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Untergrundpräsident Aslan Maschadow in Kämpferpose: Eskalation als Kompensation für politisches Versagen?

Foto: EPA

Im Vorfeld der Angriffe tschetschenischer Rebellen in Inguschetien, der kleinen Republik westlich von Tschetschenien, hatte sich – so viel steht fest – die Lage in der Region in den vergangenen Monaten dramatisch verschlechtert.

Frustriert über ihre Unfähigkeit, die Rebellen in Tschetschenien endgültig zu vernichten, weiteten die russischen Streitkräfte ihre berüchtigten "satschistkas" (Säuberungsaktionen) systematisch auf die tschetschenische Flüchtlingsbevölkerung in Inguschetien aus, immer öfter gab es auch Berichte über das "plötzliche Verschwinden" von Inguscheten, vor allem solcher, die Kritik an der Präsenz und an den Praktiken der russischen Geheimdienste äußerten. Vereinzelt wurden inguschetische Wohnhäuser von russischen Hubschraubern angegriffen ...

Vor Ort war man daher bisher der Meinung, dass es die russischen Sicherheitskräfte sind, die den Krieg nach Inguschetien "exportieren" wollten, und es ist ja kein Geheimnis, dass russische Kommandanten durch Kollaboration mit ihren tschetschenischen "Feinden" ein gutes Geschäft mit dem Krieg machen und folglich daran interessiert sind, dass der Rubel weiter rollt.

Warum aber sollten die tschetschenischen Rebellen, noch dazu die Fraktion des als besonnen geltenden Aslan Maschadow plötzlich diese Eskalation betreiben?

Diesmal nämlich lässt sich Maschadows Mitwirken nicht so leicht von der Hand weisen, wie dies protschetschenische Aktivisten im Westen bisher stets nach besonders unüberlegten und blutigen Rebellenangriffen praktizierten: Erst am Freitag hatte Maschadow selbst in einem Interview mit Radio Free Europe eine Offensive der tschetschenischen Rebellen angekündigt.

Warum also? Und warum gerade jetzt? Um zu verstehen, was nach zehn Jahren Krieg und Chaos in Tschetschenien vor sich geht, muss man sich zunächst von den oberflächlichen Erklärungen und Projektionen aller beteiligten und unbeteiligten Seiten lösen:

Traurige Bilanz

Beide Konfliktparteien sind in einen dumpfen Determinismus verfallen, der stark an die überstrapazierten "ancient hatreds" der Balkankriege erinnert. So herrscht unter den Tschetschenen das Dogma, dass Russland seit 400 Jahren einen Völkermord in Etappen an den Tschetschenen begehe, während für die russische Seite die Tschetschenen schon immer "Verräter", "Banditen" waren, mit denen es keinen Kompromiss geben könne.

Im Westen wird eine hartnäckige Fangemeinde der Tschetschenen nicht müde, diese als tollkühne Partisanen im Kampf gegen einen imperialen Unterdrücker darzustellen und den müden Durchhalteparolen Maschadows begeistert zu applaudieren. Und schließlich steht noch die Behauptung Putins im Raum, dass Tschetschenien ein Teil der Front im internationalen "war on terror" sei.

Mit der Realität vor Ort hat all das wenig zu tun. In Tschetschenien haben Gewalt und Korruption schon lange eine schreckliche Eigendynamik entwickelt, die mehr an die komplexen Bürgerkriege Afrikas oder Lateinamerikas erinnert als an romantische Freiheitskämpfe. Von einem einheitlichen tschetschenischen Widerstand kann jedenfalls längst keine Rede mehr sein.

Aslan Maschedow, 1997 zum Präsidenten der de facto unabhängigen Republik gewählt, hat – nicht erst seit der formalen Aberkennung seiner Funktion durch die Machthaber im Kreml – sukzessive an Einfluss und Stellenwert verloren.

Denn selbst für loyalste Tschetschenen ist mittlerweile kaum mehr zu übersehen, dass Maschadow in den letzten sieben Jahren in allen Bereichen versagt hat: In den zwei Jahren der De-facto-Unabhängigkeit, von 1997 bis 1999, war er zu schwach – oder zu wenig skrupellos? –, um gegen bewaffnete Banden und organisiertes Verbrechen vorzugehen, das Land versank im Chaos.

An die militärische Erfolge der ersten Kriegsjahre konnte er in der Folgezeit nicht mehr anschließen, und das Elend der Zivilbevölkerung blieb allgegenwärtig.

Vor diesem Hintergrund ist es wohl kein Zufall, dass Maschadows sich mit einer eilig beschlossenen "neuen Strategie" gerade jetzt wieder zu Wort meldet, und ein "soft target", ein kaum bewachtes Ziel, für sein "Comeback" ausgesucht hat. Denn im August sind Präsidentschaftswahlen angesetzt, und das bringt einen in die Isolation gedrängten Ex-"Landesvater" unter Profilierungsdruck.

Flucht nach vorn

Die Wahl Achmed Kadyrows Wahl im Vorjahr konnte Maschadows Position noch nicht ernsthaft gefährden: Dafür war der Sieger in dieser Farce in bester sowjetischer Tradition beim Volk viel zu unbeliebt. Im August aber tritt ein Kandidat an, neben dem Maschadows vermeintliche oder tatsächliche Legitimität und Integrität nicht mehr gar so viel wert wäre: Malik Sajdullajew, ein millionenschwerer Geschäftsmann, der sein Geld mit der ersten russischen Lotterie gemacht hat und in Moskau lebt, ist populär, moderat und würde in einer fairen Wahl wohl gewinnen.

Maschadow, der als steckbrieflich gesuchter Terrorist nicht antreten kann, weiß das und versäumte es im Interview mit Radio Free Europe auch nicht, ausführlich über die "Illegitimität" der bevorstehenden Wahlen zu sprechen und jeden Kandidaten als "Verräter" zu bezeichnen.

Sollte Maschadow also die Absicht verfolgt haben, mit Gewalt wieder auf sich als "wahren" Präsidenten der Republik aufmerksam zu machen, ist das Kalkül zweifellos aufgegangen. Aus Inguschetien wird die Zahl der Todesopfer fast stündlich nach oben korrigiert; eine inguschetische Kollegin von uns hat in der Nacht auf Dienstag einen Cousin und einen Schwager verloren, die das Pech hatten, sich in der Nähe eines "soft target" aufzuhalten. – Es ist Wahlkampf in Tschetschenien ... (DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2004)