern und Sammlern nehmen der Revolution ihren Glanz. (Ganz davon abgesehen, dass sich die Menschen ab diesem Zeitpunkt "nicht mehr wie Primaten vermehren, sondern wie Bakterien".) Und die Beschreibung der Geburt von Religion aus einer Gemengelage von Geisteskrankheit, Machtstreben und Täuschungsmanövern heraus dürfte Richard Dawkins entzücken.
Freiraum für Fantasie
Da die Geschichte des Lebens aber schwerlich mit dem heutigen Stand enden wird, schreitet das Buch munter in die Zukunft voran: Erst 1.000 Jahre in die Zeit nach dem Ende der Zivilisation. Dann 30 Millionen Jahre, wenn die Nachfahren der Menschen ihre Intelligenz verloren haben und wieder zum Fall für die Evolution geworden sind. Affenartige Baumbewohner leben nun neben dumpfen Riesen, die von intelligenteren Nagetieren wie Viehherden gehalten werden. Und schließlich eine halbe Milliarde Jahre in die Zukunft, wenn die Ökosphäre der Erde unter einer wachsenden Sonne in ihren letzten Zügen liegt. Hier leben die letzten Nachfahren der Menschen als Symbionten von Bäumen - nebenbei bemerkt eine schöne Adaption des Mythos vom Barometz, einem Mischwesen aus Tier und Pflanze.
Hier lässt Baxter seiner Fantasie freien Lauf - ein paarmal hat er dies schon in früheren Kapiteln eingestreut: So erfindet er unter anderem einen kreidezeitlichen Luftwal, einen Pterosaurier, der mit seinen 100-Meter-Flügeln durch die Stratosphäre gleitet. Oder ein komplettes antarktisches Ökosystem, in dem einige Dinoarten den großen Knall überlebt haben, um dann der Vergletscherung zum Opfer zu fallen. Einer Dino-Spezies dichtet er sogar Intelligenz und die Entwicklung einer Kultur an - warum nicht. Inmitten der paläontologischen Faktenrevue von "Evolution" wirkt es fast befreiend, wenn zwischendurch mal ein bissel fantasiert wird.
Besser gut geklaut als schlecht erfunden
Stephen Baxters "Evolution" steht in der Geschichte der Science Fiction - ja der Literatur überhaupt - allein wie ein fremdartiger, faszinierender Monolith, heißt es im Nachwort. Nun, nicht ganz. Exakt dasselbe hat nämlich ein gutes Jahrzehnt davor, aus der entgegengesetzten Richtung kommend, der schottische Geologe und Guru der spekulativen Biologie Dougal Dixon gemacht. Sein 1990 erschienenes "Man After Man" ist ebenfalls eine Aneinanderreihung von Einzelepisoden, in denen jeweils der Vertreter einer bestimmten Hominidenspezies im Mittelpunkt steht: Beginnend in frühester Vergangenheit und weitergeführt in eine ferne Zukunft nach dem Ende der Zivilisation, in der der Mensch sich zu verblüffenden neuen Formen weiter- bzw. rückentwickelt hat.
Der Vergleich mit Dixon ist auch deshalb angebracht, weil Baxter ein paar Ideen eindeutig von ihm geklaut hat - aus einem noch älteren Dixon-Buch zum Beispiel die Kaninchen, die sich auf der mittleren Zukunftsebene zu antilopenartigen Großtieren weiterentwickelt haben. In der Faunenzusammensetzung einiger anderer Kapitel erkennt man dafür Episoden der bahnbrechenden CGI-Serien "Walking with Dinosaurs" und "Walking with Beasts" wieder. Allerdings waren sowohl die TV-Serien als auch Dixons Bildbände in einem Punkt im Vorteil: Sie konnten die diversen Spezies auch zeigen. Während in Baxters "Evolution" gelegentlich allzuviele Speziesnamen mehr oder weniger abstrakt an einem vorbeirauschen, da stellt sich leichte Überforderung ein.
Die Schattenseite eines Monolithen
Womit wir schon bei den Minuspunkten angelangt wären, und ich werde gleich vorab einstreuen, dass "Evolution" trotzdem absolut lesenswert ist. Ganz grundsätzlich gesagt ist "Evolution" kein Roman. Die untereinander kaum verbundenen Episoden werden nur sehr vage durch eine Klammer auf einer nahen Zukunftsebene zusammengehalten: In den 2030er Jahren reflektiert die Wissenschafterin Joan über das Wesen der Evolution und hofft darauf, dass sich aus einer holistischen Sicht ein neues menschliches Bewusstsein entwickelt. Was auch ein bisschen der Gedanke hinter dem Roman selbst sein dürfte.
Und schon gar nicht ist "Evolution" ein moderner Roman. Baxter erzählt aus einer Überflieger-Perspektive, die weit jenseits des Erfahrungshorizonts der ProtagonistInnen liegt - hier ein Beispiel: Das Troodon wusste es zwar nicht, aber diese Schwierigkeiten wurden durch die Verbreiterung des Atlantiks verursacht, des großen geologischen Ereignisses, das die Periode der Kreidezeit prägte. Nein, das konnte das Troodon wirklich nicht wissen. Diese hyperauktoriale Erzählweise ist weit, weit entfernt von heute gepflegtem Roman-Stil. Zugleich neigt Baxter - wie schon in der "Mammut"-Reihe - dazu, seine noch nicht (oder nicht mehr) intelligenten Figuren ein wenig zu sehr zu vermenschlichen.
Fehler, Fehler, Fehler
Ein anderer Punkt ist, dass "Evolution" vor Fehlern nur so wimmelt - ein paläontologisch oder zumindest biologisch bewanderter Lektor hätte das Buch sicher zurückgeschmissen. Mal abgesehen davon, dass Indonesien nicht im Südwesten Asiens liegt, stimmen hier einfach viel zu viele Speziesbezeichnungen nicht. Ein Megaloceros konnte keine riesigen Hauer haben, weil er ein Hirsch war. Und ein Gigantosaurus ist ebensowenig ein Giganotosaurus, wie ein Deinonychus ein Deinosuchus ist. Jaja, klingt ähnlich, aber ich sag nur: Löwe - Möwe. Und die sehen einander genauso ähnlich wie die beiden anderen Verwechslungspaare.
Schwierig zu sagen, aus welcher Quelle all diese Schlampereien kommen, vom Autor oder vom Übersetzer (Google Books hat mich nämlich nach ein paar Kontrollblicken zuviel wieder rausgeschmissen). Angesichts mitunter eigenwilliger Wortstellung und Wortwahl (wo sagt man abgeritten für überstanden?) tendiere ich eher zu Letzterem. Und manchmal war die Fehlübersetzung ja auch eindeutig: Das englische cycad ergibt auf Deutsch Palmfarn. Und mal ehrlich, dass eine Zikade ein Insekt ist und kein Baum, hätte schon jemand auffallen können. Call me old-fashioned, aber ich finde, solche Fehler könnte man ruhig ausmerzen, wenn man an eine Neuausgabe geht; zum ersten Mal ist der Roman in dieser Übersetzung 2004 erschienen. Ein großes Positivum der 2013er Version ist dafür das ausführliche Nachwort Uwe Neuholds, in dem er die paläontologischen Aspekte des Romans mit dem aktuellen Forschungsstand vergleicht: Die Wissenschaft hat im vergangenen Jahrzehnt schließlich nicht geschlafen.
... und trotzdem ...
"Evolution" ist ein grandioses Scheitern auf mehr Linien, als man zählen kann. Ginge ja auch gar nicht anders, immerhin entwirft Baxter hier ein Panorama, neben dem sich sogar David-Brin-Szenarien wie Kammerspiele ausnehmen. Was tut man also, wenn man sich zuviel vorgenommen hat? Entweder steigt man auf die Bremse ... oder man nimmt sich gleich noch mehr vor. Dann ist das, was übrig bleibt, wenn sich der Rauch verzogen hat, immer noch gewaltig genug. Wie in diesem Fall: "Evolution" bietet ein ziemlich einzigartiges Leseerlebnis, ich kann es nur empfehlen.
P.S.: So schön das Ganze auch ist ... lieber wär's mir, Heyne würde wieder etwas mehr von der Möglichkeit Gebrauch machen, neue Bücher zu übersetzen und das arg zusammengeschrumpfte Programm anstelle solcher Neuausgaben mit beispielsweise der "Stonespring"-Trilogie zu bereichern.