Verloren sein: Mit den Methoden der Validation werden Menschen mit Demenz so betreut, wie sie es selbst gerne gewollt hätten. Angehörige liefern die Informationen.

Foto: Christian Fischer

Über den ganzen Boden verteilt liegen Erwachsenenwindeln. Daneben steht Frau Hübner (Name von der Redaktion geändert). Sie hat eine Kiste voller Windeln in der Hand und verstreut sie. Frau Hübner ist demenzkrank. In ihrer Vorstellung befindet sie sich im Stall des Bauernhofs, auf dem sie ihr Leben lang gewohnt hat. Sie ist gerade dabei, Streu für die Kühe auszulegen.

Im Haus 3 eines Pensionistenheims in der niederösterreichischen Provinz leben zwölf Menschen mit Altersdemenz. Die Ausstattung erinnert an ein Bauernhaus. Die Tapeten haben ein altmodisches Blumenmuster, die Bettbank quietscht und knarrt, wenn man sich darauf setzt. In der Ecke hängt ein Kruzifix, rechts und links davon Heiligenbilder von Jesus und Maria.

Die kleinen Tricks bei Demenz

Die "Leute", so nennt die Belegschaft die Bewohner des Hauses, sollen sich fühlen, als wären sie daheim. "Die meisten haben früher auf Bauernhöfen gewohnt", erzählt Schwester Trudi. Sie trägt eine weiße Hose und ein blau-weiß gestreiftes Oberteil auf dem ihr Name steht. Schwester wird von den Bewohnern hier jeder genannt, auch die Zivildiener, Heimhelfer und Putzkräfte. Die Eingänge der Station sind hinter Vorhängen versteckt, weil die Leute sonst ausreißen würden. "Wenn sie die Türen nicht sehen, wissen sie nicht, dass sie da sind", erklärt Schwester Trudi.

Im Fernsehen läuft das "Wetter-Panorama" von ORF 2 mit Marschmusik im Hintergrund. Die drei Angestellten der Station sind gerade dabei, die Leute mit dem Frühstück zu versorgen. Zwischen 7 und 9.30 Uhr wird jeder aus dem Bett geholt, gewaschen, angezogen und gefüttert. Es gibt Kaffee und Buttersemmeln mit Marmelade. Und für die meisten auch viele Tabletten.

Plötzlich: Ein lauter Glockenton. In jedem Zimmer des Heims gibt es einen Knopf, mit dem die Pensionisten nach den Schwestern und Pflegern rufen können. Auch manche Türklinken sind mit einem Mechanismus versehen, der automatisch die Glocke läuten lässt, wenn die Türschnallen nach unten gedrückt werden. "Das ist notwendig, damit wir wissen, ob jemand sein Zimmer verlässt. Manche Leute würden sonst einfach abhauen", sagt Trudi.

Auch Frau Koppensteiners Tür hat einen solchen Mechanismus. Sie hat die Angewohnheit, die Tür kurz zu öffnen, einen Blick nach draußen zu werfen, und sie danach gleich wieder zu schließen. Die Angestellten wissen aus der Bewohnerakte der Frau, dass sie früher auch oft das Tor ihres einstigen Hauses geöffnet, einen Blick auf das gegenüberliegende Dorfwirtshaus geworfen und es wieder geschlossen hat. Die Gewohnheit hat sie beibehalten. Den Vorgang wiederholt sie im Altersheim etwa alle zwanzig Minuten. Dementsprechend oft ertönt auf der Station die Rufglocke.

Das Leben der Bewohner kennen

Über jeden Bewohner gibt es eine Akte, in der gesammelt wird, wie eine Person aufgewachsen ist, in welchem Beruf sie gearbeitet und welche Schicksalsschläge sie erlebt hat. Die Informationen kommen meist von den Angehörigen. Für die Angestellten ist es wichtig, die Vorgeschichte der Bewohner zu kennen, um sie verstehen und auf sie eingehen zu können.

Die Leute in ihrem Glauben zu lassen, ist laut Schwester Trudi sehr wichtig. "Die Bewohner sprechen oft davon, dass sie nach Hause müssen, um die Kühe zu melken oder das Heu einzubringen. Ich sag’ ihnen dann, dass ich die Milch schon weggebracht habe, oder dass das Wetter für die Feldarbeit heute zu schlecht ist."

Diese Methode heißt Validation. Der Grundgedanke dahinter ist, das Verhalten von demenzkranken Menschen als für sie gültig zu akzeptieren. Sie sollen dabei unterstützt werden, die noch unerledigten Aufgaben ihres Lebens nachzuholen.

Entwickelt wurde diese Methode von der amerikanischen Gerontologin Naomi Feil. Lässt das Kurzzeitgedächtnis nach, versuchen alte Menschen, ihr Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem sie auf Erinnerungen zurückgreifen. Laut Feil werden schmerzliche Gefühle, die anerkannt und von einer Pflegeperson validiert werden, schwächer. Das Mitgefühl führt zu Vertrauen, verringert die Angst und stellt die Würde der Menschen wieder her.

Die nackten Tatsachen von Demenz

Laut erstem Österreichischen Demenzbericht der Wiener Gebietskrankenkasse leben in Österreich über 100.000 Menschen mit einer Demenzerkrankung. Die Zahl wird bis ins Jahr 2050 auf etwa 270.000 steigen.

Der Bericht kritisiert, dass in Österreich Behandlungspfade und Therapieleitlinien fehlen. Weitere Probleme sind mangelnde Koordination, Information und Überlastung der Angehörigen.

Einer Untersuchung zufolge haben über elf Prozent der Demenzkranken mehr als vierzig Mal pro Jahr einen Arzt aufgesucht. Das lässt darauf schließen, dass Ärzte die Rolle von Sozialarbeitern übernehmen, weil die Erkrankten nicht wissen, an wen sie sich wenden können. Derzeit werden nur etwa 20 Prozent der Erkrankten in stationären Einrichtungen gepflegt, 80 Prozent von Angehörigen daheim.

Im Haus 3 ist jetzt das Tagesprogramm dran. Vormittags und nachmittags wird mit den Bewohnern gebacken, gemalt oder Karten gespielt. Die Beschäftigungstherapie ist Vorschrift. "Wenn wir Schwarzer Peter spielen, halten die Leute die Karten in der Hand, alles andere machen wir", sagt Schwester Trudi. An einem der Tische sitzt Michael neben zwei Bewohnerinnen. Er ist der Zivildiener der Station und liest den beiden Damen aus der Zeitung vor. "Mein Gott!", ruft eine der Frauen nach beinahe jedem Satz. Im Hintergrund ertönt Frau Koppensteiners Rufglocke.

Fordern ohne zu überfordern

Am Nebentisch sitzen sich zwei Männer gegenüber. Auf der Tischfläche hat das Personal Memory-Karten für sie aufgelegt. Abwechselnd suchen sie nach zusammenpassenden Paaren. Schwester Trudi sitzt daneben um zu helfen: "Der Unterschied zu normalem Memory ist, dass wir hier von Anfang an die Karten mit der aufgedeckten Seite nach oben hinlegen."

Im Gehirn eines Demenzkranken schrumpfen die Nervenzellkontakte im Verlauf der Krankheit und es kommt zu einer Veränderung der Hirnstruktur.

Wichtige Funktionen des Gehirns wie das Gedächtnis, Denken, Orientierung, Handlungsplanung und Sprache gehen verloren. Es kann zu Depressionen, Angstzuständen und Veränderungen im Verhalten und der Persönlichkeit kommen.

Schwester Trudi arbeitet seit vielen Jahren in der Betreuung von Menschen mit Demenz und weiß, dass Demenz nichts mit Intelligenz zu tun hat: "Ein paar unserer Bewohner waren früher sehr erfolgreich und gesellschaftlich angesehen. Heute wissen sie gar nichts mehr davon."

Dass die Krankheit für die Betroffenen nicht schlimm ist, weil man als Patient selber davon nichts weiß, glaubt Schwester Trudi nicht. "Mit einer unserer Bewohnerinnen stehe ich täglich im Badezimmer und bitte sie, aufs Klo zu gehen. Obwohl sie direkt davor steht, weiß sie nicht, was sie tun soll. Wenn ich sie dann an der Hand nehme und hinsetze, kommen ihr jedes Mal die Tränen. Ich glaube, dass ihr in dem Moment bewusst wird, dass irgendwas mit ihr nicht stimmt."

Eine Herausforderung für die Angehörigen

Es ist Zeit für das Mittagessen. Eine Frau um die 50 kommt von draußen herein. Es ist die Tochter von Frau Fischer und eine der wenigen Angehörigen, die regelmäßig zu Besuch kommt. Sie setzt sich neben ihre Mutter und gibt ihr Bissen für Bissen das Mittagessen.

Frau Fischer erkennt ihre Tochter nicht mehr. Die alte Frau sitzt da, öffnet den Mund und summt vor sich hin. Frau Fischer war früher Chorleiterin, spielte in der Kirche die Orgel. Nach und nach verlor sie ihr Gedächtnis. Sie vergaß die Griffe zu den Noten und verspielte sich immer öfter in der sonntäglichen Messe. Das Gelächter im Dorf war groß. Um dem Spott zu entgehen, entschied die Tochter, ihre Mutter weg von daheim und in ein betreutes Wohnheim zu bringen.

Schwester Trudi weiß, dass viele der Verwandten es nicht ertragen, ihre Angehörigen zu sehen: "Die wenigsten unserer Bewohner erkennen ihre eigenen Kinder. Das macht den Verwandten schwer zu schaffen. Sie versuchen die Krankheit der Eltern zu verdrängen und ihr aus dem Weg zu gehen. Die meisten kommen dann nur mehr einmal im Jahr, zu Weihnachten oder am Muttertag."

Erneut ertönt der vertraute Klang der Rufglocke. Frau Koppensteiners Tür geht auf. Schwester Trudi winkt der alten Frau zu. Mit der anderen Hand dreht sie einer der Bewohnerinnen gerade Lockenwickler in das weiße Haar. In leisem Ton sagt sie: "Ich wär' später lieber tot als dement." (Bernadette Redl, derStandard.at, 7.1.2015)