In "Alien: Isolation" werden Spieler zu gejagten. Konfrontationen sind tödlich.

Foto: "Alien: Isolation"
Foto: "Everybody's Gone To The Rapture"
Foto: "Routine"
Foto: "Alien: Isolation"
Foto: "The Vanishing of Ethan Carter"

Die 15 besten Minuten erleben Spieler ganz zu Beginn: Atemlos kommt man in "Bioshock Infinite" in der Wolkenstadt Columbia an und flaniert staunend über die sonnendurchfluteten Straßen dieser so unmöglich erscheinenden Stadt im Himmel. Wenige Titel lassen ihre Spieler derart tief in die liebevoll gestaltete Atmosphäre ihrer Fantasiearchitekturen eintauchen wie der letzte Teil der atmosphärisch beeindruckenden "Bioshock"-Reihe, und auch wenn die Unterwasserstadt Rapture der Vorgänger unvergessen bleibt, brennt sich Columbia, die Stadt in den Wolken, in dieser ersten Vieertelstunde eindrücklich ins Gedächtnis der Spieler ein.

Zu schade, dass es mit dieser friedlichen Entdeckungsreise bald vorbei ist: Allzu schnell kippt "Bioshock Infinite" auf fast grotesk-brachiale Weise in sein Genre, das des First-Person-Shooters, zurück, drückt dem Spieler wie immer Schusswaffen in die Hand und begnügt sich in den folgenden Spielstunden damit, die Umgebung zum Schauplatz generischer Schießereien zu degradieren. Schade eigentlich, dass man nicht mehr Zeit hat, um diese so liebevoll gestaltete Welt zu würdigen - doch Gameplay muss sein. Oder?

Eine Binsenweisheit

Steve Gaynor vom Indie-Studio Fullbright Company widerspricht dieser Binsenweisheit. Sein First-Person-Exploration-Spiel "Gone Home" hat letztes Jahr den Beweis angetreten, dass Ich-Perspektive und WASD-Steuerung nicht nur für Shooter, sondern auch für langsame, narrativ innovative Coming-of-Age-Geschichten taugen. Statt mit Gegnern oder Puzzles ist der Spieler hier mit dem Zusammensetzen der in Hinweisen im verlassenen Haus der Eltern verstreuten Familiengeschichte beschäftigt - ein knapp zweistündiges Experiment im Erzählen, das von Kritik und Publikum äußerst positiv aufgenommen wurde. In der Erweiterung "Minerva's Den" für "Bioshock 2" hatte Gaynor diesen narrativen Ansatz noch im Shooter-Kleid erstmals ausprobiert - für die bittersüße Familiengeschichte "Gone Home" verzichtete man dann konsequenterweise ganz auf Gegner und Schusswechsel.

Gemeinsam mit Dan Pinchbecks melancholischem "Dear Esther", das seine Spieler zum Spazierengehen auf eine verlassene schottische Insel versetzt, und David Wredens genialem erzählerischen Experiment "The Stanley Parable" beweist der Erfolg von Spielen wie "Gone Home", dass das zahlende Spielerpublikum durchaus bereit ist, die Schießgeräte einmal beiseite zu legen und sich ganz auf die gewaltlose Erforschung einer virtuellen Umgebung als zentrales Spielelement eines First-Person-Spieles einzulassen. Auch das musikalische Experiment "Proteus", das abgedrehte Pulp-Thrillerchen "Jazzpunk" und aktuelle Titel wie "Dream" sowie "Ether One" verzichten auf Gegner, Waffen und Kämpfe - und somit auf klassisches Gameplay. First-Person-Spiele, in denen das friedliche Erleben der Spielewelt im Zentrum steht, sind im Trend.

Absehbarer Widerstand

Dass sich bei so viel Reduktion auch Widerstand regt, ist in traditionell konservativen Spielerkreisen kein Wunder: Regelmäßig wird in Foren kritisiert, dass die atmosphärischen Titel mit dem Fokus auf "reinem" Erforschen mangels Gameplay gar keine Spiele mehr seien - der Spottbegriff vom "Walking Simulator" wird von den Machern der so geschmähten Spiele allerdings mit Humor gesehen. Ed Key, Schöpfer von "Proteus", nimmt es gelassen: "Vielleicht ist der Begriff ja sogar ganz hilfreich, um diese Art von Spielen mit minimaler Interaktion und Fokus auf Erforschung zu benennen. Man konzentriert sich immer auf das negative Feedback, aber im Endeffekt haben wir viel mehr positive Rückmeldungen von Spielern für 'Proteus' bekommen."

Dan Pinchbeck, der mit seinem Studio The Chinese Room gerade PS4-exklusiv an seinem ebenfalls ohne Waffen auskommenden Games-Experiment "Everybody's Gone To The Rapture" arbeitet, ergänzt: "Das Wichtigste ist es für mich, den Spielern das Gefühl zu vermitteln, dass sie in dieser virtuellen Welt sind. Es geht uns nicht um mechanische Interaktion des Spielers mit dem Spiel, sondern um emotionale." Die mechanische Interaktion zurückzufahren und in ruhigen Momenten ohne Gameplay - sprich: Gegner, Kämpfe oder Rätsel - die Atmosphäre zur Hauptattraktion zu machen, muss natürlich nicht bedeuten, dass es gar keine Herausforderungen gibt. Das können mal simplere, mal kniffligere Rätsel sein, wie im aktuellen "Ether One", oder aber schlicht die Aufgabe, in einer unwirtlichen Umgebung nicht zu erfrieren, wie im sich in Entwicklung befindlichen "Into This Wylde Abyss".

Virtueller Horror

Mit dem erwartbaren Aufstieg neuer Virtual-Reality-Systeme wie des Oculus Rift steht dem First-Person-Titeln bald ohnedies ein größerer Paradigmenwechsel ins Haus, denn mit den virtuellen Rundumwelten in 3D bekommt das Eintauchen in - gern auch weniger martialische - Spielewelten völlig neue Bedeutung. Wer schon Gelegenheit hatte, mit dem VR-Helm die schöne neue Welt des Spielens zu betreten, wird nachvollziehen können, dass hier schon die reine Bewegung ein faszinierendes Erlebnis ist - ganz ohne die ansonsten nur so schwer wegzudenkenden Schießeisen. Da ist es nur konsequent, dass viele der atmosphärischen Titel wie das zuvor erwähnte Independent-Projekt "Dream" bereits jetzt für das VR-Headset mitentwickelt werden.

Und noch ein weiteres erfolgreiches Subgenre lässt vermuten, dass mehr First-Person-Spiele in Zukunft auf Schusswechsel als zentrales Gameplay-Element verzichten könnten: Wenn nämlich die in den letzten Jahren dank des Indie-Phänomens "Slender" populär gewordenen Horrorspiele auf die neue Welt des Virtual-Reality-Gamings treffen, werden sich Spieler wohl viel häufiger mit Gänsehaut verstecken, als wie bislang meist die Waffen sprechen zu lassen. Aber auch ohne Helm werden Titel wie "The Vanishing of Ethan Carter", "Routine" und nicht zuletzt der Herbstblockbuster "Alien: Isolation" den Trend fortsetzen.

Keine Angst vor Pazifisten

Freunde actiongeladener Shooter brauchen dennoch keine Angst haben: Dass Waffen ganz aus dem Genre verschwinden werden, ist kaum zu befürchten. Mit wachsender Vielfalt und breiterem Publikum steigen aber immerhin die Möglichkeiten, sich auch als Pazifist in neuen Spielewelten zu bewegen. (Rainer Sigl, derStandard.at, 18.5.2014)