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Wirbelsäule und Muskulatur stehen miteinander in Wechselwirkung. In der Bewegung wirken sie zusammen, körperlicher Stillstand führt zu Problemen.

Foto: EPA/JOERG CARSTENSEN

Selbst Fachleute wundern sich: Allein in Österreich wurden im vergangenen Jahr 7.364 Bandscheibenoperationen durchgeführt, in der Schweiz mehr als 7.600. "Aus medizinischer Sicht lässt sich der Anstieg schwer begründen", sagt Andreas Raabe, Chefarzt der Universitätsklinik für Neurochirurgie am Inselspital Bern. Im Gegenteil: Die Statistik zeigt, dass diese Eingriffe oft wenig bringen. Nach wenigen Jahren geht es Patienten mit einem Bandscheibenleiden im Durchschnitt gleich gut oder schlecht - egal, ob sie sich operieren ließen oder nicht. Das hat die Auswertung von 1.200 Vergleichsstudien ergeben.

"Wir Chirurgen werden häufig verdächtigt, zu schnell zum Skalpell zu greifen", sagt Andreas Panoussopoulos, Wirbelsäulenspezialist an der Privatklinik Bethanien in Zürich. "In der Regel aber zu Unrecht." Oft bringe ein gezielter Eingriff an den Bandscheiben eben mehr als "hier eine Massage, dort ein Medikament und da ein Kuraufenthalt". Panoussopoulos liebt handfeste Vergleiche: "Wenn ein Auto kaputt ist", sagt er, "sollte man es doch auch reparieren und nicht reinigen."

Unterschiedliche Beschwerden

Doch wie kommt es überhaupt zu einem Bandscheibenvorfall? Zwischen den 23 Wirbelkörpern der menschlichen Wirbelsäule liegen Bandscheiben, eine Art Stützkissen. Sie bestehen aus einem gallertartigen Kern, der von einem härteren, faserigen Ring umgeben ist. Durch Alter und Abnutzung wandelt sich der Gallertkern mit der Zeit in festes Bindegewebe um, und der Ring wird brüchig. Wölbt sich der Kern nun nach hinten und durchbricht die Umhüllung, so kann sein knorpeliges Gewebe auf Nerven im Spinalkanal drücken und Schmerzen sowie Lähmungen auslösen.

Das Seltsame: Reihenuntersuchungen haben ergeben, dass sich manche Menschen trotz schwerer Bandscheibenschäden pudelwohl fühlen, während andere mit vergleichbarem Befund unter solchen Qualen leiden, dass sie diese ständig mit Schmerzmitteln zu betäuben suchen. Um die Gründe dafür zu finden, haben Wissenschafter aus der Schweiz unlängst 46 Männer und Frauen über mehrere Jahre begleitet: Bei der ersten Befragung klagte keine der Testpersonen über Rückenschmerzen, obwohl Untersuchungen im Kernspintomografen zeigten, dass drei Viertel von ihnen einen Bandscheibenschaden hatten.

Körper und Psyche

Nach fünf Jahren wurden sie erneut interviewt, 59 Prozent gaben an, beschwerdefrei zu sein. Der Zustand der Puffer zwischen den Wirbelkörpern spielt also nicht immer die Hauptrolle bei Rückenschmerzen. Die Forscher stießen auf einen anderen Faktor: Je unzufriedener sich Testpersonen am Arbeitsplatz fühlten, desto wahrscheinlicher war es, dass ihr Rücken zu schmerzen begann. Offensichtlich beeinflusst die Psyche den Körper bei Rückenleiden.

Wenn es zu Lähmungserscheinungen in den Extremitäten kommt oder Patienten Blase und Darm nicht mehr kontrollieren können, müssen Bandscheibenleiden operiert werden, sind sich die Experten einig. In allen anderen Fällen aber sollte man sich diesen Schritt gut überlegen. "Bei drei bis fünf Prozent kann es zu einer Narbenbildung kommen, und die Beschwerden können stärker werden", so Raabe. Bei neun von zehn Vorfällen sei keine Operation nötig, betont Raabe. Oft verschwinden die Beschwerden nach drei bis sechs Wochen von alleine wieder. Physiotherapie, Krafttraining, Entspannungsübungen und allenfalls Schmerzmitteln helfen.

Unlängst zeigte eine Vergleichsstudie mit 1244 Bandscheibenpatienten - die bisher umfangreichste Untersuchung zum Thema weltweit - einmal mehr, dass es operierten Patienten mittelfristig nicht besser geht. Solche Untersuchungen betrachten allerdings einen Zeitraum von mehreren Jahren, während deren sich die Resultate angleichen, gibt der Zürcher Chirurg Panoussopoulos zu bedenken: "Und bereits Wochen oder Monate können für Schmerzpatienten sehr lang sein." Schon daher habe er großes Verständnis, wenn ein Patient - in der Hoffnung auf Verbesserungen - möglichst bald operiert werden will.

OP nicht zu lange hinauszögern

Man sollte die OP nicht zu lange hinauszögern. "Der beste Zeitpunkt ist sechs bis zwölf Wochen nach Beginn der Schmerzen", so Raabe. "Danach steigt die Gefahr, dass die Schmerzen chronisch werden." Grund dafür ist das Schmerzgedächtnis: Die Schmerzempfindung, die von den Nerven ans Gehirn geleitet wird, ist bei Bandscheibenleiden nach etwa drei Monaten gleichsam "gelernt" - und kann weiter bestehen, selbst wenn der ursprüngliche Auslöser dafür weitgehend beseitigt wurde. "Aus meiner Sicht besteht das Hauptproblem aber darin, dass viele Chirurgen diese Zeitfenster von bis zu zwölf Wochen vor einer OP nicht optimal ausschöpfen", sagt Raabe.

Noch immer rätseln die Wissenschafter, warum viele Patienten Symptome beschreiben, die nicht zu den Röntgenbildern oder Kernspinaufnahmen ihrer Wirbelsäule zu passen scheinen. Neben psychischem Stress sind ziemlich sicher auch verkümmerte Muskeln ein erheblicher Risikofaktor. Der Hauptgrund für Rückenschmerzen scheint letztlich zu wenig Bewegung zu sein. Evolutionsforscher haben errechnet, dass der Homo sapiens von seinem Körperbau her jeden Tag etwa 30 Kilometer rennen müsste - und nicht wie der moderne Durchschnittsmitteleuropäer die meiste Zeit des Tages über herumsitzen.

An der Berliner Universitätsklinik Charité konnten Mediziner in einem Experiment nachweisen, wie stark mangelnde Fitness die Anfälligkeit für Rückenschmerzen erhöht: Neun gesunde Männer wurden für zwei Monate ins Bett gesteckt. Nach den acht Wochen waren die Muskelstränge der Testpersonen, die die untere Wirbelsäule stützen, verkümmert - und fünf der neun Männer klagten über Rückenschmerzen. Auffallend: Gerade bei diesen Testpersonen hatten sich die Muskeln besonders stark zurückgebildet.

Individuelle Programme

Sanfter Sport und Bewegung können nachweislich auch Patienten Linderung bringen, die von starken Rückenbeschwerden geplagt werden: Forscher der Schulthess-Klinik in Zürich haben 120 Männer und Frauen untersucht, die nicht mehr arbeitsfähig waren. Die Wissenschafter wollten herausfinden, was am besten hilft: Physiotherapie? Krafttraining? Oder Aerobic? In allen drei Gruppen hatten die Probanden bereits nach wenigen Wochen Training deutliche weniger Schmerzen. Und der positive Effekt war auch noch ein Jahr nach Abschluss der Studie spürbar. Verblüffend: Aerobic und Krafttraining schnitten sogar noch besser ab als Physiotherapie.

Egal, ob operiert oder nicht: "Wichtig ist, dass Bandscheibenpatienten Rücken- und Bauchmuskeln so trainieren, dass sie die Wirbelsäule stützen", bringt es Panoussopoulos auf den Punkt. Immer deutlicher wird, dass sich Rückenweh nur individuell in den Griff kriegen lässt. Manchen hilft die Feldenkrais-Methode oder ein Chiropraktiker, andere legen sich unters Messer und sind danach schmerzfrei.

Einige schwärmen von positiven Effekten durch Rückenschwimmen, Pilates, Aerobic oder Qigong - oder auch Akupunktur und Osteopathie. "Von komplementärmedizinischen Methoden rate ich nicht ab", sagt Raabe. "Aber mir ist keine Studie bekannt, die die Wirksamkeit etwa der Osteopathie systematisch nachweisen konnte." Deshalb sei diese Methode auch keine Standardtherapie. "In einigen Fällen hilft sie wohl schon", ergänzt Panoussopoulos. Ganz ähnlich also wie eine Bandscheibenoperation. (Till Hein, DER STANDARD, 17.12.2013)