Christof Kessler
Wahn. Stories
Verlag Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0551-6
207 Seiten, 16,99 Euro

Foto: Eichborn

Für Christof Kessler ist das Literarische ein Form der Verarbeitung seines Berufsalltags.

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Seit mehr als 30 Jahren ist Christof Kessler mit einer Vielzahl von unterschiedlichen - zum Teil sehr schweren - Krankheitsbildern konfrontiert. Erkrankungen des Gehirns, die tiefe Einschnitte in den Biografien der betroffenen Patienten und ihren Angehörigen hinterlassen.

Beispielsweise Eberhard, der unter Parkinson leidet und durch eine permanente Überdosierung von L-Dopa zu halluzinieren beginnt. In seinem Wahn fühlt er sich von der Autoschiebermafia bedroht, so dass er nur mehr eine Möglichkeit sieht - er holt gemeinsam mit seiner imaginierten Kampftruppe zum großen Gegenschlag aus. Oder der 40-jährige Robert, der während einer seiner exzessiven Sporteinheiten einen Schlaganfall erleidet und letztendlich den Freitod wählt. 

Zwölf spanndende, aber auch berührende Geschichten hat Christof Kessler in seinem Buch versammelt. Quasi nebenbei lernt der Leser auch ein wenig über Neurologie und den Sitz unserer Persönlichkeit, das Gehirn. Mit derStandard.at sprach der Neurologe über sein Buch und wie der Beruf sein Menschenbild geprägt hat.

derStandard.at: Sie haben vor Kurzem Ihr erstes Buch veröffentlicht, außerdem ist ein Roman in Vorbereitung. Kollegen von Ihnen sind ebenfalls im populärkulturellen Kontext anzutreffen. - Wie etwa Eckart von Hirschhausen, der mittlerweile hauptberuflich Kabarettist ist oder Oliver Sacks, der seine Erfahrungen als Neurologe ebenfalls literarisch bearbeitet. Ist es Zufall, dass Neurologen ein großes Bedürfnis haben, Ihre Erfahrungen mitzuteilen?

Kessler: Es kann sein, dass das so eine Art Abwehr ist. Wir Neurologen haben ja mit sehr schwerwiegenden Krankheiten zu tun und das Literarische ist vielleicht eine Form der Verarbeitung. Die Neurologie ist ein faszinierendes Gebiet, und ich gehe jeden Tag gerne in die Arbeit, aber ich habe auch das Gefühl, ich muss dem etwas entgegensetzen. Früher habe ich gemalt. - Als dann ein guter Freund an einer neurologischen Erkrankung gestorben ist, habe ich mit dem Schreiben begonnen. Alfred Döblin war übrigens Psychiater, Irrenarzt nannte er sich damals. Der war so besessen vom Schreiben, dass er noch auf der Treppe während seiner Hausbesuche an seinen Manuskripten gearbeitet hat.

derStandard.at: In Ihrem Buch "Wahn" präsentieren Sie Einzelfälle aus dem Praxisalltag eines Neurologen. Inwieweit beruhen diese Geschichten auf tatsächlichen Fällen, mit denen Sie während Ihrer Berufslaufbahn konfrontiert waren?

Kessler: Ich arbeite seit 30 Jahren als Neurologe und die Geschichten spiegeln natürlich auch reale neurologische Fallgeschichten wider. Es handelt sich dabei aber um keine Abschriften von Krankenakten. Das heißt, ich wollte nicht nur eine Dokumentation dieser doch sehr anrührenden Menschenschicksale vornehmen, sondern die Geschichten auch so bearbeiten, dass sie einen literarischen Wert bekommen.

derStandard.at: Die Geschichte zur "Demenz" erweckt allerdings den Eindruck als wäre sie nicht erfunden. Hat es den ranghohen Beamten, der bei der Koordinierung der Kommunikation - während der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 - auf ganzer Linie versagt hat, tatsächlich gegeben?

Kessler: Nein, aber ich wollte die Problematik des Rechtsradikalismus in der ehemaligen DDR Anfang der 1990er-Jahre thematisieren. Ich bin 1994 in die Klinik für Neurologie in Greifswald gekommen. Das Gesundheitssystem der ehemaligen DDR war damals ziemlich am Boden und dann kamen auch noch diese rechtsradikalen Ausschreitungen hinzu, so dass ich mir dachte "Oh Gott, da gehst du nicht hin". - Ich habe mich aber doch dazu entschlossen und diese Entscheidung nicht bereut.

Die Fallgeschichte "Demenz" beruht auf einem Patienten, der einen großen Betrieb zu leiten hatte. Er war aber nicht mehr in der Lage "die Fäden zusammenzuhalten" und versagte bei den einfachsten Dingen, so dass der Betrieb fast Pleite gegangen wäre. Wir haben bei ihm eine Demenz diagnostiziert. Eines Tages traf ich diesen Mann geistig munter mit seiner Freundin auf dem Marktplatz spazieren. Tatsächlich hatte er damals eine "Pseudo-Demenz" entwickelt. Im Grunde genommen wollte ich die Geschichte einer Fehldiagnose schreiben und so auf die Schnittstelle zwischen Demenz, Depression und was heute modern "Burn-out" genannt wird, hinweisen.

derStandard.at: Warum haben Sie für Ihr Buch den Titel "Wahn" gewählt? Die meisten Krankengeschichten in Ihren Erzählungen haben mit dieser Form der psychischen Störung nichts zu tun?

Kessler: Wahn ist eine bestimmte Reaktionsweise auf die Überreizung des Gehirn, die im Fall der Titelgeschichte durch eine Medikamentenüberdosierung (mit L-Dopa zur Erhöhung des Dopaminspiegels; Anm.) hervorgerufen wurde. Wenn ein Mensch mehrere Tage nicht schläft, kann er auch einen Wahn entwickeln. Ebenso durch einen Schlaganfall, eine Entzündung oder eine Virusinfektion im Gehirn. Der "Wahn" ist deshalb auch ein gutes Beispiel dafür, wie vielschichtig die Grenze zum "Nicht-Normalen" im Gehirn sein kann.

derStandard.at: Der kleinste gemeinsame Nenner der Geschichten ist, dass neurologische Erkrankungen die Persönlichkeit eines Menschen stark verändern können. Wie sehen Sie als Neurologe das Konstrukt "Persönlichkeit"?

Kessler: Wenn Sie eine Knieoperation hinter sich haben, dann bleiben Ihr Kopf und Ihre Persönlichkeit integer. Erkrankungen des Gehirnes sind im Gegensatz dazu weitaus folgenreicher. Es kommt zu einer Veränderung der Interaktion mit der Umwelt, die Emotionen und das Gedächtnis verändern sich und die Betroffenen reagieren auf äußere Reize inadäquat - werden beispielsweise aggressiv oder apathisch.

derStandard.at: Was macht aber letztendlich die Persönlichkeit eines Menschen aus?

Kessler: Mich reizt an der Neurologie, dass sie keine reine Organmedizin ist, sondern Schnittpunkte zur Psychologie, Psychiatrie und Philosophie aufweist. Erst das Gehirn macht den Menschen, seine Seele oder Persönlichkeit aus. Wenn also das Gehirn normal funktioniert, dann ist der Mensch mit sich im Einklang. Sobald aber diese Harmonie etwa durch einen Schlaganfall, eine Gehirnblutung oder einen Gehirntumor gestört ist, dann verändert sich auch die Persönlichkeit und dadurch die Interaktionen mit der Außenwelt.

Leichte Depressionen, Traurigkeit oder eine bestimmte Zwanghaftigkeit gehören aber zum Menschensein dazu - solange der Mensch und seine Umwelt nicht elementar darunter leiden. Deshalb bin ich auch sehr skeptisch gegenüber der Behandlung von ADHS mit Ritalin.

derStandard.at: Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfälle oder Demenz nehmen zu. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Neurologie hier eines Tages tatsächlich heilen kann?

Kessler: Als ich vor 30 Jahren Assistent war, hat man in der Neurologie sehr viele Diagnosen gestellt, aber nur wenig behandeln können. Das hat sich in den vergangenen zehn oder 15 Jahren elementar geändert. Heute gibt es beispielsweise "Stroke Units", sogenannte Schlaganfallspezialstationen: Wenn ein Patient innerhalb von vier, fünf, sechs Stunden in eine solche Klinik kommt, können diese Gerinnsel, die im Gehirn entstanden sind, entweder abgesaugt oder mit Medikamenten aufgelöst werden und die Lähmungen oder die Sprachstörungen verschwinden dann entweder ganz oder sind zumindest nur noch sehr gering vorhanden.

Was die Demenz betrifft, wissen wir immer mehr über den Charakter der Krankheit und wie die Amyloid-Ablagerungen, die das Gehirn zerstören, entstehen. Irgendwann wird es mit Sicherheit eine heilende Therapie geben, aber das ist absolute Zukunftsmusik.

derStandard.at: Wie sieht Ihr Menschenbild aus? Glauben Sie, dass die Neurologie darauf Einfluss genommen hat?

Kessler: Ich denke, die Beschäftigung mit der Neurologie verändert das persönliche Menschenbild in der Weise, dass man auf die umfassende Computerisierung misstrauischer reagiert. Ich habe manchmal das Gefühl, die Leute geben ihr Gedächtnis an den Computer ab und es stellt sich für mich die Frage, was aus dem Wahnsinnspotenzial des Gehirns wird, wenn die Leute den ganzen Tag vorm Computer sitzen und irgendwelche Spiele spielen. Manchmal habe ich den Eindruck, der Mensch verschleudert sich. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 19.11.2013)