Die Einkommens- und Vermögensungleichheit steigt in den westlichen Industrieländern seit Ende der 1970er-Jahre, und sie ist so hoch wie seit 90 Jahren nicht mehr. Die Vermögensungleichheit ist noch bedeutend höher als die der Einkommen; die Hälfte der Bevölkerung hat praktisch kein Vermögen, und Finanzvermögen sind nur bei den reichsten zehn Prozent zu finden. Soziale Mobilität ist weit geringer als angenommen, Erbschaften spielen eine immer größere Rolle bei der Anhäufung von Vermögen.

Über diese Tatsachen herrscht weitgehende Einigkeit in der Forschung (unter anderem auch dank der Datenarbeit von Thomas Piketty und seiner Koautoren). In dem Maße, in dem sie öffentlich diskutiert werden, erzeugen diese Tatsachen Rückenwind für Forderungen nach Maßnahmen, die eine gerechtere Verteilung von Lebenschancen bewirken sollen.

Das ruft Gegenreaktionen hervor, insbesondere von denjenigen, die durch mehr Umverteilung etwas zu verlieren hätten. Diese Gegenreaktionen können verschiedene Formen annehmen:

1. Das Kleinreden von Zahlen durch Vergleiche, etwa mit anderen Ländern ("Im Vergleich zu den USA oder Brasilien ist es eh nicht so schlimm") oder mit subjektiven Wahrnehmungen ("Die Leute überschätzen das").

2. Die Verleugnung der Fakten und Datenquellen ("Das sind ja nur Umfragen") und die Verhinderung von Datenerhebungen.

3. Die Behauptung, dass sich an Tatsachen nichts ändern ließe; Umverteilung wäre kontraproduktiv ("Das schadet dem Wirtschaftswachstum" ).

4. Die Rechtfertigung von Ungleichheiten ("Die Reichen haben sich das selbst aufgebaut, wir haben kein Recht, ihnen etwas wegzunehmen").

In die erste Kategorie fällt der unlängst im Standard veröffentlichte Artikel, Österreicher fühlen sich ärmer, als sie sind, mit dem Untertitel "Die Ungleichheit wird hierzulande massiv überschätzt. Es gibt deutlich weniger Arme und Reiche, als die Menschen glauben." Der Artikel bezieht sich auf eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, das von deutschen Arbeitgeberverbänden finanziert wird.

Verteilung, statistisch

Die Behauptung, dass es weniger Arme und Reiche gebe als angenommen, kommt so zustande: Viele Teilnehmer an einer Umfrage fanden, dass eine pyramidenförmige Darstellung (kleine Elite oben, die meisten Menschen unten) die österreichische Gesellschaft am besten beschreibt. Diesen Antworten stellt die Studienautorin ein Diagramm gegenüber. Dieses stellt die Einkommensverteilung dar und ist nicht pyramidenförmig. In der Umfrage wurde weder gesagt, dass es um die Einkommensverteilung geht, noch, was das Diagramm darstellt. Jede Verteilung lässt sich verschieden darstellen und in verschiedenste Formen bringen. Daraus den Schluss zu ziehen, es gäbe deutlich weniger Arme und Reiche, als die Menschen glauben, wie es die Studie tut, ist mehr als gewagt.

Bei seriöseren Untersuchungen (z. B. dem österreichischen Sozialbericht) zu dem Thema zeigt sich: Die allermeisten Menschen unterschätzen das Maß bestehender Ungleichheiten, und Arme wie Reiche glauben, sie seien in der Mitte der Verteilung. Das ist nicht verwunderlich: Wir kennen vor allem Menschen in ähnlichen Lebensumständen. Wer von uns kann sich schon vorstellen, wie es ist, wenn man auf der Straße lebt oder sich Sorgen um Stiftungen in Liechtenstein macht? So glauben die wenigsten Reichen, dass sie wirklich reich wären; schließlich geht es ihren Freunden genauso gut wie ihnen selbst.

In die die zweite Kategorie fällt etwa Michael Spindeleggers Aussage: "Ich zweifle an Schätzungen Pi mal Daumen, die auf Umfragen basieren. Meine Empfindung ist, dass der Reichtum breiter aufgestellt ist." Dazu ist zu sagen: Jedes Ergebnis empirischer Forschung muss mit Vorsicht genossen werden. Im Rahmen dessen sind aber seriöse Erhebungen, wie jene der Nationalbank zur Vermögensverteilung (oder auch der Mikrozensus, die Erhebung von Warenkörben zur Inflationsberechnung und so weiter), oft die besten Datenquellen, die wir haben. Vorsichtig erhobene Daten von einem repräsentativen Sample können uns mehr sagen als unvollständige Daten zur Gesamtbevölkerung, wie sie teilweise aus administrativen Quellen (Sozialversicherungen) zur Verfügung stehen.

In die dritte Kategorie fallen die meisten Diskussionen über Umverteilung in der ökonomischen Theorie. Von konservativen Ökonomen wurde lange argumentiert, dass "der Kuchen" wesentlich kleiner würde, wenn er anders verteilt würde. In den vergangenen 15 Jahren hat eine Klärung der Theorie stattgefunden, die zu glaubwürdigerer empirischer Forschung geführt hat. Dadurch hat sich weitgehend Konsens etabliert: Der "Kuchen" wird bei mehr Umverteilung zwar etwas kleiner (vor allem durch Steuerhinterziehung), aber um weit weniger als gedacht. Angenommen, wir wollen die Lebenschancen derer verbessern, denen es schlechter geht. Dann ist es möglich, ihnen ein größeres Stück zu geben und das "Kuchenstück" reicher Haushalte zu reduzieren, ohne den "Gesamtkuchen" sonderlich zu schrumpfen.

Vierte Kategorie: Aufgrund dieser Entwicklungen scheinen sich konservative Ökonomen zunehmend von einer Argumentation über Konsequenzen ("das schadet dem Wachstum") auf eine moralische zurückzuziehen. Das Argument lautet, dass die Reichen ein Recht hätten, das zu behalten, was sie sich selbst erarbeiten.

Das ist inkonsistent. Wer von uns hat schon sein eigenes Essen angebaut oder die Schaltpläne des eigenen Mobiltelefons konstruiert? Das allermeiste dessen, was wir an Gütern und Dienstleistungen konsumieren, haben wir am Markt gekauft, vom Staat oder anderen Institutionen erhalten. Um die bestehende Verteilung dieser Güter durch ein moralisches Eigentumsrecht zu rechtfertigen, müssen wir annehmen, dass die bestehenden Marktpreise gerecht sind. Was, wenn Marktpreise sich verschieben und dadurch die Reichen reicher und die Armen ärmer werden - ist dann die neue Verteilung ungerecht oder die alte?

Die Ungleichheit an Einkommen, Vermögen, Erbschaften und Lebenschancen bei der Geburt ist groß und wachsend - in Österreich genauso wie anderswo. Aber bei entsprechendem politischem Willen ist es möglich, daran etwas zu ändern. (Maximilian Kasy, DER STANDARD, 6.8.2014)