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Mehl ist ein Grundnahrungsmittel und in vielen Speisen enthalten. Eine Unverträglichkeit gegen das darin enthaltene Gluteneiweiß macht Essen zum Problem.

Foto: Corbis

Die Symptome sind nicht sehr spezifisch: Blähungen, Bauchschmerzen, Durchfall sowie Kopfweh und Müdigkeit. Für viele Betroffene ist die Diagnose dennoch klar, zumindest aus eigener Sicht. Sie vertragen kein Gluten und setzen sich selbst auf Diät. Damit geht es ihnen oft besser.

Wenn solche Patienten zum Arzt gehen, ist das Bild oft nicht eindeutig. Mediziner finden in den meisten Fällen keinerlei Hinweise auf eine Zöliakie, eine vererbbare Gluten-Unverträglichkeit oder eine klassische Glutenallergie, auch Bäckerasthma genannt, im Blut keine Spuren einer immunologischen Reaktion, auch die Darmschleimhaut sieht gesund aus. Der Untersuchte jedoch beharrt darauf, dass der Verzehr von glutenhaltigen Nahrungsmitteln Unwohlsein bereitet. Wo also liegt die Ursache?

Fehlreaktion des Immunsystems

Gluten ist ein Proteinkomplex, der vor allem in Weizen, aber auch in Gerste und Roggen vorkommt. Die Eiweißmoleküle lösen bei manchen Menschen im Dünndarm eine Fehlreaktion des Immunsystems aus. Der Betroffene leidet unter Zöliakie. Schwere Darmentzündungen sind die Folge. Es ist eine seltene Krankheit, die in Europa weniger als ein Prozent der Bevölkerung betrifft.

Seit Anfang des Jahrtausends indes scheint Gluten eine wahre Epidemie an Gesundheitsproblemen zu verursachen. Immer mehr Zeitgenossen machen einen Bogen um handelsübliches Brot und Nudeln, "einzelne Patienten behaupten sogar, nicht einmal an einer Bäckerei vorbeigehen zu können, ohne Kopfschmerzen zu bekommen", erläutert der Gastroenterologe Chris Mulder vom VU Medisch Centrum in Amsterdam.

Das Phänomen hat inzwischen auch eine offizielle Bezeichnung: Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS). Experten schätzen die Häufigkeit unter Erwachsenen auf bis zu sieben Prozent. Auch Kinder sind zunehmend betroffen. "Dies ist nicht nur ein Problem westlicher Länder", erklärt Chris Mulder. Der Facharzt war vor kurzem in Neu-Delhi, dort berichteten ihm Kollegen aus Privatkliniken ebenfalls über steigende NCGS-Zahlen. Bei wohlhabenden Patienten.

Glutenfreie Optionen

Die Angst vor Gluten als angeblichem Gesundheitsrisiko hat in einigen Ländern schon hypeartige Ausmaße angenommen. Im Internet befassen sich unzählige Foren mit der Thematik, der Markt für glutenfreie Produkte boomt. Einer Umfrage aus den USA zufolge wünschen sich 15 bis 25 Prozent der dortigen Bevölkerung solche Lebensmittel, weil sie glauben, diese seien gesünder.

Die Hersteller von glutenfreier Kost freuen sich über steigende Umsätze. Laut Schätzungen könnte deren Volumen global bis zu 850 Millionen Euro betragen. Monatlich. Auch andere Branchen springen auf den Zug auf. Inzwischen gibt es sogar Kontaktbörsen für glutensensitive Singles. Bloß keinen Brotesser küssen, das kann manchem angeblich die ganze Woche verderben.

Mediziner tappen im Dunkeln

Bezüglich der genauen Ursachen von NCGS tappen Mediziner allerdings im Dunkeln. Es gibt keine eindeutigen Hinweise im Stoffwechsel oder Veränderungen im Blutbild. Bei einzelnen NCGS-Patienten wurden Antikörper gegen Gliadine gefunden.

Gliadine sind Weizenproteine, und somit könnte dies einen Hinweis auf eine schädliche immunologische Reaktion sein - ähnlich wie bei Zöliakie. Chris Mulder und seine Amsterdamer Kollegen haben in den vergangenen Jahren allerdings mehr als 50 NCGS-Betroffene hinsichtlich des Auftretens von gliadinespezifischen Antikörpern getestet und keine gefunden.

Einer weiteren Theorie zufolge könnten nicht Gluten, sondern Amylase-Trypsin-Inhibitoren die Auslöser von NCGS sein. Hierbei handelt es sich um natürliche Abwehrstoffe von Getreide gegen Schimmelpilze und Bakterien, a-Amylase-Trypsin-Inhibitoren können anscheinend eine direkte Aktivierung von Immunzellen im Darm bewirken. Mögliche Zusammenhänge zwischen diesen Sub- stanzen und der Entstehung von NCGS-Symptomen sind noch nicht geklärt.

Chris Mulder ist skeptisch. Seiner Meinung nach könnten 70 bis 80 Prozent der Fälle von Glutensensitivität psychosomatisch bedingt sein.

Psychosomatische Ursachen

Bemerkenswert sei auch, dass die meisten Betroffenen weiblich sind. David Sanders, Gastroenterologe am Royal Hallamshire Hospital in Sheffield, England, vermutet stattdessen einen genetischen Hintergrund. NCGS-Patienten hätten womöglich eine Art "Zöliakie-Light". Psychosomatische Faktoren schließt Sanders aber nicht aus.

Eine australische Studie aus dem Jahr 2011 schien zum ersten Mal die Existenz von NCGS als eigenständige physiologische Krankheit zu belegen und sorgte dementsprechend für Aufsehen. Vor einigen Monaten jedoch hat dieselbe Arbeitsgruppe nachgelegt. Im Rahmen einer weiteren Untersuchung wurden 37 NCGS-Betroffene zunächst auf eine besondere Diät gesetzt. Diese war nicht nur glutenfrei, sondern auch arm an sogenannten FODMAPS, leicht vergärbaren Zuckern wie zum Beispiel Fructose und Polyolen, welche oft Süßstoffen zugesetzt sind.

Nach zwei Wochen bekamen die Testpersonen eine Woche lang entweder stark glutenhaltige Kost, Essen mit geringen Gluten-Mengen oder glutenfreie Speisen mit Molkenprotein als Placebo-Zusatz vorgesetzt. Das Ergebnis: Praktisch alle Versuchsteilnehmer meldeten verstärkte NCGS-Symptome infolge der Umstellung - auch solche, die weiterhin glutenlos aßen, aber dies nicht wussten - ein Nocebo-Effekt also. Man erwartete eine Verschlechterung, die dann auch prompt eintritt.

Ähnlich wie beim Reizdarmsyndrom

Interessanterweise meldeten die Testpersonen nach der einführenden Diät eine spürbare Verbesserung ihres Befindens, trotz vorheriger glutenfreier Ernährung (vgl.: Gastroenterology, Bd. 145, S. 320). Womöglich sind es die FODMAPS, die NCGS-Störungen auslösen, erklärt Erstautorin Jessica Biesiekierski.

Die Entstehung der Symptome könnte dann ähnlich wie beim Reizdarmsyndrom stattfinden, inklusive psychosomatischer Komponente. Durch Störung des vegetativen Nervensystems infolge von Stress käme es zu einer verringerten Produktion von Verdauungsenzymen. Die FODMAPS würden infolgedessen nicht aufgenommen, sondern vergärt und führten so zu Darmbeschwerden. Doch auch dies ist bislang noch nicht belegt. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 26.11.2013)