"Wild Boy" und Naturbursch Mischa im Kreisel der Teenager-Erweckungen.

Foto: Luftschacht

Witzmeister Nicolas Mahler begibt sich als Comic-Guru auf die Metaebene.

Foto: Luftschacht

Mischa hat Schneckerllocken, ein Highriser-Fahrrad mit Fuchsschwanz-Antenne und Eltern, die wieder einmal streiten. Das auftoupierte Haar seiner Mutter wird von Schmetterlingsspangerln zusammengehalten - was nur notdürftig ihr unglückliches Leben als vereinsamte Hausfrau kaschiert. Der Vater, ein Jazzer mit Filzhütchen und unkontrolliertem Musik- wie Gewaltpotenzial, kann kaum mit dem Freiheitsdrang seines Buben umgehen. Der flüchtet sich so oft es geht mit seinem Fahrrad in den Wald. Dort wiegen ihn Bäume mit einem Lächeln und Vögel mit geheimnisvollen Kräften in Sicherheit.

Das ist der Ausgangspunkt des formidablen Comicwälzers Wild Boy von Alexander Strohmaier, der kürzlich im Luftschacht-Verlag erschienen ist. Auf 440 Seiten blättert der 1964 geborene Wiener seine Kindheit und Jugend in den 1970er- und 1980er-Jahren auf. Mehr oder weniger deckungsgleich mit der Wahrheit - denn ab und zu kippt sein Alter Ego ins Surreale. Das mag aber damit zu tun haben, dass Berge an Gras und anderen Drogen das überbordende Erzählwerkl antreiben, in dem sich Teenager-Erweckungen musikalischer wie sexueller Natur atemlos aneinanderreihen.

In räudigem Schwarz auf Weiß, äußerst dicht gezeichnet, roh und verspielt zugleich, ruft das Buch die Geister der frühen Underground Comix aus ihren verstaubten Kisten. Robert Crumb auf Wienerisch sozusagen. Denn Strohmaier wagt, was in der Comicwelt noch immer exotisch ist (wenn man von Gerhard Haderers feinen Schundheftln namens Moff absieht): Er verwendet Mundart, wenn auch nicht durchgehend. Den Rahmen sprengt auch die organische Verschränkung von Text und Bild. Die Buchstaben schlängeln sich durch jeden Freiraum zwischen den Panels und bilden eine komplementäre Parallelebene, die wie eine Stimme aus dem Off mitschwingt. Nicht zuletzt ist der Comic ein Dokument der auch hierzulande keimenden Club- und Konzertkultur der 1970er: Mischa spielt mit seinen Percussions beim Simmeringer Rockfestival genauso wie im U4 und in Wiesen.

Dabei ist Wild Boy keine geradlinige Coming-of-Age-Geschichte mit selbstgefälligem Schwelgen in inneren Daseinszuständen und Schlüsselerlebnissen. Vielmehr hangelt sich Mischa spontan durch nächtelange Gelage, Gefühlsverwirrungen, diverse Ausbildungswege und Kunstrichtungen. Renitenz ist bei ihm ein natürlicher Wesenszug.

Bilderstrudel

Vier Jahre verwendete Alexander Strohmaier dafür, seine jugendlichen Flausen und (Sex-) Eskapaden zu einem stilistisch ausgefeilten, psychedelischen Bilderstrudel zu formen. Das Mammutwerk reiht sich ein in das international erfolgreiche Genre der Graphic Memoir, das seine Wurzeln in den autobiografischen Underground Comix der 1970er und mit Marjane Satrapis Persepolis in den 2000ern einen kommerziellen Höhepunkt gefunden hat.

Zuletzt ist der in Berlin lebenden Österreicherin Ulli Lust mit ihrem autobiografischen Punk-Comic Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens ein Meisterstück gelungen. Die englische Fassung ist in den USA für den Eisner-Award nominiert, den Oscar für Comics. Ihre Adaption von Marcel Beyers Flughunde ist unter den Nominierungen für den Max-und-Moritz-Preis, die wichtigste deutschsprachige Auszeichnung, die demnächst beim Comicsalon Erlangen vergeben wird.

In Deutschland geben reine Comic-Verlage wie Reprodukt, Edition Moderne und der Avant-Verlag zuverlässig anspruchsvolle Bildliteratur heraus, und auch etablierte Institutionen wie der Suhrkamp-Verlag leisten sich mittlerweile eine Graphic-Novel-Schiene. In Österreich hingegen bleibt es ein aufreibendes Unterfangen, hochwertige Comics unter die Leute zu bringen. Der Luftschacht-Verlag hat vor sechs Jahren den Sprung in unbekanntes Terrain gewagt und dabei die heimische Comicszene aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. Seither ist Luftschacht der einzige heimische Literaturverlag, der regelmäßig Austro-Comics veröffentlicht.

Dennoch scheint sich das Selbstbewusstsein in Grenzen zu halten, wie Stefan Buchberger, die eine Hälfte des Gründerduos von Luftschacht, erzählt. "Die Hemmschwelle ist bei den Comiczeichnern größer als bei Autoren. Man muss sie schon einmal anstacheln. Sie sind auch viel selbstkritischer. Dafür sind sie in der Zusammenarbeit entspannter und weniger eitel." Für Selbstüberschätzung gibt es zumindest keine ökonomische Rechtfertigung: Die Auflagen liegen im Schnitt bei 1000 Stück. Wobei es schon ein gutes Ergebnis ist, wenn in den ersten 18 Monaten die Hälfte verkauft wird.

Zwar hat der im Deutschen immer noch sperrige Begriff Graphic Novel bewirkt, dass sich niemand mehr verschämt zum wahlweise mit Kindheit, Kitsch oder Schund assoziierten Comic-Heftl bekennen muss. Auch Buchhändler haben entdeckt, dass Zeichnungen zwischen zwei Buchdeckeln eine Geschichte erzählen können.

So etwas wie einen nachhaltigen Boom hat aber auch die gesteigerte Aufmerksamkeit in den Medien nicht gezeitigt. "Wenn man sieht, dass Graphic Novels im Handel fast immer gleich neben dem Humor-Eck positioniert sind, muss man ja Minderwertigkeitskomplexe bekommen", sagt Buchberger, der die Bildromane lieber auf einem Tisch mit klassischer Belletristik sehen würde.

Die Lage der Comic-Nation

Mit Humor hat der erfolgreichste aller österreichischen Comic-Künstler, Nicolas Mahler, kein Problem. Schließlich sieht er sich selbst primär als Witzzeichner. In seinem neuesten Episodenband Franz Kafkas nonstop Lachmaschine, erschienen bei Reprodukt, liefert er den treffendsten Befund zur allgemeinen Lage des Comics - basierend auf eigener Erfahrung.

"Jaja...aber ist es Kunst?" fragt da ein "Vertreter des Kunstbetriebs", optisch ein originell gekleideter Gartenzwerg. "Jaja... aber ist es Literatur?", fragt der in einen langen Schal eingewickelte Germanist ein paar Seiten später. Weiter hinten doziert Nicolas Mahler im Gewand eines Gurus: "Das Gute am Comic ist ja, dass ALLES möglich ist. Jede Form von Bastardisierung und Irritation ist zu befürworten!"

Gewohnt pointiert deckt Mahler die Absurditäten des vermeintlichen Spagats zwischen Kunst und Literatur auf und legt auch durchaus Selbstironie an den Tag. Denn er ist mit seinen minimalistischen Versionen von Thomas Bernhards Alte Meister und Der Weltverbesserer sowie Robert Musils Mann ohne Eigenschaften - beide bei Suhrkamp - gewichtiger Teil des Trends zur Literaturadaption in grafischer Form.

Es bleibt fragwürdig, ob eine derartige Anbiederung dem Comic dabei hilft, sich auch im deutschsprachigen Raum als eigenständiges Medium zu etablieren. Oder ob er sich einfach in seiner Nische breitmachen soll. Gemäß Mahlers Motto, das auch Strohmaier verinnerlicht hat: "Bringt das Seichte in das Tiefe! Und das Tiefe in das Seichte! Seid unrein!" (Karin Kirchmayr, Album, DER STANDARD, 7./8./9.6.6.2014)