Nicht unter den Teppich zu kehren - das ist das Ansinnen der Psychoanalyse. Im Bild Freuds berühmte Behandlungscouch.

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"Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist", heißt es in Johann Strauss' Operette "Die Fledermaus", die ihre Premiere im Jahr 1874 feierte. Sigmund Freud setzte dem Vergessen und Verdrängen seine "Redekur" entgegen

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Eilige Damen in Businesskostümen stöckeln den Gehsteig entlang, vor einem beliebten Eissalon hat sich eine Menschentraube gebildet, die Fahrbahn teilen sich Autos, Fahrräder und Fiaker. Die Wiener Tuchlauben sind ein belebter Ort an diesem Septembertag. Im Mittelalter siedelten sich hier, auf halber Strecke zwischen Stephansdom und Judenplatz, wohlhabende Tuchschneider an - daher stammt der Name. Noch heute säumen noble Modeboutiquen die Tuchlauben, dazwischen Cafés, Bäckereien, Parfümerien. Die Straße zählt zu den begehrtesten Adressen der Stadt - und zu ihren teuersten.

Das Haus Nummer 19 fällt auf den ersten Blick aus dem illustren Rahmen. Ein gotisches Bauwerk aus der Zeit um 1400, leicht nach hinten versetzt, die Fassade grau, im Gassenlokal ein Fotogeschäft. Doch das Haus, einst Sommerresidenz des Wollhändlers Michel Menschein, birgt einen Schatz im Inneren. In der Beletage findet sich ein Ballsaal mit Wiens ältesten nichtkirchlichen Fresken, entstanden um 1407. Sie zeigen Szenen des Lebens im Mittelalter - und auf einigen geht es recht handfest zur Sache. Man bekommt eine angedeutete Entjungferung zu sehen und einmal sogar ein Kothaufen. Sex und Exkremente - Tabus bis heute.

Die Aura Freuds

Das Verdrängte und Tabuisierte sind auch die Themen von Christine Diercks. Die Psychiaterin - ergrautes Haar, ein offener Blick hinter der roten Brille - hat ihre Praxis im Haus mit den Fresken. Diercks ist Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), die Sigmund Freud 1908 gegründet hat.

In ihrem Behandlungsraum lebt die Aura Freud' scher Analyse: Parkettboden, Bücher bis unter die Decke, Perserteppich, die Behandlungscouch. Hier betreibt Diercks klassische hochfrequente Psychoanalyse - eine Behandlung mit bis zu vier Sitzungen pro Woche, oft über Jahre. Doch sie bietet auch kürzere Therapien mit weniger Stunden an, in die die Patienten zweimal pro Woche kommen.

Es ist vor allem die hochfrequente Behandlung, die immer wieder in der Kritik steht. Von Anfang an war Freuds Psychoanalyse Objekt von Anfeindungen. Nur die Vorzeichen, die haben sich geändert.

"Jüdische Wissenschaft"

Die Nazis bekämpften die Psychoanalyse, die ihnen als jüdische Wissenschaft galt, mit aggressivem Eifer; viele der überwiegend jüdischen Vertreter der WPV wurden vertrieben oder ermordet. Einen Tag nach dem Anschluss Österreichs wurde die Vereinigung aufgelöst - erst 1946 konnte sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Freuds Schriften hatten Berliner Studenten freilich schon 1933 verbrannt.

Seither hat sich vieles verändert, die Psychoanalyse hat sich ausdifferenziert, weiterentwickelt und ist längst zentraler Teil des psychotherapeutischen Kanons. Kaum eine Methode, die nicht auf Freuds Erkenntnisse aufbaut. Die hochfrequente Psychoanalyse kommt heute vor allem bei Patienten mit manifesten Persönlichkeitsstörungen zum Einsatz: bei Menschen, die die Basisfunktionen ihrer psychischen Struktur etwa aufgrund schwieriger Bedingungen in der Kindheit nicht entwickeln konnten; bei denen Traumatisierungen oder frühe Zurückweisung verhindert haben, dass Beziehungsfähigkeit, Grundvertrauen oder Selbstwert entstehen.

Couch statt Coach

Viermal pro Woche zur Psychotherapie, und das über Jahre - das klingt für viele Menschen absurd. Manche nennen die Psychoanalyse eine sinnlose Wohlfühltherapie für Privilegierte. Die Vertreter des Gesundheitssystems formulieren es anders. Sie sagen, dass der Aufwand einer Therapie in günstigem Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit stehen müsse. Seit zwei Jahren genehmigt die Wiener Krankenkasse keine Neuanträge für hochfrequente Psychoanalyse mehr, auch Zuschüsse wurden gestrichen.

"Wir betreiben keine Verwöhnung auf Krankenschein", sagt Christine Diercks. Sie sitzt in einem weißen Fauteuil in ihrem Behandlungszimmer, vor sich eine Tasse Kaffee. "Die große Aufmerksamkeit und der enge Kontakt sind notwendig, um seelischen Erfahrungen des Patienten Platz zu schaffen, die bisher um keinen Preis sein durften und deshalb radikal ausgeschlossen wurden." Die Psychoanalyse gehe ans Eingemachte der menschlichen Seele, ans Verdrängte und Vergessene.

Sie verspricht keine schnellen Lösungen und will nicht das Verhalten der Patienten korrigieren, damit die nur flugs wieder funktionieren. Die Linderung von Symptomen ist ein Ziel - aber nicht das einzige. "Die Psychoanalyse rührt an das, was den Menschen krank gemacht hat", sagt Diercks - an unerträgliche Ängste, Schuldgefühle und Kränkungen.

Der Analytiker als Projektionsfläche

Das soll mithilfe der sogenannten Übertragung gelingen: Der Analytiker stellt sich als Projektionsfläche für den Patienten zur Verfügung, der seine innere Situation auf den Analytiker überträgt. In der Beziehung zwischen den beiden bildet sich auf diese Weise nach und nach die Persönlichkeit des Patienten ab - mit all ihren Nöten und inneren Konflikten.

"Patienten erleben die für sie charakteristischen Situationen in der Analyse aufs Neue und wiederholen elementare Beziehungsmuster", erklärt Diercks. Mit dem Analytiker machen sie korrigierende Beziehungserfahrungen und gestalten im Idealfall ihre Vorstellung von Beziehung dauerhaft neu.

Weil Einsichten ins eigene Gewordensein nur möglich sind, wenn sie emotional erlebt werden, brauche es vor allem bei tiefsitzenden Persönlichkeitsstörungen engmaschigen Kontakt. Sonst müsse man die Übertragungssituation stets aufs Neue erzeugen. Manchmal sehen Patienten ihre Verhaltensmuster und deren Ursprung plötzlich klar vor sich. Manchmal dauert dieser Prozess Jahre.

Zeit und Geld

So viel Zeit hat das Gesundheitssystem nicht. Noch dazu, wo andere Psychotherapien mit Kurzinterventionen und schnellen Erfolgen locken und Psychopharmaka rasch verschrieben sind. Doch bringen diese Maßnahmen etwas? Ob eine Psychotherapie gewirkt hat, ist fast eine philosophische Frage: Wenn ein Mensch symptomfrei ist? Wenn er wieder arbeiten gehen und am herrschenden Gesellschaftssystem teilnehmen kann? Wenn seine Angst verschwindet? Wenn er glücklich ist?

Die Frage nach Heilung ist schwierig, und doch sollen Psychotherapien den Kassen ihre Wirkung nachweisen. Freud selbst hat übrigens nie gesagt, dass die Analyse ein Heilsversprechen berge. Er hat auch nicht zwischen gesund und krank unterschieden.

Ins Eck gestellt

Der deutsche Psychiater und Neurologe Stephan Doering leitet seit 2011 die Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie am Wiener AKH. Er kennt den Widerspruch zwischen einem modernen Spitalsalltag, der von Effizienzdogma und Evaluierung geprägt ist, und dem prozesshaften Mäandern der Psychoanalyse. Ob die Analyse, die viel länger dauert und aufwändiger ist als andere Psychotherapien, auch so viel mehr nützt - diese Frage findet Doering berechtigt.

"Studien zeigen, dass die Psychoanalyse zwar teurer ist, aber weitreichende und nachhaltige Veränderungen in der Persönlichkeit bringt", sagt er. Diese Veränderungen würden sich nach zehn Jahren etwa in verminderten Krankenständen und Gesundheitskosten zeigen. In der Ökonomie nennt man so etwas Umwegrentabilität.

Die klassische Psychoanalyse sieht sich in ein Eck gestellt. Das merkt man, wenn man mit ihren Vertretern spricht. Man kann sie irgendwie verstehen: Schließlich kann kaum eine der 23 in Österreich anerkannten Psychotherapien ihre Wirkung empirisch belegen. "Die Psychoanalyse hat ihre Wirksamkeit dagegen in vielen Studien bewiesen", sagt Doering. "Wir sagen auch längst nicht mehr, dass sie für alle Patienten das Beste ist."

Nicht jede Krise braucht eine Analyse

Christine Diercks meint, dass für viele Patienten Medikamente oder Kurztherapien ausreichen: Nicht jede Depression braucht eine lange Analyse, nicht jede überlastete Psyche viermal wöchentlich Therapie. "Es wäre unsinnig, oberflächliche Störungen mit Analyse zu behandeln."

Könnte es also sein, dass hinter der Ablehnung, die der Psychoanalyse entgegenschlägt, nicht nur legitime Bedenken ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis betreffend stecken? Für Doering ist dieser Gedanke nicht abwegig: "Die Psychoanalyse war immer subversiv und progressiv, weil sie Konventionen hinterfragt. Sie macht vor keinem Tabu halt, stellt Macht und herrschende Strukturen infrage." Das sieht auch Diercks so: "Die Psychoanalyse weckt bis heute Widerstände." Weil sie uns mit dem konfrontiere, was wir nicht wahrhaben wollen, was uns aber gerade deshalb bestimmt. Weil sie uns an das erinnert, was wir vergessen wollen.

"Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist", heißt es in Johann Strauss' Operette "Die Fledermaus", die ihre Premiere im Jahr 1874 feierte. Sigmund Freud setzte dem Vergessen und Verdrängen seine "Redekur" entgegen. (Lisa Mayr, DER STANDARD, 20./21.9.2014)