Kommenden Mittwoch hat mit "Die Krönung Richards III." ein Dramenungetüm von Hans Henny Jahnn Burg-Premiere. Regisseur Frank Castorf (Bild) arbeitet u. a. mit Sophie Rois und Martin Wuttke.

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STANDARD: Jahnns "Krönung Richards III." ist ein vor Vitalität platzendes Drama. Welche Anforderungen muss ein Stück erfüllen, um Ihr Interesse zu wecken?

Castorf: Mein Interesse an Jahnn ist biologistisch - der tiefe Griff an die Hoden. Sachen, die man kennt, werden so weit in Umdrehung versetzt, dass sie am Ende das Gegenteil ihrer selbst sind. Das ist ein Paradoxon, das mir in unserer gegenwärtigen Literatur fehlt. Denken Sie an Balzac in seiner Uferlosigkeit des Schreibens. Marx mochte an ihm das Dekuvrieren der kapitalistischen Finanzverhältnisse. Auf der anderen Seite partizipierte Balzac am meisten an der neuen Finanzaristokratie. Geheimagent gegen die Interessen der eigenen Klasse, gleichzeitig ist man Partizipateur, der nichts mehr liebt als Luxus.

STANDARD: Sie interessieren sich für die kolossalen Widersprüche singulärer Autorenfiguren?

Castorf: Das kann auch ein Orthodoxer sein, der das Dritte Rom wollte. Ich meine Dostojewski. Das gilt für ihn, Rilke oder Hans Henny Jahnn. Da lautet kein Satz: "Der Tisch steht da, und jetzt sind die Aschenbecher abgeräumt."

STANDARD: Autoren wie Jahnn erfüllen keine Erwartungen?

Castorf: Die Mutter nahm Jahnn (1894-1959) an das Grab des verstorbenen Bruders mit und sagte: "Den hab' ich geliebt." Jahnn hatte das Gefühl, nur die Hülle zu sein für den Geist seines toten Bruders. Er lebte mit dem Bruch in sich selbst. Ihm hätte nur eines geholfen: grenzenloser Erfolg in dieser Gesellschaft, die er verachtete. Etwas bricht auf in dieser Persönlichkeit, und er weiß nicht mehr: Bin ich ein Junge, bin ich ein Mädchen? Es ist die damals verpönte Homosexualität, die sich bei ihm Bahn bricht. In der Literatur wird jede Form sexueller Übertretung bestraft durch die Peitsche, das ist fast wie bei den Wiener Aktionisten. Die Sehnsucht bleibt bei Jahnn, und sie hat etwas Walhallmäßiges, sie gilt den norwegischen Fjorden.

STANDARD: Wie kommt Jahnn zu Richard III.?

Castorf: Er schreibt dieses monströse Werk, das die gleiche Vorlage bemüht wie Shakespeare. Bei dem wird Richard mit der Siegerjustiz bestraft, als Monstrum. Richard ist bei Shakespeare ja fast König Ubu. Er hinkt, hat einen Buckel, was ja nicht stimmt. Bei seinem Tod hat er nicht das Pferd gesucht, sondern sprach die Worte: "Verrat! Verrat! Verrat!" Es geht nicht um historische Wahrheiten, sondern um biologische Behauptungen. Das Stück schneidet die Hoden ab. Im Vorhof des Todes ist ein Moment ungeheurer Lustentfaltung und Erkenntnis. Solche paradoxalen, anthropologischen Sachen interessieren mich.

STANDARD: König Richard wägt jeden Gedanken fünf, sechs Mal ab und dringt dann zu einem Handeln vor, mit dem er sich selbst in Erstaunen versetzt. Das trieb zur selben Zeit auch die Surrealisten um.

Castorf: Natürlich gibt es diese Nähe. Die Uraufführung war 1923. Da kommt einem das Theater der Grausamkeit bei Antonin Artaud in den Sinn, auch George Bataille. Das Blutopfer für die Sonne bei den Azteken. Die Idee, dass man etwas von sich hergeben muss, und das Größte, was wir opfern können, ist das eigene Leben. Wir, die wir mit der Schmerztablette aufgewachsen sind, können uns nicht vorstellen, dass es so etwas Transzendentales wie das Selbstopfer gibt. Jahnn ist eine Art Vorläufer dieser Denker. Da herrscht eine merkwürdig strahlkräftige schwarze Sonne, die alles andere überschattet im Moment der Selbstauflösung.

STANDARD: Es gibt fast nur "defekte" Männer in dem Stück ...

Castorf: Die Frage "Was bin ich eigentlich?" wird bei Jahnn zum Antrieb des Schreibens. Bei jeder Form der Onanie geht es darum, sich selbst zu bestrafen. Es wird von ihm pedantisch darüber Buch geführt. Auf der anderen Seite gibt es diese überbordende Form von Irrationalität, die von der Emotion, der Seele, dem "Anderen" herrührt. Man muss Zeit investieren. Man muss lesen. Darum werden die Abende auch immer lange bei mir. Wie man bei Dostojewski auch eine Woche braucht, um 1000 Seiten zu lesen.

STANDARD: Wie lange wird's?

Castorf: Zu lange. In Paris sagten Sie mir immer: "Aber die letzte Metro ...!" Hier heißt es jetzt: "Aber 23 Uhr ...?" Jetzt herrscht Krise am Haus. Ich dachte, ich bin hier im Land der Seligen.

STANDARD: Sie als dienstalter Intendant der Berliner Volksbühne blicken wissend auf solche Probleme?

Castorf: Theater ist immer ein höfischer Betrieb. Der hat einen Kaiser oder einen Fürsten an der Spitze. Für fünf Jahre, das ist dann die Demokratie. Da kann man doch machen, was man will!? Ich habe immer allen Beschäftigten gesagt: Wenn du bei mir arbeiten willst, musst du Leidenschaft mitbringen, die kann ich nicht in klingende Münze umsetzen. Das war mein Grundansatz, damit sind wir finanziell immer gut hingekommen. Aber der Zustand hier in Wien ist königlich, sehr besonders im ganzen deutschsprachigen Raum. Deshalb bin ich verwundert über dieses Aufbrechen von "investigativem Journalismus".

STANDARD: Haben Sie sich immer für die Buchhaltung der Volksbühne interessiert?

Castorf: Zahlen werden überall manipuliert. Bei den großen Bankhäusern in Dimensionen, dass man denkt, da müsste etwas getan werden. Es wird aber nichts getan. Und dann ausgerechnet am Theater sein Mütchen zu kühlen ... Das wäre ein große Geste, wenn Österreich noch so operettenstaatlich wäre zu sagen: Natürlich, wir leisten uns den Luxus an der Burg, an der Staatsoper! Ist doch schon Deutschland so kleinkariert, so amerikanisch. Bei einer Abstimmung wie der des Ensembles hier am Burgtheater würde ich sagen: Ich habe hier Hausrecht! Ihr könnt das gerne auf der Straße machen! Ich würde da sehr stalinistisch werden, ohne Anflug von Demokratie. Und wenn dann mein Freund sich zur Burg äußert, der Strickjackenträger aus München ...

STANDARD: Exintendant Frank Baumbauer zur Causa Hartmann?

Castorf: Es ist das Besserwisserische. Baumbauer sagt: "Intendant ist ein Beruf!" Stellen Sie sich vor, Peter Zadek, Doppelpunkt: "Intendant ist ein Beruf!" Das waren Monomanen, und das war das Großartige des Theateraufbruchs in den 1960er-, 70er-Jahren. Was diese Leute für die Sozialhygiene der Gesellschaft geleistet haben. Das war die Maßlosigkeit. Jetzt kommen die Erbsenzähler. "Beruf". Mag ja alles sein. Aber diese Rechtschaffenheit, hinter der die Lüge sichtbar wird ... Da interessieren mich die Hoden bei Hans Henny Jahnn mehr.

STANDARD: Die 8,3 Millionen Euro Unterdeckung muss die öffentliche Hand zahlen?

Castorf: Ja, muss sie. Ich hab' kein Mitleid mit der öffentlichen Hand. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 8.3.2014)