Marina Neumann (62) ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in Berlin. Sie arbeitet schwerpunktmäßig mit umgeschulten Linkshändern.

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In ihrem neuen Buch "Natürlich mit links" beschreibt Neumann ausführlich ihre eigenen Erfahrungen, jahrzehntelang die "falsche" Hand benutzen zu müssen. Seit ihrer Rückschulung im Jahr 2000 ist sie wesentlich befreiter. Nun möchte sie auch anderen Linkshändern Mut machen, zu ihrer "richtigen" Hand zurückzufinden.

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derStandard.at: Inwiefern unterscheiden sich Linkshänder von Rechtshändern?

Marina Neumann: Linkshänder benutzen instinktiv ihre linke Hand für praktische Tätigkeiten und würden auch mit links malen und schreiben, wenn man sie lässt. Aber auch im Gehirn gibt es eine Lateralität: Bei Linkshändern ist die rechte Gehirnhälfte die dominante, also sehr aktiv. Hier sitzen die kreativen und intuitiven Fähigkeiten des Menschen, und der Linkshänder ist in seinem Handeln und in seiner Problemlösung eher rechtshemisphärisch geprägt.

Bei Rechtshändern ist die linke Gehirnhälfte die starke - sie gehen also eher linkshemisphärisch an ein Problem heran, also eher logisch und strukturiert. Das heißt nicht, dass Rechtshänder nicht kreativ sein können, aber tendenziell merkt man die Unterschiede schon.

derStandard.at: Sie beschreiben, dass viele Schüler immer noch zum Benutzen der rechten Hand gezwungen werden. Warum ist das so problematisch?

Neumann: Wenn ein Linkshänder weder seine starke Hand noch seine starke Gehirnhälfte benutzen darf, muss er auf die schwächere ausweichen. Damit kommt er in eine Notsituation, die man mit einem Schlaganfall-Patienten vergleichen kann, der wegen einer halbseitigen Lähmung auf die andere, schwächere Hand umlernen muss. Die starke Hand und die dominante Gehirnhälfte kommen dann in eine Art Dornröschenschlaf, man bekommt etwa Schwierigkeiten bei feinmotorischen Aufgaben - vor allem beim Schreiben. Zwingt man Kinder dazu, ihre schwächere Hand zu benutzen, greift man in die Biologie ein.

derStandard.at: Warum wurden Linkshänder so lang zum Umlernen gezwungen?

Neumann: Das hat vor allem religiöse, historische und philosophische Ursachen. Linkshänder werden von jeher als minderwertig betrachtet, was sich schon bei Sprachbildern wie "zur Rechten Gottes sitzen" und "die linke Hand ist die Hand des Teufels" zeigt. "Der rechte Weg", "einer linkt mich" - das sind einfach Ausdrücke, die unterschiedliche Bewertungen zwischen Links- und Rechtshändern implizieren. Das bezieht sich nicht nur auf die christlich-abendländische Tradition, sondern auch auf den Islam oder auf den Hinduismus, wo die linke Hand ja die unreine Hand ist, mit der der Allerwerteste abgeputzt wurde, nicht aber gegessen oder jemand begrüßt wurde.

derStandard.at: Wie konnte sich diese Tradition bis heute halten?

Neumann: Die Entwicklung hat sich fortgesetzt bis ins 20. Jahrhundert. So wurde meinem Onkel verboten, den Hitlergruß mit links zu machen. Er wurde dann immer verprügelt, hat es aber als Sechsjähriger natürlich nicht verstanden. Er hat es schließlich einfach unhinterfragt übernehmen müssen. So war es auch bei mir. Ich wollte mit links schreiben, aber meine Lehrerin sagte gleich am ersten Schultag: "Nein, wir schreiben hier mit rechts." Bis heute ist dieses Thema noch viel zu wenig bekannt, auch an den Universitäten nicht. Man geht einfach davon aus, dass alle Rechtshänder sind.

derStandard.at: Haben Sie den Eindruck, dass das Bewusstsein dafür gestiegen ist?

Neumann: Ja, es ist schon besser geworden. Seit der deutschen Wiedervereinigung 1989/1990 ist im Schulgesetz aller Bundesländer verankert, dass der Lehrer nicht einzugreifen hat, wenn ein Schüler mit links schreiben will. Das ist ein großer Fortschritt. Ansonsten werden die Kinder ziemlich alleingelassen, es wird ihnen nicht geholfen, nicht gezeigt wie man entspannt und flüssig mit links schreiben kann oder wie sie sitzen sollten. Bei Erzieherinnen und Erziehern in Kindertagesstätten ist das etwa noch längst nicht so. Es gibt zwar in etlichen Kitas schon Linkshänderscheren, aber es wird den linkshändigen Kindern meistens nicht gezeigt, wie sie diese benutzen sollten. In der Erzieherausbildung wird das Thema Linkshändigkeit kaum behandelt.

derStandard.at: Wie und wann können Eltern die natürliche "Händigkeit" ihrer Kinder herausfinden?

Neumann: Sobald ein Kind zielgerichtet greifen kann, also ab dem zehnten, elften Monat, kann man beobachten, ob ein Kind bevorzugt die linke oder die rechte Hand benutzt Am deutlichsten ist es bei Zwillingen: Hier ist fast immer einer Linkshänder und der andere Rechtshänder. Man sieht es etwa daran, dass einer das Fläschchen oder ein Kuscheltier mit links hält und der andere mit rechts. Viele Eltern nehmen das aber nicht wahr.

derStandard.at: Wie können sie es erkennen?

Neumann: Da müsste man einfach genauer hinschauen. Wer ein gewisses Auge dafür entwickelt hat, sieht es ziemlich schnell. Grundsätzlich sollten Erziehungspersonen das Spielzeug und andere Gegenstände mittig legen, dann können Kinder frei danach greifen. Nur durch Beobachtung findet man die Händigkeit heraus. Diese Gelegenheit bekommen aber viele Kinder gar nicht, etwa wenn im Kindergarten der Löffel rechts liegt und dann das Essen mit rechts beigebracht wird.

derStandard.at: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie angepasste Rechtshänder wieder zu ihrer "richtigen" linken Hand umgeschult werden. Doch für wen kommt das überhaupt infrage - sollte man nicht eher bei einer Hand bleiben, wenn man es schon so gelernt hat?

Neumann: Die meisten haben einen enormen Leidensdruck und denken: Es kann nur besser werden. Zu mir kommen auch viele umerzogene Linkshänder, die nicht ganz sicher sind. Manche sind es schon, die erinnern sich, wie sie in der Schule zur Rechtshändigkeit gezwungen wurden. Die anderen haben vielleicht vage Erinnerungen, müssen das aber erst herausfinden. Diese haben oft schon lang Probleme im feinmotorischen oder auch psychischen Bereich. Sie müssen in einem Händigkeitstest einfach ausprobieren, mit welcher Hand es sich besser anfühlt, besonders beim Malen von ganz einfachen Figuren.

derStandard.at: Wie fühlt sich das Umlernen an?

Neumann: Für einen Linkshänder ist das Malen mit links im Vergleich zum Malen mit rechts ein Unterschied wie Tag und Nacht - das weiß ich aus eigener Erfahrung. Schreiben mit links fühlt sich einfach tausendmal besser an. Es bedeutet auch eine Art von Entspannung: Endlich darf ich ich selbst sein. Es geht im Grunde um die ganze Persönlichkeit. In dem Moment, in dem man das merkt, wie anders es sich anfühlt, ist das ein großer Motivationsschub. Und die eindeutige Motivation ist natürlich das wichtigste bei jeder Rückschulung. Manche brauchen auch etwas Zeit, das Testergebnis "Linkshändigkeit" erst einmal sacken zu lassen und zu verarbeiten.

derStandard.at: Wie geht so eine Rückschulung auf die linke Hand vonstatten?

Neumann: Zunächst geht es darum, wieder mit links schreiben zu lernen. Es geht natürlich auch darum, wie die Linkshändigkeit in den Lebens- und Berufsalltag eingebaut werden kann. Bis zum Alter von 60 Jahren ist es erfahrungsgemäß nicht zu spät: Auch wenn sie jahrzehntelang nicht benutzt wurde, bleibt die linke Hand lernfähig.

Aber es braucht natürlich seine Zeit: Zuerst macht man lange nur sehr einfache Zeichen, erstmal wird die Feinmotorik trainiert. Und dann ist es spannend, wie lernfähig sich auch als Erwachsener die linke Hand, der linke Arm zeigt. Regelmäßig in kleinen Dosen trainieren, das ist das Wichtigste.

derStandard.at: Wie lange dauert dieser Prozess?

Neumann: Beim Schreiben schon etwa ein Jahr. Nach anderthalb Jahren habe ich dann zum ersten Mal auch mit links unterschrieben, meinen Personalausweis. Das vergisst man nicht so schnell. Wie lange es dauert, ist aber individuell verschieden, jeder hat sein eigenes Lerntempo. Heutzutage ist es zum Glück relativ leicht, weil man ja auch am PC schreiben kann und dadurch nicht so eingeschränkt ist in seinem Alltag.

derStandard.at: Gibt es auch Menschen, die mit beiden Händen gleichermaßen geschickt sind?

Neumann: Gerade bei handwerklichen Dingen wechseln viele schon zwischen den Händen, was gewissermaßen auch ein Vorteil ist - die meisten haben aber eine bevorzugte Seite. Es gibt viele, die sich als Beidhänder bezeichnen, die schreiben aber auch meistens mit rechts - da zeigt sich dann mitunter doch eine unterdrückte Linkshändigkeit.

derStandard.at: Gibt es noch viele Probleme im täglichen Leben und mit Alltagsgegenständen?

Neumann: Da hat sich schon sehr viel getan, es gibt viele neue Varianten für Linkshänder. Vieles gibt es aber leider nur im Internet. Bleistifte, Tintenroller, Füllfedern - die Auswahl gibt es, aber nicht überall. Es gibt aber noch viele Berufe, die für Linkshänder sehr schwierig sind. Ich kannte einen Lokführer in der Berliner S-Bahn, der verzweifelt war, weil alle Schalthebel rechts waren. Er musste den ganzen Tag mit der verkehrten Hand arbeiten. Die Arbeit mit rechts war auf Dauer so anstrengend für ihn, dass er damit aufhören musste.

derStandard.at: Das Problem mit dem Schalten: Das ist ja auch bei jedem Auto so?

Neumann: Ja, das stimmt. Es gibt zwar auch noch die Möglichkeit von Automatikautos, aber Linkshänder wären eigentlich in England oder Indien viel besser aufgehoben. (Florian Bayer, derStandard.at, 12.8.2014)