Mit der Erkenntnis, dass man in den vergangenen Jahrzehnten zur Einwanderungsgesellschaft geworden ist, tut man sich in ganz Europa nicht leicht. Aber in Österreich, diesem kleinen Land dem Erdteil inmitten, das schon aufgrund seiner geografischen Lage zur Aufnahme von Migranten prädestiniert ist, erscheint die Situation besonders vertrackt - wie sehr, zeigt etwa der Umgang mit dem Thema Doppelstaatsbürgerschaften.

Hierbei, das kann man ohne Übertreibung sagen, handelt es sich um eine Frage mit Zukunftsrelevanz. 18,3 Prozent aller in Österreich lebenden Menschen sind entweder selbst im Ausland geboren, oder deren Kinder sind es. Jene unter ihnen, die nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, bleiben Außenseiter: So, wie das Wahlrecht derzeit funktioniert, sind sie von politischer Mitbestimmung großteils ausgeschlossen.

Die Entscheidung wiederum, ihre frühere Staatsbürgerschaft zurückzulegen, fällt ihnen oft schwer. Nicht zuletzt, weil sie in diesem Fall im Herkunftsstaat oftmals wichtige Rechte zu verlieren drohen.

Diesen Menschen den alten Pass nicht wegzunehmen und ihnen den neuen, österreichischen trotzdem zu geben würde derlei Konflikte vielfach beenden. Es würde aus Außenseitern demokratisch voll legitimierte Bürgerinnen und Bürger machen: zum Wohle der repräsentativen Demokratie, deren Aushöhlung in diesen Jahren von vielen Beobachtern befürchtet und beklagt wird.

Doch all diese Argumente scheinen unter den politischen Repräsentanten Österreichs wenig Überzeugungskraft zu besitzen. Mehr Toleranz für Doppelstaatsbürgerschaften ist hierzulande derzeit kein Thema: Während im Nachbarstaat Deutschland die Koalitionsverhandler CDU/CSU und SPD darum ringen, Menschen mit ausländischen Wurzeln zeit ihres Lebens als erkennbaren Teil der Gesellschaft zu akzeptieren und ihnen alle Rechte als Einheimische zu gewähren, herrscht bei ihren alpenländischen Konterparts SPÖ und ÖVP diesbezüglich Schweigen im Walde.

Warum das? Erstens, weil die Diskussion in Österreich noch lange nicht so weit gediehen ist wie im Nachbarstaat. Das hat mit den vorherrschenden politischen Mehrheiten zu tun: Auch in Deutschland wäre die nunmehr als zu einschränkend kritisierte Optionslösung ohne entsprechende "linke", rot-grüne Koalition niemals beschlossen worden.

Diese hatte in Deutschland 1998 Fakten geschaffen, über Einwände von konservativer Seite hinweg, über Vorbehalte, wie sie die Diskussion in Österreich nach wie vor bestimmen - obwohl sie aus einer Zeit stammen, in der in Europa der Nationalstaat, und nicht wie heute die Europäische Union, das weiterführende politische Organisationsprinzip war.

Damals, vom 19. Jahrhundert bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, schien der Nationalstaat am besten geeignet, die Loyalität seiner Bewohner zu garantieren: eine Loyalität zum Staat und der Gesellschaft, deren Schwinden in Österreich offenbar im Fall von mehr Doppelstaatsbürgerschaften befürchtet wird.

Doch führt heutzutage nicht genau das Gegenteil zu mehr gesellschaftlicher Desintegration? Dann, wenn Einwanderer mangels breiten Doppelstaatsbürgerschaftsmodells lebenslang Ausländer bleiben? Darüber gelte es auch hierzulande zu diskutieren. (Irene Brickner, DER STANDARD, 19.11.2013)