Arno Behrend: "Schuldig in 16 Fällen"
Broschiert, 361 Seiten, € 13,30, p.machinery 2014
SF-Krimis entfallen grob auf zwei Kategorien: In der ersten (und in der drängeln sich deutlich mehr AutorInnen) ist die Science-Fiction-Welt nur eine Kulisse. Der Kernplot ließe sich genauso gut im 17. Jahrhundert oder in den Roaring Twenties ansiedeln, ohne dass der Autor recht viel mehr tun müsste, als die Kostüme seiner Figuren umzuschneidern. In der zweiten, deutlich schwierigeren und darum dünner besetzten Kategorie ist das Worldbuilding untrennbar mit dem Krimi-Plot verbunden. Das Verbrechen könnte in keiner anderen Welt als der hier beschriebenen stattfinden.
Ein idealtypisches Beispiel für die letztere Kategorie bleibt für mich immer Peter F. Hamiltons "Watching Trees Grow". Und zu der zeigt Arno Behrends Erzählung "Bubble-Gum-Express" eine Parallele: Auch hier haben wir es nämlich mit einer Familiengeschichte zu tun, und wieder geht es um eine Familie, die die Welt verändert hat. Seit ein genialer Erfinder den Zugriff auf die Bewegungsenergie des expandierenden Universums ermöglichte, stehen der Menschheit unendliche Energiereserven zur Verfügung ... theoretisch jedenfalls, denn ein privates Monopol sorgt dafür, dass der Überfluss nicht allen gleich zugutekommt. Bis eines Tages die Enkelin des Erfinders einen anonymen Hinweis auf ein Verbrechen erhält, das die höchst private Geschichte ihrer Familie ebenso betrifft wie die der ganzen Welt.
Neue Dimensionen von Sachbeschädigung
Obige Handlungskonstruktion darf man getrost als Indiz dafür werten, dass sich der deutsche Autor gründlich Gedanken über Plots gemacht hat, die in die zweite der genannten Kategorien fallen. Sehr erfreulich! "Die letzte Jagd" beispielsweise dreht sich um das innovative Verbrechen des Kontospringens: Dabei spekulieren die Täter mit KI-Unterstützung an der Börse, um sich anschließend in einen relativistischen Raumflug zu begeben und bei ihrer Rückkehr nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten astronomische Kapitalerträge abzuschöpfen. Klingt nach heutigen Maßstäben eher nach einer gewitzten Idee als nach einem Verbrechen - würde aber das Weltwirtschaftssystem zum Zusammenbruch bringen und wird daher unerbittlich geahndet. Und siehe da: Im Endeffekt kommt dieses Szenario sogar düsterer rüber als der Untergang des ganzen Universums, der in "Jenseits der Schöpfung" droht.
Die im Band "Schuldig in 16 Fällen" versammelten Geschichten stammen aus dem Zeitraum von 1995 bis 2012; sechs davon sind Erstveröffentlichungen. Jeder wird eine Illustration vorangestellt, auf der auch das jeweilige Delikt genannt wird: Von grobem Unfug bis Völkermord reicht die überaus bunte Palette; in heutigen Strafgesetzbüchern nicht enthaltene Tatbestände wie Zeitmanipulation würzen sie zusätzlich. Als Extra-Pointe lässt sich aus den Stichwörtern nicht unbedingt auf die Schwere des Verbrechens schließen. So trägt "Der Klang der Posaunen" den schlichten Vermerk Sachbeschädigung. Die "Sache" ist allerdings - je nach Sichtweise - eine Dyson-Sphäre bzw. die Gesamtheit der übervölkerten Welten im Sonnensystem. Hier wird nämlich eine Botschaft von Aliens die Hauptfiguren vor die Frage stellen, ob Zerstörung oder Unterlassung selbiger das eigentliche Verbrechen ist.
Gewissermaßen um Erstkontakte drehen sich auch "Prägenesis" (in dem Fall handelt es sich übrigens bei beiden Spezies um Außerirdische; erzählt wird das Ganze aus der Warte des unzivilisierten "Entdeckten") und "Terradeforming", das düstere Protokoll eines Umweltjournalisten, der einer unbekannten, Katastrophen auslösenden Entität um den Globus folgt.
Die Ökonomie des Erzählens
Ich habe mich angemessen verspätet. Von der Begründerin einer neuen Teildisziplin erwartet niemand pünktliches Erscheinen. Kurz vor Betreten des Festsaals ein Zupfen am Saum des schulterfeien, kleinen Schwarzen, ein letztes Sortieren der echt brünetten Locken. Ich bin so perfekt wie nur irgend möglich. Der Tanz kann beginnen. So fängt die Kurzgeschichte "Small Talk" an, in der sich die Erzählerin anschickt, einen möglichen Besucher aus einer Parallelwelt zu enttarnen. In derselben Erzählung fallen die Worte einfach, nüchtern, aber elegant - zwar auf etwas ganz anderes bezogen, aber man kann sie auch prima auf Behrends Schreibstil anwenden.
Arno Behrend ist ein sehr ökonomischer Erzähler, eine Eigenschaft, die ich überaus schätze. Kein unnötiges Expositions- oder Beschreibungsfett, stattdessen sofort rein ins Geschehen. Siehe auch die ersten Sätze von "In deinem Geiste", wo ein Ex-Söldner nachforscht, wie seine Komplizen bei einem Banküberfall von den vermeintlich harmlosen Geiseln gekillt werden konnten: Die Frau wirbelte drei Mal um ihre eigene Achse, ehe ihr Körper den von Hansen traf. Es war die grauhaarige Mittfünfzigerin, die Kleinegger als Buchhalterin an der Wall Street eingeschätzt hatte. Er sah ihre Drehungen in Zeitlupe. Ihr lauter Kampfschrei zog sich für ihn unendlich in die Länge, ehe sich ihre perfekt angespannten, runzligen Handteller mit der ganzen Wucht ihrer Bewegung in Hansens linke Flanke gruben. Das ist doch mal ein Kaltstart.
Weil die Idee zählt
Behrends Verzicht auf Unnötiges betrifft auch einen Faktor, bei dem SF-PuristInnen aufheulen könnten: Soll heißen, es wird gar nicht erst versucht, die mitunter fantastischen Technologien und Phänomene zu erklären, die in einigen Geschichten auftauchen: Seien es die "feinstofflichen Ströme" zwischen den Sternen in "Der Klang der Posaunen" oder die Vakuum- bzw. Quantenfelder, die in "Bubble-Gum-Express" und "Undank ist der Quanten Lohn" ein aberwitziges Ausmaß an Energieerzeugung ermöglichen. Letzteres glänzt übrigens mit einem leichten K. J. Parker-Einschlag, weil es hier zur Abwechslung mal der Erzähler der Geschichte - ein egoistisches Schlitzohr - ist, vor dem wir uns in Acht zu nehmen haben. Auch die mehrfach beschriebene Möglichkeit, sich in andere Zeiten oder die Köpfe anderer Menschen einzuklinken ("Mit anderen Augen", "In deinem Geiste", "Die ganze Wahrheit") begnügt sich mit kurzen Handwaving-"Erklärungen".
Positiv formuliert bedeutet das aber auch: Behrends Geschichten sind für jedermann verständlich und könnten in jedem beliebigen Magazin, das Kurzgeschichten abdruckt, gebracht werden. Was hingegen würde ein argloser "Playboy"-Leser (kein willkürliches Beispiel, der "Playboy" hatte mal eine SF-Schiene) zu einem Text von Hannu Rajaniemi sagen? Bei Behrend geht es immer um Ideen bzw. Gedankenspiele, das ist für alle zugänglich und hat einen Touch Golden-Age-SF.
Und einige Geschichten sind ohnehin nah an der Gegenwart und deren informationstechnologischen Phänomenen gehalten. "Im Feuerkreis" beispielsweise zeichnet eine Gesellschaft, in der das Konzept der Privatsphäre völlig aufgegeben wurde und jeder auf die intimsten Daten von jedem zugreifen kann. Als Lotteriegewinn winkt hier die Garantie auf umfassenden Datenschutz. Noch satirischer gibt sich "Blitzlichtgewitter", in dem der neue britische König William endlich ein Mittel gegen Paparazzi gefunden hat: Er lässt seine Leibgarde im Kollektiv zurückblitzen. Klingt lustig, kommt aber bemerkenswert ungemütlich rüber.
Und die Moral von der Geschicht'
Womit wir auch schon beim Thema Moral wären. Das Absehbare an Krimi-Massenware wie "CSI Dingsbums" ist ja, dass die Guten die Missetäter immer überführen. Tendenziell obsiegen auch bei Behrend die Kräfte des Guten - müssen aber gewaltige Anstrengungen und auch Verluste auf sich nehmen. Und manchmal bleibt der Ausgang auch ungewiss: Wie etwa in "Sondern für das Leben lernen wir", in dem sich die globale Bedrohung durch UV-Strahlung, eine neue Lernhilfe-Technologie und machtpolitische Ambitionen zu einem hässlichen Gesamtbild ergänzen. Zumindest sind hier aber die Lager von Gut und Böse klar zugeordnet.
In späteren Erzählungen mehren sich ambivalente Töne - siehe "Blitzlichtgewitter" oder "Messefieber", auch wenn in diesem das letzte Wort den Effekt leider ruiniert. Die Geschichte dreht sich um einen jungen Mann, der sich gegen den Widerstand seiner Familie von einem legendären Weltraumpionier zu einer Raumfahrtkarriere überreden lässt. Hier Lockrufe, dort Warnungen: Die Stimmung, die sich aus der Konfrontation des strahlenden Weltraumhelden mit der besorgten Familie ergibt, hält die Geschichte in einer schönen Balance der Ungewissheit. Dass besagtes letztes Wort klarmacht, in welche Richtung die Geschichte bitteschön interpretiert werden soll, hätt's meiner Meinung nach nicht gebraucht. Das bleibt aber auch schon mein einziger Kritikpunkt.
Abschließend sei noch "Die Zukunftsmacher" hervorgehoben, in dem der Erzähler und seine Begleiterin die Zeitlinie manipulieren. Und zwar tun sie dies ausgerechnet von einer SF-Convention aus, was Behrend die Möglichkeit gibt, die Geschichte der deutschsprachigen Science Fiction umzukrempeln und jede Menge bekannter Größen in einen neuen Kontext zu stellen: von Otto Basil bis zu "Handgranaten-Herbert" K. H. Scheer. Sehr vergnüglich!