Die Manot-Karsthöhle im Norden Israels gilt als regelrechte Schatzkammer für Funde aus der Frühzeit des Menschen. Ein Felssturz konservierte die Überreste über Jahrtausende hinweg.

Foto: Israel Hershkovitz, Ofer Marder & Omry Barzilai

Gerhard Weber vom Department für Anthropologie der Universität Wien und sein Team untersuchten das Schädelfragment mit Methoden der "virtuellen Anthropologie", einem Verfahren, das die Wiener Forscher vor einigen Jahren entwickelt haben.

Illu.: Gerhard Weber

Tel Aviv/Wien - Wann der moderne Mensch erstmals seinen Fuß auf europäischen Boden setzte, ist ungewiss. Heute geht man davon aus, dass dieses einschneidende Ereignis mindesten 45.000 Jahre her ist. Auf dieses Alter hat man die frühesten bekannten Überreste eines Cro-Magnon-Menschen - zwei Milchzähne aus der Grotta del Cavallo in Süditalien - diesseits der natürlichen Grenze zu Asien datiert.

Begonnen hat Homo sapiens seinen Siegeszug um den Globus im Osten Afrikas über 30.000 Jahre zuvor: Bisherige Funde und genetische Belege untermauern die heute weithin anerkannte Out-of-Africa-Theorie, wonach der moderne Mensch den afrikanischen Kontinent vor 60.000 bis 70.000 Jahren verlassen hat und in Richtung Osten aufgebrochen ist.

Welche Wege die Urmütter und Urväter aller heute lebenden Nichtafrikaner in der Zeit dazwischen beschritten haben und wann der moderne Mensch auf den Neandertaler traf, um sich mit ihm erstmals zu vermischen, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Jedenfalls existieren nur wenige aussagekräftige Belege aus dieser Ära der Menschheitsgeschichte.

Ein im aktuellen Fachjournal Nature präsentierter Fund könnte nun aber entscheidende Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen liefern: Vor fünf Jahren legte ein israelisches Wissenschafterteam in einer Höhle im Norden Israels neben anderen Überresten aus dem Jung- und Mittelpaläolithikum Schädelreste frei, die sich nun bei genauerer Untersuchung als Sensation entpuppten.

Segensreicher Höhleneinsturz

Dass die Manot-Karsthöhle überhaupt eine regelrechte paläoanthropologische Schatzkammer darstellt, ist wohl einem geologischen Glücksfall geschuldet: Irgendwann vor 15.000 bis 30.000 Jahren stürzte das Dach der Höhle ein und konservierte die menschlichen Überreste für die Nachwelt.

Anfangs bewahrte das entdeckte Fragment noch sein Geheimnis: Zum Leidwesen der Forscher rund um Israel Hershkovitz von der Tel Aviv University bestand ihr Fund nur aus einer Schädelkapsel, der für die paläoanthropologische Bestimmung wichtige Gesichtsschädel fehlte. Ob es sich um Überreste eines Homo sapiens oder Neandertalers handelte, ließ sich daher zunächst nicht beurteilen.

Erst ein Team um Gerhard Weber vom Department für Anthropologie der Universität Wien brachte Licht in die Angelegenheit. Die Wissenschafter untersuchten das Manot-Fragment mit einem Computertomografen und verglichen die gewonnenen Daten mit mehreren Hundert anderen Schädeln.

Das Ergebnis war eindeutig und aufregend gleichermaßen: Einige markante Merkmale des Manot-Schädels glichen jenen von jungpaläolithischen Homo-sapiens-Funden aus Zentraleuropa, zeigten aber keine Gemeinsamkeiten mit jüngeren Überresten des modernen Menschen aus der levantinischen Region.

Mit anderen Worten: Die Wissenschafter hielten das Schädelfragment eines Vertreters jener Menschen in Händen, die nur wenige Tausend Jahre später Europa besiedeln sollten.

Die Datierung lieferte schließlich die Bestätigung: Anhand der Uran-Thorium-Methode bestimmten die Wissenschafter die mineralischen Ablagerungen rund um den Knochen auf 50.000 bis 60.000 Jahre. Damit ist das Manot-Fragment rund 10.000 Jahre älter als die frühesten europäischen Vertreter des Homo sapiens und bis zu 10.000 Jahre jünger als jene modernen Menschen, die sich gerade anschickten, Afrika zu verlassen.

Ein erstes Zusammentreffen

Dass die ersten Menschen auf ihren Wanderrouten den Weg über die Levante gewählt haben könnten, ist nach Ansicht der Experten naheliegend. Allein waren sie in der Region aber nicht: Etwa aus derselben Zeit stammen zahlreiche Belege für die Anwesenheit von Neandertalern in der Levante. Man hatte bereits zuvor vermutet, dass der Mensch und der Neandertaler am östlichen Mittelmeer erstmals aufeinandertrafen. Doch erst der Schädel aus der Manot-Höhle liefert nun den Beweis dafür.

Als der Homo sapiens Europa betrat, könnte er also bereits jene ein bis vier Prozent Neandertalergene in sich getragen haben, über die er bis heute verfügt. Ob dies tatsächlich der Fall war, müssen Untersuchungen der Erbsubstanz des Manot-Menschen ergeben. Allerdings ist fraglich, ob die noch vorhandene DNA aus dem Schädel zu aussagekräftigen Ergebnissen führt. (Thomas Bergmayr, DER STANDARD, 29.1.2015)