Immer ein offenes Ohr – auch für jene, die sonst nicht gehört werden –, aber irgendwann ist Schluss: WDR-Nachttalker Domian wünscht sich eine eigene TV-Talkshow.

Foto: WDR/Ludolf Dahmen

STANDARD: Sind Sie Deutschlands billigster Psychiater?

Domian: Nein. Ich kann nicht die Rolle eines Psychiaters übernehmen. Ich bin für Anrufer ein ganz normaler Gesprächspartner, der eine Meinung hat. Ganz im Sinne der amerikanischen Talkradio-Tradition.

STANDARD: Sie haben im Laufe der Jahre mit vielen Opfern, aber auch Tätern gesprochen. Hat sich Ihr Menschenbild verändert, sprich verschlechtert?

Domian: Eindeutig ja. Ich habe mir früher nicht vorstellen können, wozu Menschen fähig sind. Der Blick in so viele Abgründe hat mir das nun gezeigt. Aber ich finde das nicht weiter dramatisch, in dem Sinne, dass es mein Weltbild zerstört. Alles ist, wie es ist. Denn auf der anderen Seite weiß ich dadurch noch mehr zu schätzen, dass es so viele tolle, tapfere und mutig Menschen gibt, die ihr Schicksal auf eine Art und Weise meistern, wie ich es nie hinkriegen würde. Ebendiese Leute sind auch oft meine Interviewpartner.

STANDARD: Sie hören zwar zu, sind aber nicht neutral und mit einem Urteil bei der Hand. Fällt es schwer, zu allen eine Meinung haben zu müssen?

Domian: Ich formuliere nur eine Meinung, wenn ich eine Meinung habe. Konzept der Sendung ist, nichts vorzutäuschen. Dazu gehört eben auch, meine eigenen Unzugänglichkeiten zu zeigen. Ich habe schon oft gesagt: Ich bin ratlos. Oder: Dazu kann ich nichts sagen. Grundsätzlich allerdings wollen die Leute in einem solchen Format einen Moderator mit Meinung. Es ist wie im realen Leben. Ein neutraler Freund ohne Haltung interessiert mich nicht. Ich will eine Meinung von meinem Gegenüber hören, auch wenn ich mich daran reibe.

STANDARD: Haben sich die Probleme im Lauf der letzten 20 Jahre geändert, oder geht es nach wie vor um Grundbedürfnisse, Krankheiten, Partnerschaft, Sex und Freunde?

Domian: Im Prinzip hat sich nichts geändert. Allerdings rufen die Leute weitaus weniger zu Sexthemen an. Dies liegt eindeutig am Internet. Viele Dinge, die wir heute tausendfach aus dem Netz kennen, waren früher eben unbekannt. Ich erinnere mich, wie spektakulär es damals war, den ersten Windelfetischisten in der Leitung zu haben – oder einen 24-Stunden-Sklaven. Schwerpunktthemen heute sind die menschlichen – allzu menschlichen. Also Leid, Glück, Tod, Liebe, Einsamkeit. Allerdings melden sich die Leute auch zu aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Themen. Zum Beispiel zur Islam-Debatte, der Ukraine-Krise oder zur derzeitigen Flüchtlingsproblematik.

STANDARD: Früher war eine Domina schon ein Aufreger, heute gibt es Windelfetischisten und noch ganz andere Neigungsgruppen. Haben sich Wünsche ausdifferenziert?

Domian: Es gibt kaum mehr Tabus. Große Wellen allerdings schlug vor anderthalb Jahren eine Sendung zum Thema Sodomie. Wir haben uns damit beschäftigt, weil dieses Thema damals auch im Innenausschuss des Deutschen Bundestages behandelt wurde. Der Hintergrund ist, das der Gesetzgeber plant, die Sodomie zu verbieten, was ich ganz eindeutig richtig finde.

STANDARD: 20.000 Anrufer und ebenso viele Probleme und Geschichten: Wie können Sie abschalten?

Domian: Nach der Sendung gibt es immer eine Besprechung mit dem gesamten Team und den Psychologen. Das tut sehr gut. Allerdings nehme ich besonders dramatische und traurige Fälle regelmäßig mit nach Hause. Aber das ist auch gut so. Das geht jeder Krankenschwester und jedem Arzt so. Würde alles an mir abprallen, wäre ich der falsche Mann für diesen Job. Besonders nahe gehen mir die Gespräche mit Sterbenden und mit Menschen, die gerade einen Angehörigen verloren haben. Hier stoße ich natürlich immer an meine Grenzen. Der Tod ist nicht erklärbar.

STANDARD: Mit wem reden Sie, wenn Probleme auftauchen?

Domian: Mit meinen wenigen, aber sehr guten Freunden.

STANDARD: Hatten Sie manchmal das Gefühl, Schilderungen nicht ernst genommen oder nicht richtig reagiert zu haben?

Domian: Ja, das passiert. Man ist ja nicht immer in Topform. Es gab auch schon Fälle, da habe ich den Anrufer später privat noch einmal angerufen und mich korrigiert.

STANDARD: Welches Rezept haben Sie entwickelt, um Schwindlern auf die Schliche zu kommen und Lügengeschichten zu entlarven?

Domian: Das überlasse ich in der Regel meinen Mitarbeitern, die die Vorauswahl treffen. Nach den vielen Jahren sind meine Rechercheure sehr versiert im Erkennen von Fakes. Es gibt eine Menge Tricks, wie man einen Anrufer entlarven kann. Diese Tricks verrate ich natürlich nicht. Dennoch passiert es ab und zu, wenn auch selten, dass ein Schwindler in die Sendung rutscht. Damit muss und kann man bei einer allnächtlichen Show aber leben.

STANDARD: Wann kommt der erste Verdacht auf, dass die Geschichte nicht stimmt?

Domian: Das kann man allgemein gar nicht sagen. Manchmal stimmen Zahlenangaben nicht überein, manchmal verhaspelt sich der Anrufer, ein anderes Mal hört man im Hintergrund andere Leute, obwohl der Anrufer sagt, er wäre allein.

STANDARD: Ihre Einschätzung: Wie viele Lügengeschichten bekommen Sie aufgetischt? In Prozent.

Domian: Aufs Jahr bezogen ist das eine Promille-Zahl.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass Sie wieder öfter die Morgensonne sehen möchten. Wie darf man sich Ihren Tag-Nacht-Rhythmus vorstellen?

Domian: Ich gehe gegen 5.30 Uhr ins Bett. Ich habe immer große Schlafprobleme. Dann versuche ich bis in den Nachmittag zu schlafen. Im Winter sehe ich dann manchmal nur ein oder zwei Stunden das Tageslicht.

STANDARD: Sie werden zwar als TV-Seelsorger bezeichnet, sind aber weder Psychiater noch Psychologe. Wie gehen Sie mit der Verantwortung um, die Ihnen Anrufer aufbürden, indem sie Ihnen von ihren Problemen erzählen?

Domian: Ich sehe mich in der Rolle eines guten Bekannten oder Freundes. Auf dieser Ebene rede ich mit den Leuten. Wenn es pathologisch wird, stelle ich die Anrufer immer zu meinen Psychologen durch. So läuft das sehr gut. Die Leute erwarten von mir keinen Psychologen- oder Psychiater-Ratschlag. Das wäre ja auch vermessen. Dennoch ist die Verantwortung natürlich groß. Ich bemühe mich, meine Worte sehr genau zu wählen.

STANDARD: Schräge Fälle pflastern Ihren Weg. Etwa ein Anrufer, der beim Anblick von Goldfischen sexuell erregt wird, oder einer, der aus Hackfleisch Frauenkörper formt. Was wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?

Domian: Gar nicht mal das Schräge, sondern das Ergreifende. Zum Beispiel Hubert. Er rief in den ersten Wochen unserer Sendung an und war der erste Sterbende, mit dem ich gesprochen habe. Er litt an Leukämie, war 35 Jahre alt und hatte sich zum Sterben von der Klinik nach Hause verlegen lassen. Er war sehr einsam und griff dann in der Nacht zum Telefon, um mit mir zu sprechen. Oder ich erinnere mich sehr gut an die Frau, deren Kind entführt, sexuell missbraucht und dann ermordet worden war. Ich habe über 30 Minuten mit ihr telefoniert.

STANDARD: Gibt es Anrufergruppen, die Sie besonders nerven? Wenn Sie etwa schon wieder mit einem Nazi oder Pädophilen konfrontiert sind?

Domian: Es kommt darauf an, wie sich der Anrufer verhält. Wenn ich spüre, Zugang zu ihm zu finden, ist das eine sehr große Chance, ihn von der Falschheit seines Weges zu überzeugen. Ist er allerdings starr, so endet so ein Gespräch auch schon mal mit einem heftigen Wortgefecht und einem Rauswurf.

STANDARD: Gibt es spezielle Fälle, bei denen Sie das Gefühl hatten, wertvolle Hilfe zu leisten?

Domian: Ja, sehr, sehr viele. Im Laufe der Jahre haben wir eine riesige Menge an Danksagungen bekommen. Die Leute schreiben dann sinngemäß: Das Gespräch mit dir, Domian, und anschließend mit deinem Psychologen hat mir das Leben gerettet, ich wäre sonst untergegangen. Oder: Durch unser Gespräch habe ich nach Jahrzehnten den Mut gefasst, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen; nach so vielen Jahren geht es mir endlich gut. Oder neulich mailte eine Frau: Wenn du nicht wärst, hätte ich mir vor ein paar Wochen das Leben genommen.

STANDARD: Sie sind zwar in einer exponierten Situation, sehen Ihre Gesprächspartner aber nicht. Reicht Ihnen die Stimme allein, um sich ein Bild zu machen?

Domian: In der jetzigen Sendeform muss es reichen. Gern allerdings würde ich meine Gesprächspartner sehen. Wenn man jemandem gegenübersitzt, bekommt man viele Zusatzinformationen: Wie guckt er? Welche Körperhaltung hat er? Was hat er an? All das verrät viel über einen Menschen. Nach zwanzigtausend Telefoninterviews würde ich meine Gesprächspartner gerne mal sehen.

STANDARD: Eine eigene TV-Talkshow ist ein Wunsch von Ihnen. In welche Richtung sollte es gehen?

Domian: Ich habe noch keine konkreten Pläne. Allerdings interessiert mich der große Bereich Talkshow im Fernsehen. Ich glaube, 20 Jahre Telefontalk-Erfahrung sind dafür auch eine gute Grundlage.

STANDARD: Befürchten Sie, dass einstige und potenzielle Anrufer zu obskuren Formaten wie Astra-TV und anderen vermeintlichen Heilsbringern laufen, wenn Sie nicht mehr amtieren?

Domian: Ich bin sicher, dass mein Publikum diesen Schrott ebenso ablehnt wie ich. (Oliver Mark, DER STANDARD, 14./15.3.2015, Langfassung, die Fragen wurden via Mail gestellt)

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