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Die Schemel aus Chinas Landwirtschaft ergeben ein Erinnerungsbild. Die traditionelle Gesellschaft fällt den Umbrüchen zum Opfer. Ai Weiwei: "Stools". 

Foto: EPA/KAYÜNIETFELD

Berlin - Man muss wohl von diplomatischer Ironie der Geschichte sprechen: Vor ein paar Tagen erst war der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Deutschland. Man beschwor die guten wirtschaftlichen Verbindungen, der Unterschied der gesellschaftlichen Systeme wurde bewusst zur Nebensache erklärt. Nun eröffnet in der deutschen Hauptstadt eine große Ausstellung des vielleicht bekanntesten chinesischen Künstlers: Ai Weiwei. Er ist zugleich einer der bekanntesten Kritiker der einseitigen chinesischen Modernisierung. Die Reise nach Berlin wurde ihm verwehrt. Die Behörden ließen ihn nicht ausreisen. Es wäre nicht weniger als ein Gegenstaatsbesuch geworden. Dazu durfte es nicht kommen.

Die Auseinandersetzung, die Ai Weiwei mit dem System führt, das in China die Macht innehat, durchzieht die gesamte Ausstellung. Sie geht allerdings über die Herrschaft der kommunistischen Partei hinaus. Dahinter wird eine prinzipiellere Konstellation erkennbar, die im Werk von Ai Weiwei immer schon deutlich war: Es geht ihm um das Wesen von Modernisierung als solcher; der Kommunismus ist nur ein Spezialfall.

Eine der für ihn typischen monumentalen Installationen im Lichthof des Gropiusbaus setzt gleich ein deutliches Zeichen. Gut 6000 Schemel stehen da dicht gedrängt, sie ergeben in Summe eine zugleich monotone und komplexe Struktur. Vom Format her ist das eine Arbeit in der Klasse der Sunflower Seeds, mit denen Ai Weiwei 2010/2011 eine riesige Fläche der Tate Modern bedecken ließ. Was dort die handbemalten Porzellanskulpturen waren, sind hier alte Holzhocker, die für die Arbeit gesammelt wurden; sie wären andernfalls vermutlich weggeworfen worden. Sie sind aber eben auch Teile eines Inventars, das traditionelle chinesische Familien umgab.

Bei der Biennale in Venedig hatte Ai Weiwei sie im Vorjahr noch zu einer Hängeskulptur arrangiert (im Gropiusbau hängen nun Fahrräder), in Berlin ergeben sie eine menschenleere Fläche, die man nicht betreten darf. Bei allen denkbaren Lesarten zeigt auch Stools (so der offizielle Werkname), dass es Ai Weiwei selten um Komplexität geht. Vielmehr gewinnt man gerade bei einem weitläufigen Durchgang durch sein Werk, den man im Gropiusbau unternehmen kann, den Eindruck, dass die zeithistorischen Umstände ihn dazu genötigt haben, sich immer wieder fast paradigmatisch einfach zu äußern. Das bedeutet konkret, dass viele seiner Arbeiten auf die elementaren Bedingungen und Gesten der künstlerischen Moderne zurückkommen, um sie gegen die entfesselte ökonomische Moderne der chinesischen Varianten der Globalisierung zu halten.

Nachbau der Zelle

Eine der gewichtigsten Skulpturen in Berlin trägt den Titel 81 und besteht aus einem Nachbau jener Zelle, in der er nach seiner Inhaftierung wegen eines angeblichen Steuerdelikts für 81 Tage in Einzelhaft gehalten wurde. Die originalgetreuen Proportionen lassen die Situation des Gefangenen nachvollziehbar werden, zugleich verweist die Arbeit mit dem patinierten Waschbecken und der in den Museumsraum führenden Lüftung auf all die Paradoxien zwischen Readymade und Fake, mit denen sich die Kunst im Umgang mit der Realität herumschlägt.

Eines der klügsten Manöver ist in diesem Zusammenhang der Titel, den Ai Weiwei für Berlin gewählt hat: Evidence, also Beweis. Das deutet zuerst einmal auf ein dokumentarisches Interesse hin, das auch allenthalben sichtbar wird - in vielstündigen Videos zum Beispiel, in denen Ai Weiwei minutiös den epochalen Umbau von Beijing nachvollziehbar zu machen versuchte, aber auch in dem umfangreichen Werkkomplex, der aus dem Erdbeben in Sichuan 2008 erwachsen ist. Die Stahlträger aus fahrlässig gebauten Schulen, in denen viele Kinder ums Leben kamen, werden für ihn zu skulpturalen Objekten - eine höchst ambivalente Geste der Ehrerbietung, des Erinnerns und der Kritik an korrupten Bauherrn.

Zu der enormen internationalen Erfolgsgeschichte von Ai Weiwei trägt sicher auch bei, dass er selbst sich zu einer so angreifbaren Figur gemacht hat, zu einem "Trottel" (Dumbass), wie es in einem Video heißt. Er spielt einen Trottel, der die Aggression des Systems auf sich zieht, was ihm im Gegenzug mit den Sympathien der weltweiten Zivilgesellschaft vergolten wird. So verlässt man den Gropiusbau mit mulmigem Gefühl. Was Ai Weiwei macht, hat tendenziell den Charakter von Gegenstaatskunst.

Er bleibt mit seinen subversiven Aktionen an das Regime gekettet, das ihn jederzeit wieder in eine Einzelzelle stecken kann. Die zentrale Idee der künstlerischen Moderne - radikale Autonomie von allen Vorgaben, die nicht die eigenen sind - erweist sich unter den Bedingungen des modernen China als nicht realisierbar. So könnte diese wuchtige, im Detail aber auch immer wieder subtile Schau zu einem Sammelpunkt für Menschen werden, die sich mit diplomatischen und anderen Ironien nicht aufhalten wollen, sondern eindeutige Zeichen sehen wollen. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 3.4.2014)