Drei Frauen betreten einen Comicladen. Die Szenerie erstarrt: Die Kunden, junge Männer mit starkem Hang zu Nerd-Optik, unterbrechen wie vom Donner gerührt ihre hochkonzentrierte Suche nach neuen Heftchen. Alle Augen richten sich auf die Eindringlinge – und zwar so, als ob es sich um Wesen von einem anderen Stern handeln würde. Erst als der Besitzer die Burschen in Jogginghosen und Superhelden-T-Shirts daran erinnert, dass sie doch aus Filmen und Zeichnungen wissen müssten, wie Frauen aussehen, wenden sie ihre Blicke ab – wenn auch widerwillig. Diese Szene aus der erfolgreichen Sitcom "The Big Bang Theory" gibt ein vertrautes Bild wieder: Für die bunten, schmalen Heftchen voller Heldentaten brennen vor allem Jungs – und Männer, die nie so recht erwachsen geworden sind.

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Thor mit seinem Hammer Mjölnir, der den ohnehin schon über enorme Körperkraft verfügenden Donnergott mit zusätzlicher Macht ausstattet. Mjölnir werden sowohl zerstörerische als auch lebensspendende Kräfte zugesprochen. Nun hält den Zauberhammer die neue Thor in ihren Händen.
Foto: AP/Marvel Entertainment

Die Stars unter den Comic-Superhelden, die seit einigen Jahren auch in Hollywood teuer und mit großem Erfolg verfilmt werden, sind in der Tat männliche Identifikationsfiguren: Batman, Superman, Spiderman und Thor – alles virile Kerle, zumindest, wenn sie in ihren Dressen stecken.

Seit den 1930er-Jahren sorgen die Helden in Cape und Strumpfhosen in den einschlägigen Formaten für Recht und Ordnung, oft im Namen von Krieg und Propaganda: "Markttaugliche Superhelden-Comics arbeiten stark mit Heroismus", sagt die Kulturwissenschafterin und Comic-Expertin Barbara Eder. "Bei 'Captain America' geht es etwa um den patriotischen Dienst an der Nation. Überall, wo Patriotismus und Kriegslogik hineinspielen, ist das noch immer für Männer attraktiver."

Hammerschwingende Donnergöttin

Frauen in Superhelden-Comics waren meist nicht viel mehr als schmückendes Beiwerk in knappen Trikots und mit praller Oberweite, verführerische Amazonen, die schnell zu Opfern werden und auf männliche Retter angewiesen sind. Nicht unbedingt Eigenschaften, die Leserinnen anziehen. Sehr häufig dienten Superheldinnen auch als weibliche Pendants zu ihren berühmten Kollegen: Man denke nur an Spider-Woman, Batwoman und Batgirl, Catwoman und She-Hulk. Selbst Wonder-Woman-Erfinder William Moulton Marston – ein bekennender Feminist, der eine authentische Frauenfigur schaffen wollte – kam nicht um weibliche Klischees herum.

Wonder Woman war 1941 die erste Superheldin des DC-Comics-Verlag. Geschaffen wurde sie von William Moulton Marston und seiner Frau Elizabeth Holloway Marston.
Foto: DC Comics

Doch neuerdings scheint die Männerdomäne Superhelden ins Wanken zu geraten: Ausgerechnet Thor, ein gigantischer Hüne und Prototyp des maskulinen Helden, wird ab sofort als Frau auftreten. Der Comicverlagsriese Marvel hat mit der Ankündigung, dass künftig eine Donnergöttin den Hammer mit den magischen Kräften schwingen wird, einiges Aufsehen erregt.

Es ist nicht die einzige Veränderung im Marvel-Universum: Zuletzt wurde aus der blonden Ms. Marvel ein muslimisches Supergirl. Laut Marvel soll die neue Thor-Figur Frauen und Mädchen ansprechen, die bisher nicht als vorrangiges Publikum für Superhelden-Comics gegolten hätten. Sie ist auch dezidiert kein Lady-Thor oder She-Thor, sondern "the one and only Thor".

Doch warum waren Frauen so lange ausgeschlossen aus dem schillernden Kosmos der Comichelden? Und warum glaubt Marvel gerade jetzt, daran etwas ändern zu können? Oder soll die Idee schlichtweg eine neue zahlungskräftige Zielgruppe ins Marvel-Universum locken? Steffen Volkmer, Sprecher von Panini, bei dem die deutschsprachigen Rechte für sämtliche Marvel- und DC-Superhelden liegen, glaubt nicht daran. "Das hat weniger mit der Genderfrage zu tun als mit der Frage, wie man die Variabilität eines Charakters erhöhen kann, also wie man einen Helden drehen und wenden kann", vermutet Volkmer. "Das große Medienecho zeigt, dass man das Ganze einfach auch als guten PR-Gag betrachten kann."

Das Interesse von Frauen steigt

Es sei auch nicht notwendig, ein neues Publikum zu erschließen, sagt Volkmer: "Das weibliche Klientel ist längst da, was Comics im Allgemeinen und auch Superhelden-Comics betrifft." Deswegen seien die Erwartungen an die neue Thor-Serie nicht allzu hoch gesteckt: "Bis auf die erste Ausgabe, die sich sicher häufiger verkauft, wird sich die Neugestaltung auf Dauer nicht auf die Zusammensetzung der Leserschaft auswirken."

Offizielle Zahlen, wie sich der Kreis der Leserinnen und Leser von Comics zusammensetzt, gibt es nicht, aber ein paar Hinweise: Der digitale Comicvertrieb Comixology konnte laut eigenen Angaben den Anteil von Leserinnen von fünf Prozent im Jahr 2007 auf 20 Prozent im Jahr 2013 steigern, wie die Plattform Comic Book Resources berichtete. "Sie ist 17 bis 26 Jahre alt, hat eine College-Ausbildung, lebt in einem Vorort und hat möglicherweise noch nie ein gedrucktes Comic in die Hand genommen", charakterisiert Comixology die typische US-amerikanische Online-Leserin. Der Comic-Blogger Brett Schenker rechnete aufgrund einer Analyse von Facebook-Anzeigen aus, dass knapp 40 Prozent der Comicfans weiblich sein müssen.

"Saga" (erscheint seit 2012 bei Image Comics) handelt von dem Liebespaar Alana und Marko, die mit ihrer neugeborenen Tochter Hazel vor einem galaktischen Krieg fliehen.
Foto: Image Comics

Ulrich Koch, Mitglied der Gesellschaft für Comicforschung, Fan und Sammler seit mehr als 30 Jahren, kennt die Einschätzung der Händler: "Die sind sich darüber einig, dass es noch immer eine zum weitaus größeren Teil männliche Leserschaft gibt." Aber klar sei auch, dass das Interesse von Frauen kontinuierlich steige.

Politischer Stoff

Doch wirft man einen Blick über den Tellerrand der kommerziell erfolgreichen Comics und Superhelden-Geschichten mit hohen Auflagen, bekommt das Bild vom Comic als männlichem Kulturgut schnell Risse. Für Barbara Eder, Mitautorin des Buches "Theorien des Comics", ist dieses Image ohnehin eine "grobe Pauschalisierung", die auch das große Feld der Independent-Comics ausblende. "Es gibt unterschiedliche Genres und unterschiedliche Rezipientenstrukturen", bei den Indie-Comics habe es nie eine Schieflage zuungunsten von Zeichnerinnen und Leserinnen gegeben. Die Gestaltung und die Storys haben ihren Nährboden in den sogenannten "U-Comix", den Underground-Comics, die in den 1960er-Jahren in San Francisco entstanden. Ihr thematischer Stoff war politisch und folglich weniger massenkompatibel: Antipatriotismus, Kritik am Vietnam-Krieg, Feminismus, Rechte für Lesben und Schwule.

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Große Frisur, noch größere Augen, kleine, zerbrechliche Körper. Dennoch: Die Storys von Mangas begeistern Mädchen und Frauen.
Foto: AP/Kodansha USA Publishing LLC

Und noch ein Genre hat ein großes weibliches Publikum: die japanischen Mangas. Kristin Eckstein arbeitet für den Manga-Verlag Tokyopop und spricht von zwei Dritteln Leserinnen. Ausgerechnet bei jenem Genre, in dem Frauen und Mädchen mit tellergroßen Augen, winzigen Näschen und zerbrechlichen Körpern dargestellt werden. Doch in den sogenannten Shojo-Mangas (Shojo bedeutet Mädchen) sind es Heldinnen, die Freunde, Familie und die Welt retten. Zu Beginn der Storys sind sie oft völlig durchschnittliche Mädchen, die erst im Lauf der Handlung zu Frauen mit Superkräften werden, worin Eckstein ein weiteres Identifikationspotenzial für Leserinnen sieht.

Fehlende Studien über den "Schund"

In den 1960er-Jahren wurde der Shojo-Manga von den Comiczeichnerinnen der "Gruppe der 24er" revolutioniert – ästhetisch und inhaltlich. Die "24er" orientierten sich mit ihren Zeichnungen an den Kunstrichtungen Jugendstil und Romantik, thematisch wurde an Tabus gerührt: ungewollte Schwangerschaften, sexuelle Gewalt und Sexismus. Davon ist zwar heute im kommerziellen Manga nicht viel übrig, dennoch setzten sich die "24er" mit ihrem Anliegen durch, dass Geschichten für Frauen auch von Frauen produziert werden sollen: Seit den 1970er-Jahren kommen Shojo-Mangas fast ausschließlich aus der Feder von Zeichnerinnen. Und immerhin beschäftigen sich noch einige Shojo-Mangas mit sozialen Themen oder Geschlechterklischees, so Eckstein. In den Zeichnungen selbst schlägt sich das allerdings nicht nieder. Comicexpertin Barbara Eder sieht in der Infantilisierung von Frauen in den japanischen Mangas ein klares Zeichen der herrschenden Geschlechternormen.

Noch eine Szene aus einem Comicladen - zur Illustration des Blogeintrages "Frauen lesen keine Comics, oder?"

Auch abseits von Manga und Indie-Comic haben sich Frauen auf Leserinnen- und Produzentinnenseite etabliert. Die überaus erfolgreiche Science Fiction-Serie "Saga" etwa wird von der Kanadierin Fiona Staples gezeichnet. Und Gail Simone ist seit Jahren als Texterin für Superhelden und -heldinnen wie Batgirl, Wonder Woman und Secret Six bekannt. Vor ihrer steilen Karriere hatte sie sich mit der 1999 gegründeten Website "Women in Refrigerators" einen Namen gemacht. Darauf dokumentierte sie, wie die Rolle weiblicher Charaktere mit Superkräften meist endet: vergewaltigt, anderweitig traumatisiert – oder umgebracht und im Kühlschrank verstaut.

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Das Gesicht bleibt hinter einer Maske, und so viel Haut wie andere Superheldinnen zeigt Thor auch nicht.
Foto: AP/Marvel Comics

Thor als Cyborg

Über den Grund, warum es so wenige Studien über Zeichnerinnen, Produzenten und generell über die Geschlechterverhältnisse in der Comicwelt gibt, sind sich Fachleute einig: weil der Comic noch immer als "Schund" gilt. Ulrich Koch, schon früh passionierter Comicfan, erinnert sich, dass ihm seine Eltern Comics verboten haben: "Es herrschte die Meinung vor: Das ist etwas für Debile, für Leute, die nicht lesen können." Dagegen arbeiten nun neue Charakterzeichnungen: "Früher waren Batman oder Superman Haudraufhelden, die Gegner rasch plattmachten und so klischeehafte Jungsfantasien bedienten." Doch in den vergangenen 15 Jahren hätten sich auch Superhelden emanzipiert. "Sie bekamen Selbstzweifel, Schwächen und Zusammenbrüche", sagt Koch über die nicht mehr ganz so martialischen Superhelden.

Und wie groß ist nun Thors Verwandlung? Die Maske im Gesicht ist noch da, auch der mächtige Panzer. Mehr Haut zeigt Frau Thor nicht. Die blaue Kolorierung in den Zeichnungen durch die Rüstung erweckt für Barbara Eder Assoziationen zu Metall, "das nicht in eine Charakterzeichnung zu klassischen weiblichen Attributen passt". Zum anderen will Eder durch die metallene Ästhetik auch eine Anspielung auf Cyborgs erkennen, die als weibliche Emanzipationsfiguren gedeutet werden: die Maschine als Chance, die natürliche Ordnung durcheinanderzubringen.

Und der Comicladen ist als Erster dran. (Beate Hausbichler, Karin Krichmayr, 11./12.10.2014)

Szene aus "The Big Bang Theory": So schnell ist im Comicladen ein kleiner Aufruhr veranstaltet – drei Frauen treten ein.
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