Wem schon einmal die Handtasche gestohlen wurde, der weiß, wie unangenehm und belastend das ist. In Braunschweig jedoch war ein Handtaschenraub der Beginn eines "Märchens", das als "Wunder von Braunschweig" in die Stadtgeschichte einging.

2011 wurde einer alten Dame in der niedersächsischen Stadt (247.000 Einwohner) die Handtasche entrissen. Die Braunschweiger Zeitung berichtete darüber und schrieb auch, dass die Stiftung Opferhilfe in solchen Fällen helfe.

Wenige Tage später lag ein weißes Kuvert mit 10.000 Euro im Briefkasten der Opferhilfe. Beigefügt war auch der Artikel aus der Braunschweiger Zeitung, mit einem Kreuz an der entsprechenden Stelle wies der Geber darauf hin, wer das Geld erhalten solle - nämlich die beraubte Frau.

Und es folgte noch mehr: Kindergärten, Sternsinger, eine Suppenküche, die Verkehrswacht und Kirchengemeinden wurden bedacht. Einmal lag das weiße Kuvert mit den 500-Euro-Scheinen in einem Gebetsbuch.

Geholfen wurde aber auch Einzelpersonen, das Geld floss sogar bis Argentinien. Dort sah der elfjährige Pablo im Fernsehen einen Bericht über den Geldsegen. Er wandte sich daraufhin an die im Beitrag erwähnte Braunschweiger Zeitung und erzählte von der Not seiner Familie. Die Zeitung berichtete, und kurz darauf bekam Pablos Familie 2000 Euro.

Artikel in der Lokalzeitung

Überhaupt kommt der Lokalzeitung in diesem Märchen eine besondere Rolle zu. Denn oft lagen den Spendenkuverts Artikel der Zeitung mit Berichten über in Not geratene Menschen bei. So war immer klar, bei wem das Geld ankommen sollte.

Eines aber ist bis heute unklar: wer sein Füllhorn ausschüttet. "Er oder sie scheut das Licht und verweigert jede Kontaktaufnahme", sagt Henning Noske, Lokalchef der Braunschweiger Zeitung zum Standard. Noske betreut die Spendenserie von Beginn an publizistisch. Eine "Traumgeschichte" sei das, sagt er.

Obwohl ihm mit der Zeit auch Unwohlsein befiel. Schließlich sei die Geldübergabe jedes Mal "riskant". Wer könne schon garantieren, dass das Kuvert stets in die richtigen Hände falle - in solche also, die die finanzielle Unterstützung tatsächlich an die Bedachten weiterleiten?

Also hat Noske den edlen Spender (oder die Spenderin) via Zeitung aufgefordert, sich doch in der Redaktion zu melden. Absolute Vertraulichkeit wurde garantiert, Abwicklung der Spenden über einen Notar. Es geschah - nichts. Keiner meldete sich, was natürlich die Spekulationen immer wilder blühen ließ.

Verschenkt ein Todkranker sein Erbe? Stammt das Geld aus einem Banküberfall? Will jemand Unrecht wiedergutmachen? Es ist auch nicht geklärt, ob alles Geld von einer Person stammt. In zwei Fällen weiß man, dass die Beträge (30.000 und 10.000 Euro für ein Hospiz) von einer älteren Dame kommen, die ihren Namen auch nicht preisgeben wollte. Stammt der Rest auch von ihr?

Noske tippt auf eine etwas ältere Person, die viel Zeit zum (Braunschweiger-)Zeitung-Lesen hat und christlich eingestellt ist. Denn schließlich heißt es schon in der Bergpredigt: "Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen lassen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen."

Fakt ist: Bis Jänner 2014 flossen 260.000 Euro. Danach kam nichts mehr. Und so hat Redakteur Noske eine Hoffnung: "Daniel Glattauer wird in Braunschweig aus seinem Buch lesen. Wir berichten natürlich darüber. Vielleicht wird danach ja wieder gespendet." (Birgit Baumann, Album, DER STANDARD, 23./24.8.2014)