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Tränengas gegen Demonstranten am 1. Mai in Istanbul.

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Polizei löst Kundgebungen mit Gewalt auf.

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Am Tag der Arbeit ist großes Suchspiel. Henrik hält den Plan in der Hand - Istanbul, europäische Seite, Einkaufsstraße Istiklal. Da steht aber jetzt die Polizei, und in allen Seitengassen auch, breitbeinig, den großen Plastikschild mit beiden Händen vor den Körper haltend. Der Tourist aus Rotterdam ist, kaum aus der Hoteltür hinaus, schon am frühen Morgen durch eine Tausendschaft Spalier stehender Uniformierter gelaufen. "Unangenehm", sagt er.

Ein nettes verlängertes Wochenende in Istanbul hätte es werden sollen für Henrik, seine Frau und ein befreundetes Ehepaar. Jetzt sind die Niederländer erst einmal in eine der Machtdemonstrationen des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogan geraten. Nein, schön ist das alles nicht, gibt ein Händler in Beyoglu zu, dem Stadtteil, in dem die lange Istiklal-Straße und der Galataturm liegen. "Aber morgen ist ein anderer Tag."

Das Prinzip Freiheit

Das sehen die Türken, die jedes Jahr am 1. Mai demonstrieren wollen, allerdings ganz anders. Anhänger der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratisch-nationalen CHP, Gewerkschaftsmitglieder, die neue Kurdenpartei HDP, Aktivisten einer ganzen Reihe linksgerichteter Splittergruppen wollen ihre Kundgebung auf dem Taksim-Platz in Istanbul haben. Es geht ums Prinzip, um das Recht auf Versammlungsfreiheit, die Demokratie im Land. Erdogan hat den Taksim-Platz verboten.

Der zunehmend autoritär gewordene Premier ließ eine enorme Fläche am Ufer in Yenikapi aufschütten, 70 Fußballfelder groß, am Marmarameer im Westen Istanbuls. "Versammlungs- und Demonstrationsplatz der Stadt Istanbul" heißt der Ort offiziell. Dort sollen die Leute zum 1. Mai gefälligst hingehen, ordnete Erdogan an. Knapp eine Million Parteianhänger hat der Premier während des Wahlkampfs letzten März für einen Auftritt auf seinen Versammlungsplatz schaffen lassen.

Doch das Volk vom 1. Mai gehorcht nicht. Tränengas zieht wieder durch die Gassen, ein süßlich-verbrannter Geruch für den, der weiter weg ist von den Polizeieinsätzen; und der beißend scharf wird, wo die Gasgranaten explodieren. Bis zum Nachmittag sind bereits mehr als 50 Demonstranten verletzt. Mindestens einer wurde wieder von einer Kartusche am Auge getroffen. Erblindungen sind bei den gewaltsamen Auflösungen von Demonstrationen häufig geworden.

Vor der Zentrale von Disk, des "Verbands der Gewerkschaften der revolutionären Arbeiter", im Stadtteil Sisli, eine halbe Stunde Fußmarsch von Beyoglu über leere, komplett abgeriegelte Boulevards, stimmen sich wenige Hundert Aktivisten mit Sprechgesängen auf die Konfrontation mit der Polizei ein. "Schulter an Schulter gegen den Faschismus", rufen sie. "Soll er doch selbst nach Yenikapi gehen und seine Reden schwingen", sagt Mine, eine 26-Jährige, die sich als Sekretärin vorstellt, über den Regierungschef mit seinem Versammlungsplatz. "Taksim gehört uns. Es ist das Symbol unserer Kämpfe, aber Erdogan will die türkische Republik ändern", sagt die junge Frau.

Man trägt Halstuch und Gasmaske und wartet auf Verstärkung von der asiatischen Seite Istanbuls. Doch die kommt nicht. Der Gouverneur der Stadt hat den Fährverkehr größtenteils stoppen lassen; einen Marsch von Gewerkschaftern über die Bosporusbrücke verhindert die Polizei.

Vorspiel zu Gezi-Protesten

Auch Busse und U-Bahn im europäischen Teil fahren nicht, um nur keine Demonstranten ins Zentrum zu lassen. Die 14-Millionen-Stadt Istanbul hat Hausarrest. Vergangenes Jahr zum 1. Mai war es schon so. Damals ließ der Gouverneur gar die Galata-Brücke über das Goldene Horn hochziehen. Es war das Vorspiel zu den Gezi-Protesten: In der letzten Maiwoche 2013 besetzten Umweltschützer den kleinen Park am Taksim-Platz, den Erdogan für ein Einkaufszentrum plattmachen wollte. Nach der gewaltsamen Räumung strömten zehntausende Istanbuler zum Taksim und zwangen die Polizei zum Rückzug. Elf Tage blieb der Platz besetzt. Eine verheerende Niederlage für den erfolgsgewohnten, seit elf Jahren regierenden Premier.

Hinweise auf Terrorangriffe

40.000 Polizisten und 50 Wasserwerfer hat der Staat dieses Mal aufgeboten, um die Stadt unter Kontrolle zu halten. Es gebe Hinweise auf Terrorangriffe, hieß es. Jahrelang war der Taksim-Platz für Mai-Kundgebungen gesperrt, nachdem 1977 unter immer noch ungeklärten Umständen 38 Menschen von Scharfschützen erschossen worden waren. Als Erdogans konservative Regierung den Platz 2009 wieder freigab, galt dies als Zeichen demokratischer Normalisierung. Mittlerweile haben sich die Zeiten geändert.

"Straßburg hat uns recht gegeben", sagt ein Familienvater in Besiktas, wo die Zusammenstöße bis zum Nachmittag dauern. Er meint damit ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Mai-Kundgebungen auf dem Taksim. Auch wenn eine Demonstration auf einem öffentlichen Platz den Alltag stören könnte, so mahnten die Richter, sei es für den Staat wichtig, Toleranz gegenüber friedlichen Versammlungen zu zeigen, wenn das Demonstrationsrecht nicht ausgehöhlt werden soll. (Markus Bernath, DER STANDARD, 2.5.2014)