Abseits des Überlebens geben "Day Z" und "Rust" keine Ziele vor. Und weil eine Ordnung und Konsequenzen weitestgehend fehlen, ist die Hemmschwelle für das Betätigen des Triggers geringer.

Foto: Day Z

Vier Spieler mit Gewehren umzingeln eine Gruppe von drei Leuten, von denen zwei eine gelbe Jacke tragen. Die Bedrohten sind nur mit Feueräxten bewaffnet und ergeben sich der Übermacht. Ein grausames Spiel beginnt. "Klyka", der Anführer der Banditen, lässt die beiden Gelbgekleideten gegeneinander antreten, denn, so sagt er, es könne nur einen Träger einer gelben Jacke geben.

Ein Beutel Reis für den Gewinner

Doch die Show läuft anders als geplant – einer der zwei Kontrahenten wider Willen versucht nach dem Startschuss Reißaus zu nehmen und wird niedergestreckt. Der andere wird zum Sieger gekürt und erhält als Preis einen Beutel Reis. Eine kleine Episode aus dem Survival-Sandkasten "Day Z", festgehalten in einem Video, das bald eine Million Aufrufe auf YouTube hat.

Helloween4545

Video: Day Z

Hinter dem Pseudonym "Klyka" steckt der 28-Jährige Deutsche Philipp Kalle, der sich im echten Leben niemals so verhalten würde. Auch in "Day Z" betreibe er nicht mit jedem Spieler, dem er begegne, derartige Spielchen, erlärt er gegenüber Wired. Kurz vor der gemeinen Einlage hatten er und seine Gruppe noch einem Neuling geholfen und ihn mit einer Pistole sowie Munition ausgestattet.

Die Lust am Töten

Auch in der Welt von "Rust", in welcher neue Spieler unbekleidet und schutzlos in die Landschaft gesetzt werden, geht es rauh zu. Wired-Schreiber Ryan Rigney berichtet von einem Ausflug mit seinem Kindheitsfreund JB. Eine neue Spielerin, mangels der noch fehlenden Implementierung weiblicher Spielermodelle als nackter Mann unterwegs, begnete dem Duo, während dieses gerade einen Hirsch jagte.

Rigney bot ihr Unterstützung an, schließlich wurde etwas Hühnerfleisch gegen Holz getauscht. Ehe JB unerwartet hinter ihr auftauchte und sie attackierte. Sie floh, erlag aber wenige Minuten später ihren Verletzungen. JB lachte. "Wieso hast du das getan?", fragte Rigney. "Ich weiß nicht. Es war lustig", kam die Antwort.

Mensch oder Ziel?

Während Rigney hinter dem virtuellen Antlitz eine reale Person gesehen hatte, die Hilfe brauchte, betrachtete JB – der in der Realität auch niemals solche Handlungen setzen würde – offenbar nur als weiteres Abschussziel. Womit sich die Frage stellte, was Menschen eigentlich dazu bringt, sich in einem Spiel derart zu verhalten?

Ein Psychopath, so lässt es sich grob beschreiben, ist eine Person, deren moralischer Kompass nicht funktioniert. Es fehlt an Empathie und demzufolge an Gewissensbissen bei der Ausübung von Gewalt gegen andere Menschen.

Was einen Psychopathen jedoch davon abhalten kann, tatsächlich grausam zu handeln, ist das Wissen um negative Konsequenzen für sich selbst, erklärt Adam Perkins, der am King's College in London als Experte für Persönlichkeitsstörungen arbeitet.

Survival of the Meanest

Wenngleich der Tod der eigenen Spielfigur in "Day Z" und "Rust" zu einem Neuanfang ohne Inventar und Ausrüstung zwingt, und damit viel dramatischer ist, als in den meisten anderen Games, fehlt dort eine derartige Abschreckung. Wer einen anderen Spieler tötet, muss keine Ordnungshüter fürchten. Der Stärkere oder Gemeinere steigt tendenziell besser aus.

Werkzeuge, doch keine Regeln

Das bedeutet allerdings nicht, dass auf den Servern der zwei Survival-Games nur Psychopathen unterwegs sind. Der Grund, warum die Konfrontation mit anderen Spielern oft tödlich endet, liegt eher in der Absenz von Regeln, erklärt Kalle sein Vorgehen.

"Normalerweise gibt ein Spiel klare Regeln vor", sagt er. "Wenn wir auf einen 'Call of Duty'-Server gehen, wissen wir, dass wir uns gegenseitig töten werden. 'Day Z' gibt dir keine Ziele, nur Werkzeuge." Und mit diesen, schlussfolgert er, müsse man sich eben eigene Ziele setzen.

Situationselastiche Standards

Weil man in solchen Spielen stets am unteren Ende der Nahrungskette beginnt, aber wie jeder anderer Nahrung finden und sich computergesteuerten Gegnern widersetzen muss, ist es vor allem zu Beginn schwieriger, sich dauerhaft an hohe moralische Standards zu halten - zumal Zögerlichkeit schnell das eigene Ableben zur Folge haben kann.

Wer gut bewaffnet und geschützt ist, hat wenig Probleme damit, Neulingen zu helfen. Wer sich nackt und nur mit einem Steinbrocken bewaffnet durchs Geäst schlägt, entwickelt eine geringere Hemmschwelle davor, andere hinterrücks zu überfallen. Die Frage, die offen bleibt, ist allerdings, wie es sich im echten Leben verhalten würde, wenn jeder auf einmal alles verlieren und bei Null beginnen müsste. (gpi, derStandard.at, 28.05.2014)