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2014 gab es in Frankreich doppelt so viele Obdachlose wie noch 2001.

Foto: REUTERS / John Schults

Die Bauarbeiter kamen in der Nacht vor Weihnachten. Am Weihnachtstag staunten Passanten in der westfranzösischen Stadt Angoulême: Sämtliche Sitzgelegenheiten am Marsfeld waren eingezäunt. Feste Eisengitter umgaben die neun Betonbänke gegenüber einer Einkaufsgalerie. Die Stadtverwaltung gab bekannt, sie habe die Bänke sperren lassen, da sie "fast ausschließlich durch Personen benutzt werden, die sich wiederholtem Alkoholgenuss hingeben".

Offenbar hatten die Besitzer umliegender Läden die Maßnahme verlangt. Einige erklärten, die mehrheitlich jungen Obdachlosen lungerten den ganzen Tag auf den Bänken herum, zerbrächen Weinflaschen und betrieben mit ihren Hunden Kampfspiele.

Viertel der Obdachlosen hat einen Job

Die Maßnahme hatte auch politische Folgen, landesweit folgte ihr ein lauter Proteststurm. Ein Sitzbankverbot klinge nach Apartheid, hieß es im Internet. Der Stadtplaner Alexandre Chemetoff, der das Marsfeld konzipiert hatte, zeigte sich ebenfalls "schockiert". Am Tag nach Weihnachten krebste der konservative Bürgermeister Xavier Bonnefont zurück und ließ die Gitter "aus Sicherheitsgründen", entfernen. Allerdings nur "provisorisch", wie er anfügte: Nach den Feiertagen sollen die Bänke durch künstlerische Steinhaufen ersetzt werden.

Der Fall spricht Bände über die zunehmende soziale Misere in ganz Frankreich. Landesweit hat sich die Zahl der "Wohnsitzlosen" ("Sans domicile fixe", kurz SDF) laut dem Statistikamt Insee seit 2001 auf 120.000 verdoppelt. Eine Zahl fern jeder Clochard-Romantik, die von einem sozialen Massenphänomen zeugt. Und einem Massenelend: Ein Viertel der französischen Obdachlosen sind laut Insee berufstätig. Meist ist der Arbeitgeber nicht einmal darüber informiert, dass einer seiner Angestellten im Auto oder unter der Brücke übernachten muss. Oder eben – bisher – auf einer steinernen Sitzbank. Seit Einbruch der jüngsten Kältewelle sind in Frankreich mindestens fünf Menschen erfroren.

Eisenspitzen und Kaktusbeete statt Bänken

Die Behörden von Angoulême reagieren so überfordert wie in vielen anderen Orten im Land: Sie ersetzen Sitzbänke durch Klötze, Kieselsteine, Eisenspitzen oder Kaktusbeete. Andere bringen etwa Armlehnen an, um die Liegestellung zu verunmöglichen; die Pariser U-Bahn neigte einige besonders beliebte Plastiksessel gar in aller Diskretion nach unten – wer einschläft, fällt zu Boden. Publik geworden war vor Jahren der Versuch im Pariser Vorort Argenteuil, die Clochards mit Stinkgas von den städtischen Anlagen fernzuhalten; erst ein landesweiter Aufschrei stoppte das Vorhaben.

Eine ähnliche Debatte gab es jetzt in Marseille. Die bürgerliche Stadtregierung hatte ohne Absprache mit humanitären Organisationen eine spezielle SDF-Markierung eingeführt: Damit sie in Krankenhäusern, Notunterkünften oder Essensausgaben erkannt würden, wie es hieß, sollten Obdachlose einen Ausweis mit einem großen gelben Dreieck an sich und vorzugsweise um den Hals tragen. Die erboste Reaktion konnte nicht ausbleiben: Das erinnere an eine andere allzu bekannte Beamtenverfügung, nämlich den Davidstern der Nationalsozialisten, meinte ein Kollektiv namens "Das jüngste Gericht". Vize-Bürgermeister Xavier Mary nannte diesen Vergleich zuerst "absurd". Vor Weihnachten räumte er aber ein, der Vorschlag sei "zweifellos ungeschickt" gewesen. Seine Stadt sucht nun eine "bessere Lösung". Welche, will sie erst nach den Festtagen sagen. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 31. 12. 2014 / 1. 1. 2015)