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Instandhaltungsroutine an einer nuklearen Rakete in den USA.

Foto: AP/Wade

derStandard.at: Sie sagen, dass sich die technischen Schwellen, eine Nuklearwaffe einzusetzen, verringert haben. Stellt der technische Fortschritt also eine Gefahr für die Weltsicherheit dar?

Bruce Blair: Zunächst gilt. Das Risiko vergrößert sich automatisch mit der Anzahl an Staaten, die Nuklearwaffen haben. Viele der Staaten orientieren sich aber an den USA, um die Einsatzfähigkeit ihrer Waffen zu stärken, sie also in dauernder Alarmbereitschaft zu haben. Weil also die Zündschnur zum Einsatz der Waffen immer kürzer wird, steigt das Risiko, dass eine solche Waffe auch ungewollt oder ohne Autorisierung benützt wird, wenn eine Krise versehentlich eskaliert.

derStandard.at: Welche Bedeutung hat es, dass, wie Sie sagen, im Ernstfall der Auftrag für die Zündung einer Nuklearwaffe die Länge eines Tweets hat?

Blair: Die Technologien haben sich über die menschlichen Fähigkeiten, Information zu verarbeiten, hinaus weiterentwickelt. Die USA können jeden Raketenstart in der Welt innerhalb von Sekunden durch Satellitenüberwachung entdecken. Raketen fliegen von der einen Seite der Erde auf die andere innerhalb von dreißig Minuten. Wir können zwar verfolgen, dass eine Rakete abgeschossen wurde, haben aber maximal dreißig Minuten Zeit, um zu entscheiden, was getan werden soll. Weil da aber so viele Schritte im Protokoll sind, hat zum Beispiel der US-Präsident nur zwölf Minuten, um eine Entscheidung zu fällen. Der Prozess ist voller Zeitdruck und Adrenalin, sodass überlegtes Nachdenken von Checklisten und vorprogrammierten Optionen abgelöst wurde. Es ist keine Zeit mehr für rationales Überlegen und Führen. Das wurde durch ein Drehbuch ersetzt. Und das macht es gefährlich. Wir haben ja schon einige Male einen falschen Alarm erlebt, der uns schon sehr nah an einen Abschuss gebracht hat. Eine meiner größten Sorgen ist, dass immer mehr Länder diesem hochtechnologischen Weg folgen.

derStandard.at: Die US-Regierung plant ihr Nukleararsenal mit Milliarden von Dollar zu modernisieren. Ein notwendiger Schritt?

Blair: Bis zu einem gewissen Grad ist es sicher so, dass die alten Technologien verlässlicher sind. Die alten Computer sind schwerer zu hacken, Cyberkrieg zu führen ist schwieriger. Teile des alten Materials sind zum Beispiel auch nicht angreifbar durch elektromagnetische Impulse. Aber auf der anderen Seite: Wie lang will man mit einem Auto fahren, das keinen Airbag und keinen Sicherheitsgurt hat? Diese Geräte brauchen viel Wartung, und die Sicherheitsstandards können nicht eingehalten werden. Es ist daher wichtig, dass die Mängel in der Ausstattung behoben werden. Dafür würde ich auch Geld aufwenden.

Ich halte aber nichts davon, in die Idee zu investieren, dass diese Atomwaffen für die nächsten 100 Jahre erhalten bleiben sollen. Ich unterstütze eine drastische Reduktion der US-Atomwaffen, die hoffentlich auch parallel in Russland passiert. Das würde sehr viel Geld sparen, wenigstens 100 Milliarden Dollar in zehn Jahren.

derStandard.at: Das scheint allerdings nach den Entwicklungen in der Ukraine und dem Konfrontationskurs zwischen dem Westen und Russland nicht sehr wahrscheinlich.

Blair: Ja, der Konflikt in der Ukraine hat die Aussichten auf eine Abrüstung weiter abgewürgt.

derStandard.at: Ist der Atomwaffensperrvertrag in einer Sackgasse angelangt?

Blair: Die USA haben ein Angebot auf den Tisch gelegt, Nuklearwaffen im Zuge der nächsten Verhandlungen um ein Drittel verringern zu wollen. Es hängt von Putin ab, ob er das wahrnimmt und verhandelt. Russland ist kein Tanzpartner der USA in dieser Angelegenheit. Aber schon vor der Ukraine-Krise hat Russland klargestellt, dass es keine neue Verhandlungsrunde beginnen möchte, bevor nicht das derzeitige New-START-Abkommen implementiert ist, das bis 2018 läuft.

derStandard.at: Vielerorts wird aufgrund des Konflikts rund um die Ukraine ein neuer Kalter Krieg heraufbeschworen. Berechtigterweise?

Blair: Der Kalte Krieg war ein Krieg der Ideologien. Diese ideologischen Aspekte sind heute nicht mehr so streng zu trennen, es geht nicht um Kapitalismus gegen Kommunismus, obwohl Putin natürlich die konservativen russischen Werte gegenüber dem "dekadenten Westen" heraufbeschwört. Der Kalte Krieg war ein globaler Krieg, mit vielen Alliierten auf beiden Seiten. Russland hat jetzt keine nennenswerten Alliierten. Putin will keinen Einfluss in der ganzen Welt, in Südamerika, so wie das zur Zeit des Kalten Krieges war, sondern die unmittelbare Umgebung sichern. Russland agiert aus einer Position der Schwäche heraus. Putin hat zwar seine Popularität, die auf 53 Prozent gesunken ist, wieder auf 87 Prozent anheben können. Aber das wird nicht anhalten, die Wirtschaft stagniert. Deshalb sind Putins Optionen immer limitierter.

Meine Sorge ist, dass er in dieser Situation zu extremen Mitteln greift und die Lage in der Ukraine noch verschärfen wird. Ich bin besorgt über irrtümliche Eskalation, Kontrollverlust und dass daraus ein nuklearer Konflikt entsteht, der nicht beabsichtigt war. Wir sind natürlich nicht einmal ansatzweise in so einem Stadium, aber es ist eine rutschige Angelegenheit und kann eskalieren. Die USA haben mit Russland ein feindliches Verhältnis, es wird lange dauern, bis wir den Vertrauensverlust wettmachen können.

derStandard.at: Obama hat versprochen, an einer Wahl ohne Nuklearwaffen arbeiten zu wollen. Wie fällt Ihre Bilanz zu seinen Wahlkampfansagen aus?

Blair: Er ist ein Visionär, der aber außenpolitisch nicht wirklich viel gesteuert hat. Er hat es verabsäumt, seine Beamten damit zu beauftragen, eine Strategie oder Roadmap auszuarbeiten, um die nukleare Abrüstung voranzutreiben. Ich würde seine Leistung in diesem Bereich deshalb als sehr schwach beurteilen. Es war nie eine Priorität. Obama dachte, dass sich das von selbst entwickeln würde.

derStandard.at: Die Atommächte verhandeln seit geraumer Zeit mit dem Iran über dessen Atomprogramm. Fehlt es dem Gremium mittlerweile an Glaubwürdigkeit?

Blair: Wenn die Atommächte nicht die Eliminierung von Atomwaffen zum Ziel haben, dann können sie auch nicht erwarten, dass sich andere Staaten wie der Iran an ihre Verpflichtungen halten. Sind die P5 ihren Verpflichtungen nachgekommen? Ich glaube nicht. China hat sein Atomwaffenarsenal erweitert, anstatt es zu verkleinern. Die USA und Russland modernisieren ihre Atomwaffen in den nächsten Jahren. Insofern kann man sagen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird.

derStandard.at: Wie wahrscheinlich ist es, dass Atomwaffen in die Hände von Terroristen gelangen?

Blair: Es ist ein durchaus glaubhaftes Szenario, dass Terroristen an Atomwaffen kommen. Es reicht schon nukleares Material. Dann eine Waffe daraus zu machen, ist nicht so schwierig.

Es gibt Teile der Welt, wo ich stark bezweifle, dass nukleares Material und Atomwaffen sicher verwahrt sind. Das gilt zum Beispiel für Pakistan, einen Staat, der jederzeit kollabieren könnte. Wenn das passiert, könnten über 100 Nuklearwaffen über Nacht in die Hände von Jihadisten fallen. Ganz zu schweigen von den internen Sicherheitsproblemen in Pakistan etwa durch die Infiltration von Taliban-Sympathisanten, die Atomwaffen stehlen könnten. Keiner kennt die Risiken und kann sie vergleichen.

derStandard.at: Sie sind Mitbegründer der Bewegung "Global Zero", die sich für eine atomwaffenfreie Welt einsetzt. Werden Atomwaffen in der Bevölkerung denn überhaupt noch als reale Bedrohung wahrgenommen?

Blair: Nein, überhaupt nicht. Die ganze Welt ist selbstgefällig, was das betrifft. Immer mehr Menschen, die die Gefahr, die von Atomwaffen ausgeht, aus eigener Erfahrung kennen, sterben jedes Jahr. Das Wissen geht verloren und die Erinnerung schwindet. Der jungen Generation wird diesbezüglich nichts vermittelt. Das Thema sollte aber eigentlich einen ebenso großen Platz einnehmen, wie die Debatten über den Klimawandel und die Erderwärmung.

Nachdem der Abrüstungsprozess zwischen den USA und Russland nun ziemlich eingefroren ist, konzentrieren wir uns als Bewegung darauf, die Atomwaffenländer dazu zu bewegen, ihre Atomwaffen nicht mehr in Alarmbereitschaft zu halten. Das würde die unmittelbare Gefahr drastisch verringern und das über Nacht. China, Indien und Pakistan sollten diesbezüglich Vorbild für die USA und Russland sein. Fast alle von Chinas Nuklearwaffen sind in einem einzigen Komplex untergebracht. Die Länder dazu zu bringen, von der Alarmbereitschaft Abstand zu nehmen, könnte auch den Weg für ein Verbot schneller ebnen. (Teresa Eder, derStandard.at, 9.12.2014)