Die Nervosität war unmittelbar vor der Abreise höher als bei einer normalen Reise und steigerte sich weiter, als bei der Abfahrt der kleine Hund von Martin in einem unbewachten Moment aus dem Haus auf die Straße lief – und wir hinter ihm her, um ihn rasch in Sicherheit zu bringen. Damit war der klare Kopf für die letzten Checks getrübt und blieb es auch die drei Rucksäcke mit je 30 Kilogramm und das zusätzliche Handgepäck einluden. Wir fuhren los, bis auf halbem Weg zum Bahnhof klar wurde, dass Martins Tickets fehlten. "Die müssen wohl bei der Hetze nach dem Hund liegen geblieben sein." "Geht sich das noch aus, umzukehren und sie zu holen?" Es ging sich aus – aber wir mussten zuerst den zurückgelassenen Schlüssel bei den Eltern besorgen, die verwundert mit: "Martin, du hier, du versäumst ja die Abfahrt, oder wollt ihr doch noch zur Vernunft kommen ...?" reagierten. Vom Haus ging es fliegend mit den Tickets in der Hand ins Auto zurück (der Hund blieb diesmal bereitwillig sitzen) und beim Anpfiff in letzter Sekunde in den Zug.

Eine geruhsame Fahrt bis Kopenhagen brachte Entspannung. Grönland durfte sich langsam unserem Inneren nähern. Doch bei der Ankunft stieg die Nervosität wieder, da es nun endgültig nach Grönland gehen sollte. Wird man unser Übergewicht beim Check-in akzeptieren? Wir hatten doch nur das Allernotwendigste ausgewählt. Nichts gab es doppelt, außer ein Zelt und die Kochausrüstung für den Fall, dass jemand zurückgelassen werden musste, bis irgendwie Hilfe geholt werden konnte.

Foto: Christoph Ruhsam

Aber bis zum Gepäckaufgeben kam es gar nicht, da es hieß, der Flug sei überbucht und nur zwei von uns dreien dürften mitfliegen. Überbucht? Dort wohnt doch keiner, hatte man uns immer wieder gesagt ...! Das Angebot einer finanziellen Entschädigung und garantiertem Flug in zwei Tagen wurde von uns ausgeschlagen – wir drei mussten doch gleichzeitig in Kangerlussuaq eintreffen um gemeinsam nach Nuqssuaq zu kommen.

Wir hatten wenig Spielraum für Verzögerungen, waren doch die Reisestrecken in dem riesigen Land, das spärlich durch Flugzeuge und Hubschrauber erschlossen ist, vorgebucht. Unsere Durchquerung von Nuqssuaq würde ca. zwei Wochen dauern, ebenso die daran anschließende Ostgrönlandtour. Es gab also nur ein Ziel: mit dem geplanten Flug gemeinsam wegkommen! Man setzte uns auf die Warteliste und wir setzten uns nahe zum Schalter um sofort verfügbar zu sein.

Jeder weitere Passagier wurde gefragt, ob er denn nicht gegen eine Entschädigung erst in zwei Tagen fliegen wolle. Kopfschütteln – nein. Aber einige junge Grönländer waren wohl froh, noch ein Paar Tage in Kopenhagen bleiben zu können – auf Kosten von SAS – und zeigten dies mit klarem Kopfnicken – ja! Wir sprangen auf, nahmen unsere Tickets entgegen und fielen uns in die Arme, nachdem wir endlich gemeinsam an Bord waren.

Der Flug führte uns über das endlose Inlandeis in den Westen. Viele blaue Seen und Schmelzwassersysteme auf dem sommerlichen Inlandeis kündigten dessen Ende bei Kangerlussuaq an. Wir durften zum ersten Mal grönländischen Boden betreten.

Foto: Christoph Ruhsam

Wieder stieg die Nervosität, als wir am nächsten Tag vom Campingplatz in das Flughafengebäude gingen, um für den Inlandsflug nach Ilulissat einzuchecken. "Der Flug wurde gecancelt, es gab im Süden von Grönland Schlechtwetter und die Maschine muss dort aushelfen", war die unerwartete Aussage des Bodenpersonals. Wann der nächste Flug geht ist noch nicht klar. Dadurch hätten wir den Flug nach Uummannaq verpasst. "Gibt es denn das?", fragten wir uns.

Nach all den überwundenen Hürden nun auch noch das? Sollten wir die Expedition vielleicht doch nicht machen, wie uns einige immer wieder nahegelegt hatten? War das ein weiteres Zeichen, das wir ernst nehmen sollten? Zu groß aber war unsere Begeisterung für unser Ziel. Das grönländische "imaqa" – vielleicht – begann uns zu lehren, alles mit Vertrauen hinzunehmen. Wir wollten einen alternativen Weg finden. Die letzte Etappe per Boot, das wir in Uummannaq erst anheuren wollten, hatten wir immer als die unsicherste eingestuft. Aber doch nicht die Linienverbindungen! Also sprachen wir bei den Autoritäten am Flughafen vor und fanden in einem SAS-Manager einen Verbündeten. Ihm gefiel unser Vorhaben und er wollte sein Möglichstes tun. Wir sollten ihm etwas Zeit geben. Also wanderten wir durch das Flughafengelände und weit hinauf in die Hügel, um unsere Seelen zum ersten Mal mit der Ästhetik grönländischer Natur zu füllen.

Am nächsten Tag wurden uns eine fast unglaubliche Möglichkeit präsentiert: Ein von einer Minengesellschaft gecharteter Transporthubschrauber hätte noch Platz für uns drei und würde morgen Nachmittag von Ilulissat losfliegen. Wir sollten den viele Stunden verspäteten Ersatzflug nach Ilullisat nehmen und dort auf SAS-Kosten nächtigen. Alles würde mit den gebuchten Linientickets abgedeckt sein. Das war wahrlich unglaublich! Heliflugstunden kosteten damals umgerechnet ab 2.000 EUR und waren damit weit über unseren Budgetmöglichkeiten.

Der Flug nach Ilulissat am Westrand des Inlandeises war traumhaft und ließ uns tief in die Gletscherwelten von Grönland eintauchen: Nordenskjöld Gletscher und natürlich der Ilulissat Eisfjord, der ergiebigste Eisbergproduzent der nördlichen Hemispäre.

Foto: Christoph Ruhsam
Foto: Christoph Ruhsam

1990 stieß er täglich 30 Meter vor und schob damit auf einer Breite von zehn Kilometern Unmengen von Eis in den Fjord. Heute schiebt er sich bedingt durch die Erderwärmung schon 45 Meter täglich vor und hat sich um ca. 15 Kilometer verkürzt. Da gehen Grönland enorme Eismengen verloren! Diese Eisberge treiben den Fjord Richtung Westen entlang zur Mündung, wo sie aufgrund ihres Tiefganges von hunderten Metern an einer Schwelle am Meeresgrund hängen bleiben, bis sie soweit abgeschmolzen sind, dass sie es bei Flut darüber hinweg schaffen – in die Freiheit – und den Weg Richtung Süden nach Neufundland nehmen.

Foto: Christoph Ruhsam

In Ilulissat wanderten wir durch die helle Sommernacht und über die, auf Felsen zwischen den Holzhäusern, oberirdisch verlegten Installationsrohre – unsere Seelen wollten gefüllt werden mit dem grönländischen Zauber.

Foto: Christoph Ruhsam
Foto: Christoph Ruhsam
Foto: Christoph Ruhsam
Foto: Christoph Ruhsam

Wir waren selbstverständlich überpünktlich am nächsten Nachmittag am Flughafen. Die beiden grönländischen Piloten ließen sich unseren Plan und die Route zeigen und boten spontan an, uns direkt am geplanten Ausgangsort abzusetzen – das war ja verrückt! Ab dort würde es wahrlich kein Zurück mehr geben. Wir mussten durchkommen bis Saqqaq, ca. 14 Tagesmärsche vom unbewohnten Ausgangsort entfernt. Der Flug brachte uns in wenigen hundert Metern Höhe Richtung Norden. Wir flogen über riesige Eisbergarmeen, an den Auslassgletschern Sermeq Avangnardleq und Sermeq Kujatdleq zog der Pilot eine Sonderschleife für uns.

Foto: Christoph Ruhsam

Dann kam Nuqssuaq und damit würden wir einen Teil unserer geplanten Route zum ersten Mal sehen und aus der Luft erkennen können, wie die Schneeverhältnisse Anfang Juli waren, ob Flüsse querbar wären und ob wir uns nicht doch zu Waghalsiges vorgenommen hatten. Der Boyes Sö war zu einem Drittel noch zugefroren, aber das Land war bis auf höher gelegene Stellen schneefrei und die Flüsse schienen machbar.

Foto: Christoph Ruhsam
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Dann kam die Landung und das Absetzen verbunden mit einem Schrei, einem Schrei über das Land hin, von einem Hügel über die Öde hin, einem Schrei ohne Text, nicht ein Wort. Aber ein Jauchzen voll von Unbegreifen erschallte, gemischt mit der Angst vor einer Begegnung mit Nanoq, dem Eisbären. Die Wahrscheinlichkeit, ihm zu begegnen, war gering im Inneren von Nuqssuaq, aber die Bedenken waren im Moment groß.

Foto: Christoph Ruhsam
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Durchs Innere Nuqssuaqs

Unsere Route führte uns dann dorthin, wo unseren Seelen im Inneren schon erahnt hatten, wie es sein würde: Tundraflächen, überzogen mit Moos, das weich und tief und Kräfte raubend war; weite Täler, gesäumt von Frostschutthalden, die seit Jahrhunderten vom Wechsel der Naturkräfte aus den Granit- und Gneisflanken der Berge zu scharfkantigem, fragil gelagertem Blockgestein abgesprengt worden waren und durch jeden unserer Tritte in eine neue, stabilere Lage versetzt wurden. Flüsse, die uns die Beine zu eiskalten, schmerzenden Gehmitteln verkümmern ließen, bis wir sie am anderen Ufer wieder erwärmen konnten. Ausgedehnte Schneefelder, bewachsen mit Blutschnee – Chlamydomonas nivalis, wie die rötliche, Kälte liebende Flechte heißt. Inlandeis, begrenzt von 50 Meter hohen senkrechten Eiskanten, reißenden Flüssen und Wasserfällen aus dem Eis heraus. Rentierherden zwischen üppigen Flechtenpolstern und mit Permafrostpolygonen, die unter der Wärme unserer Isoliermatten nächtens auftauten und zu weichen, wie Pudding schwabbelnden, unsicheren Zeltböden wurden. Diese waren oft die einzige Möglichkeit, in dem Blockgestein überhaupt zeltbaren Boden zu finden.

Foto: Christoph Ruhsam
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Großartig waren die Berge mit sichtlich abnehmenden Gletscherkappen, die Eisseen und gewaltigen Täler, die wir im Inneren von Nuqssuaq erleben durften. Das Wetter war uns gnädig, mit vielen Sonnentagen, wenig Regen und Temperaturen zwischen 0°C und 15°C.

Foto: Christoph Ruhsam
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Und am Ende trafen wir auf einen in der Karte nicht verzeichneten Bergsturz, der uns als echte Hürde vor unserem Ziel Saqqaq alle Kräfte abrang. Felskolosse, so groß wie Häuser, lagen lose übereinander geschichtet und drohten zu kippen, uns in schwarze Tiefen zu ziehen oder uns im Wirrwarr die Orientierung zu nehmen.

Foto: Christoph Ruhsam

Aber unser Vertrauen und die Begeisterung für diese ursprüngliche Landschaft im Inneren siegten und ließen uns in dem Dorf wohlbehalten nach zwölf Tagen eintreffen. Der erste Mensch, dem wir begegneten, wunderte sich sehr, woher wir kämen und meinte, diesen Weg hätte wohl vorher noch niemand genommen.

Foto: Christoph Ruhsam
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Das Ziel erreicht

Saqqaq war bunt und wurde durch das ständige Heulen der Schlittenhunde und dem Licht der arktischen Sommernacht zu einem tiefen Erlebnis. Es war ein Licht mit enormer Farbintensität – ein Licht der Ewigkeit das in unserem Inneren aufbewahrt wurde.

Foto: Christoph Ruhsam
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Kaum in diesem Außenposten menschlicher Siedlungen angekommen, wurden wir mit Problemen konfrontiert: Der einzige Weg zurück nach Ilulissat war ein einmal pro Woche verkehrendes Boot, das diesmal ausfallen sollte – "imaqa". Wie war unser Flug weiter an die Ostküste von Grönland nach Kulusuk zu erreichen?

Foto: Christoph Ruhsam

Ein netter Grönländer bot in Zeichensprache an, ein privates Motorboot zu organisieren. Und am nächsten Nachmittag hatten wir diese Strecke in wilder, kalter Fahrt zwischen Eisenbergen im offenen Boot hinter uns gebracht und zelteten in der Nähe des Friedhofes von Ilulissat, mit seinen herzerfrischenden Farben der Plastikblumen, die die Grönländer Ihren Lieben mitgeben. (Christoph Ruhsam, derStandard.at, 06.12.2013)