Präsident Abdullah Gül inmitten der Rätselwelt Türkei.

Foto: Privat

"Dritte Welt" ist wohl kein allzu charmanter Vergleich für ein Land, das in den vergangenen Jahren so viel Energie auf seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Afrika verwandt hat. Doch die jüngste Einlassung des türkischen Präsidenten Abdullah Gül, wonach die unentwegte Rhetorik des Regierungschefs von der "ausländischen Verschwörung" passend für ein Land der "Dritten Welt" sei, aber nicht für die aufstrebende Türkei, war auch ein Statement in eigener Sache.

Gül war überrascht von der Kritik im In- und Ausland an seiner Person, nachdem er die Gesetze zur Entmachtung des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) und zur Verschärfung der Internetzensur unterschrieben hatte. Beide dienen der Regierung Erdogan zur Niederschlagung von Korruptionsermittlungen und dem Stopp kompromittierender Dokumente, die derzeit täglich im Internet verbreitet werden.

Der Präsident der türkischen Telekom-Aufsicht gab an, seine Behörde brauche noch bis Mai, um technisch in der Lage zu sein, diese Form der Internetkontrolle durchzuführen. Seit Freitag Mitternacht ist Twitter in der Türkei aber geschlossen - zeitweise zumindest, so die Erwartung (und den neuen rechtlichen Bestimmungen folgend, s.u.)

Bei einer Reise nach Dänemark diese Woche sah Gül wohl eine Gelegenheit, sein angeschlagenes Image als moderate Kraft an der Spitze des Staates zurechtzurücken. Die Bemerkung über Tayyip Erdogans Komplotttheorien, nachgebetet von seinen Parteichargen und geglaubt von seinen Anhängern, machte Gül ohne viel Protokoll mitreisenden türkischen Journalisten gegenüber.

Verteidigungsrede

Gül hatte bereits nach der Unterschrift unter die auch von der EU kritisierten Gesetze Chefredakteure und bekannte Kolumnisten türkischer Zeitungen eingeladen, um sich zu erklären. Aber dabei machte er nur alles schlimmer: Hätte er ein Veto eingelegt, hätte die Regierungsmehrheit im Parlament die Gesetze zum Justizumbau und zur Internetzensur einfach ein zweites Mal angenommen und ihm zur Unterschrift zurückgeschickt, so verteidigte sich Gül. So habe er Veränderungen an den Gesetzen erreicht, die dann nachträglich (!) wie verabredet vom Justizminister aufgeschrieben und von den AKP-Parlamentariern abgenickt wurden.

Beide Gesetze würden nach Inkrafttreten ohnehin von der Opposition beim Verfassungsgericht angefochten werden, erklärte Gül noch. Das ließ ihn als Präsidenten schwach aussehen, und seine Argumentation wenig zwingend. Denn weshalb schickt ein Staatspräsident ein Gesetz nicht zurück ans Parlament, wenn er schwer wiegende Bedenken hat - Gül sprach von 15 Punkten im Justizgesetz, die ihm nicht vereinbar mit der türkischen Verfassung erschienen?

Gül hatte im Juni 2013 schon ein anderes Gesetz unterzeichnet, das einen Teil der türkischen Gesellschaft aufbrachte, aber im Vergleich zur neuen Internetzensur und zur Verletzung der demokratischen Gewaltenteilung (der Justizminister hat nun weitgehende Kontrolle über den HSYK, das Selbstverwaltungsorgan der Judikative) harmlos wirkt: das Verkaufsverbot für Alkohol in Läden zwischen 22 Uhr und 6 Uhr sowie das Verbot, Alkohol im Umkreis von Moscheen und Schulen zu verkaufen. Da die Türkei bisher nicht als Land mit hohem Alkoholkonsum aufgefallen war, erschien das Gesetz einem Teil der Türken als Eingriff einer konservativ-religiösen Regierung in das Privatleben ihrer Bürger.

"Klug und fruchtbar"

Güls Pressemann im Präsidialamt, Yusuf Muftuoglu, hat nun eine Aufstellung der inhaltlichen Änderungen gemacht, die der Staatschef vergangenen Februar beim Internet- und Justizgesetz durch eine "kluge und fruchtbare Diplomatie" mit Regierung und Parlament erreicht habe. Ohne genaue Kenntnis der ursprünglichen Gesetzesentwürfe und der tatsächlich stattgefundenen Verhandlungen sind Güls erzielte Veränderungen in den beiden Texten schwer zu beurteilen. Sie lassen zumindest die Schwere der rechtlichen Eingriffe in den Justizapparat und in die Benutzung des Internets in der Türkei erkennen, sowie die Hast, mit der die Regierung bei der Gesetzesabfassung offenbar vorangegangen war.

Muftuoglu betont vier Punkte, die Gül im Internetgesetz verändern konnte - der Präsident unterzeichnete das ursprüngliche Gesetz, gegen das er Einwände hatte, am 18. Februar und die abgesprochene, revidierte Fassung zehn Tage später.

Gül hat demnach erreicht, dass die türkische Telekom-Aufsicht TIB nach der Sperrung einer Webseite innerhalb von 24 Stunden eine richterliche Entscheidung beantragen muss. In der ersten Version des Internetgesetzes sei diese Notwendigkeit nicht enthalten gewesen.

Ein spezialisiertes Gericht wird diese Fälle untersuchen. Das Präsidialamt ist der Ansicht, dass ein solches Gericht qualifiziertere Urteile über den Inhalt und die mögliche Gefährdung der türkischen Gesellschaft durch den Inhalt einer Webseite trifft als normale Richter...

Der dritte Punkt betrifft die Anweisung an den Internetprovider der Telekom-Behörde, die Browserdaten eines Benutzers zu Verfügung zu stellen. Auch in diesem Punkt habe der Präsident erreicht, dass dafür eine richterliche Anordnung nötig ist. Der Internetprovider muss schließlich nicht mehr so detaillierte (!) Informationen weitergeben, wie im ersten Gesetz verlangt.

Rettungsversuch für Justiz 

Noch sehr viel umfangreicher sollen die Veränderungen im Gesetz zur Neuorganisation des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) gewesen sein. Gül habe darüber mehrfach Gespräche mit Justizminister Bekir Bozdag und Regierungschef Erdogan geführt, gibt Muftuoglu an.

Am Ende seien zum Beispiel Kompetenzen, die dem Justizminister im ersten Gesetz über den HSYK gegeben worden waren, auf die Erste Kammer des Rats übertragen worden. Dies beträfe die Wahl der Vorsitzenden der Kammer durch die Generalversammlung des HSYK oder die Nominierung von Inspektoren. Der Justizminister könne auch nicht mehr, wie zuerst beschlossen, Untersuchungsrichter und Inspektoren aus dem HSYK auf eigenen Beschluss hin abziehen. Ebenso habe der Minister wieder das Recht verloren, selbst Verordnungen für den HSYK zu erlassen. Er könne auch nicht mehr, wie zunächst vorgesehen, Mitglieder des Rats zwischen den drei Kammern hin- und herschieben.

Entscheiden wird über beide Gesetze noch das türkische Verfassungsgericht. Justitzminister Bozdag nutzte die Zeit bis zum Urteilsspruch bereits und tauschte an die 300 Mitglieder des HSYK aus.

Was Abdullah Gül angeht, so gilt er nun als der wahrscheinliche Kandidat für die eigene Nachfolge bei den Präsidentenwahlen im August. Regierungschef Erdogan dürfte auf seinen Plan, ins Präsidentenamt zu wechseln, verzichten. Nur ein haushoher Sieg seiner Partei bei den Kommunalwahlen am 30. März gilt noch als "game changer". (Markus Bernath, derStandard.at, 21.3.2014)