Unter den EU-Außenministern kursieren zwei Denkschulen dazu, wie Wladimir Putin seine Politik zur Ukraine angelegt habe.

Die einen sagen, der russische Präsident folge einer von Anfang an klar durchdachten Strategie. Schritt für Schritt verfolge er sein Ziel, die ehemalige Sowjetrepublik zu destabilisieren, mit Gewalt zu brechen, um sie letztlich ganz in seinen politischen und wirtschaftlichen Einflussbereich, die eurasiatische Wirtschaftsunion, zu ziehen. Die Annexion der Krim Ende März sei daher erst nur der Auftakt zum Vormarsch gewesen. Moskau denke nicht daran, eine eigenständige unabhängige Ukraine zu akzeptieren.

Die anderen sagen, Putins Vorgehen sei weniger geplant als von den harten Gegnern des Kreml-Chefs im Westen vermutet. Der Präsident sei selber von den Aufständen und dann von der Flucht des Präsidenten Wiktor Janukowitsch überrascht worden, die die rasche Bildung einer Übergangsregierung ermöglicht habe. Daher handle er nun "situativ", reagiere vielmehr auf die laufenden Ereignisse, als dass er das Ende kenne. Er "teste" den Westen, da müsse man mit Gespräch ansetzen.

Der ersten Anschauung neigen die Briten und auch der französische Außenminister Laurent Fabius zu, der zweiten dessen deutscher Kollege Frank-Walter Steinmeier. Weniger laut wird in Brüssel und in den Hauptstädten freilich gesagt, wie ratlos man eigentlich sei, was mit Putin zu tun sei. "Es wird Sie vielleicht erstaunen, das von einem Außenminister zu hören, aber ich kann es Ihnen auch nicht sagen", bekannte ein Chefdiplomat vor kurzem.

Die Unmöglichkeit oder Unfähigkeit zu einer klaren Antwort auf diese Grundsituation erklärt aber, warum sich die EU und die Partner der transatlantischen Allianz so schwer tun, über ein Vorgehen zu entscheiden. Seit Monaten ist viel von "Sanktionen" gegen Russland, sogar von "harten Wirtschaftssanktionen" die Rede. Aber so einfach ist das nicht. Klar ist nur, dass man geeint auftreten will. Nach einer Einigung der G-7-Staaten haben die EU-Staaten am Montag in Brüssel eine Ausweitung ihrer "politischen Sanktionen" gegen Verantwortliche an der Eskalation der Gewalt in der Ukraine beschlossen: Gegen fünfzehn weitere Personen aus Russland werden Konto- und Einreisesperren verhängt. Genau solche Schritte hatte man bisher schon gegen 33 Politiker und Militärs aus der Ukraine und Russland verhängt. An weiteren Ausschreitungen in der Ostukraine hat dies aber nichts geändert, im Gegenteil.

Kein Ende der Eskalation

Die Festsetzung von OSZE-Beobachtern durch prorussische Separatisten sind eher der Hinweis, dass die Genfer Beschlüsse auf Entwaffnung und Ende der Gewalt nicht wirken. Genau darauf, auf diplomatischen Erfolg, hatten die Europäer mit Steinmeier bisher gesetzt.

Die USA gingen bei Sanktionen den Europäern immer einen kleinen Schritt voran. Am Montag kündigte das Weiße Haus an, dass es Sanktionen gegen den Chef des russischen Ölkonzerns Rosneft, Igor Setschin, und weitere sechs Regierungsvertreter gebe sowie gegen 17 Firmen, die in einem Naheverhältnis zu Putin stehen.

Echte "harte" Wirtschaftssanktionen der EU, die die Wirtschaft in Russland empfindlich treffen, wird es nach inoffizieller Einschätzung in der EU-Kommission vermutlich auch so bald nicht geben (auch wenn diese Auftrag hat, solche zu planen): "Niemand wird wegen der Ukraine einen Krieg beginnen" - was militärisch für die Nato gelte, das gelte realistischerweise wirtschaftlich auch für die Union, sagt ein Insider. Denn der Schaden für die Union selber wäre enorm. Die Ukraine sei kein stabiles Land, von Oligarchen dominiert, die Interessen zersplittert, dafür finde man keine einfache Antwort. Auch seien Interessen in Bezug auf Russland in den EU-Staaten sehr verschieden. Frankreich riskiert den Verlust großer Rüstungsgeschäfte, andere seien im Energiesektor stark verletzbar. Bisher ist völlig unklar, wie Folgekosten von Sanktionen EU-intern verteilt werden. So tastet man sich voran: "situativ", anlassbezogen.

Eine große Strategie, wie man mit der Ukraine umgeht, sollte sie in bürgerkriegsähnliche Zustände kommen, hatte man in den EU-Hauptstädten auch nicht. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 29.4.2014)