Reinhard Kleist
Der Boxer – Die wahre Geschichte des Hertzko Haft

Carlsen Verlag 2012
200 Seiten, Hardcover, 17,40 Euro

Foto: Der Boxer/Reinhard Kleist/Carlsen Verlag

Reinhard Kleist
Der Traum von Olympia – Die Geschichte von Samia Yusuf Omar

Carlsen Verlag 2015
152 Seiten, Hardcover, 18,40 Euro

Foto: Reinhard Kleist, Carlsen Verlag 2015

Der deutsche Comiczeichner Reinhard Kleist.

Foto: anjazwei.de

Hertzko Haft hat schon als Junge einen sauberen Haken. Aus einer armen jüdischen Familie in der polnischen Industriestadt Belchatow stammend, schlägt er sich schon früh mit Fäusten durch. Seine zu Gewalttätigkeit neigende Verbissenheit wird ihm später im KZ das Leben retten. Im Auschwitz-Nebenlager Jaworzno wird er gezwungen, zur Belustigung von SS-Offizieren mit anderen ausgemergelten Häftlingen um Leben und Tod zu boxen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als bei dem obszönen Spiel mitzumachen. Mit Hilfe eines SS-Mannes, der ihn protegiert, übersteht er unfassbare Gräuel, um nach Kriegsende in den USA eine abenteuerliche Boxkarriere zu starten. Er kämpft sich hoch, bis er sich in seinem wichtigsten Kampf dem späteren Schwergewichtsweltmeister Rocky Marciano stellt. Die Erinnerungen und der Schmerz der Vergangenheit lassen ihn aber nie los, so sehr er sie auch zu verdrängen versucht.

Der deutsche Comiczeichner Reinhard Kleist hat die wahre Geschichte von Hertzko Haft in der fesselnden Graphic Novel "Der Boxer" (Carlsen Verlag 2012) aufgezeichnet. In düsteren, teils brutalen und immer wieder herzzerreißenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen lässt er die düstere Geschichte eines zwiespältigen Charakterkopfes aufleben. Am 17.4. präsentiert Kleist den Band in einem Vortrag zum Auftakt der Vienna Comix-Messe in Wien, und zwar in der Bezirksvertretung Margareten, ab 19 Uhr.

Ausschnitt aus einer Seite von "Der Boxer": Die Vergangenheit lässt Hertzko Haft auch in den USA nicht los.
Der Boxer/Reinhard Kleist/Carlsen

Quasi druckfrisch ist Kleists neuestes Werk. Es ist nicht minder harte Kost. Und gräbt ebenfalls eine wahre Begebenheit aus. In "Der Traum von Olympia" (auch bei Carlsen erschienen) zeichnet der Comic das tragische Schicksal der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar nach. 2008 vertrat sie ihr Land bei den olympischen Spielen in Peking. Zurück in ihrer Heimat wurde sie von den islamischen Al-Shabaab-Fundamentalisten, die Somalia mit Waffengewalt kontrollieren, daran gehindert, weiter zu trainieren. Um ihren Traum – an den Olympischen Spielen in London 2012 teilzunehmen – zu verwirklichen, nimmt sie die riskante Flucht auf sich und begibt sich in die Hände von Menschenhändlern. Nach einer Odyssee voller Entbehrungen ertrinkt sie kurz vor dem Ziel, vor der italienischen Küste. Wie Hertzko Haft ein Einzelschicksal unter unzähligen Vielen, das die Tragik einer anonymen Masse fassbar macht.

Ausschnitt aus einer Seite von "Der Traum von Olympia": Samia rennt um ihr Leben - wortwörtlich.
Reinhard Kleist, Carlsen Verlag 2015

STANDARD: Was reizt Sie an so tragischen Geschichten wie der von Hertzko Haft und Samia Yusuf Omar?

Kleist: Es ist jetzt nicht so das Tragische, das mich reizt. Es gibt Parallelen in den Geschichten, zum Beispiel den Sport, aber mich reizt eher, einen Blick auf ein historisches oder aktuelles Problem oder Thema zu werfen durch eine ungewöhnliche Perspektive. Durch den Sport nähert man sich einer Geschichte auf einer viel emphatischeren Art und Weise. Man kann sich in die Figuren noch stärker einfühlen gerade dadurch, dass sie etwas mit uns verbindet oder dass sie etwas haben, was wir genau nachfühlen können.

STANDARD: Wie viel Distanz kann man bei so zwiespältigen Charakteren wie Hertzko Haft bewahren, wenn man sich so lange damit beschäftigt – ohne Aussicht auf ein wirkliches Happy End? Wie lange haben Sie an den beiden Büchern gearbeitet?

Kleist: An beiden Büchern habe ich ungefähr ein Jahr gearbeitet und da passiert schon sehr viel mit der Einstellung zu den Figuren. Haft war von Anfang an, als ich die Geschichte aus diesem Grund eigentlich eher nicht machen wollte, ein schwieriger, negativer Charakter. Samia ist für mich eine Heldin, die grundpositiv ist, und die ich auch so der Leserschaft präsentieren wollte. Die Distanz wird im Arbeitsprozess immer kleiner. Bei Haft wurde es so, dass ich ihn mehr und mehr verstanden habe (aber nicht gutheißen konnte, was er z.B. seiner Familie angetan hatte), Samia wuchs mir immer mehr ans Herz und es war hart zu wissen, dass ihre Geschichte so brutal endet.

Ausschnitt aus "Der Boxer": Hertzko Haft ist kaum 16, als er anstelle seines Bruders in ein Arbeits- und dann in ein Vernichtungslager der Nazis kam.
Foto: Der Boxer/Reinhard Kleist/Carlsen Verlag

STANDARD: Besonders in "Der Boxer", aber auch in "Der Traum von Olympia" gibt es einige recht brutale Szenen. Gerade die Episoden aus dem KZ, die ja einen großen Teil von "Der Boxer" ausmachen, sind sehr aufwühlend. Wie illustriert man das Grauen?

Kleist: Indem man es eben nicht illustriert. Man kann das nicht zeigen, was dort passiert ist. Jeder Versuch, das eins zu eins zu übersetzen, führt zur Verharmlosung. Ich habe es so gemacht, dass ich in den expliziten Szenen weggeschaut oder ins Innere der Person gesehen haben, der Leser ergänzt durch seine Fantasie. Und das ist viel eindrücklicher als jedes Bild.

STANDARD: Wie gehen Sie bei der Recherche vor? Wie viel künstlerische Freiheit nehmen Sie sich bzw. wie wichtig ist Ihnen Faktentreue?

Kleist: Es ist sehr viel Internetrecherche, aber auch, wenn möglich, dass ich die Orte besuche, wie Kuba (für die Graphic Novel "Havanna – Eine kubanische Reise", 2008, und "Castro", 2010 erschienen, Anm.) , oder mit Leuten spreche, die mir einen persönlichen Einblick in die Geschichte erlauben, die ich an die Leser weitergeben kann, wie im Fall von Samia durch die Schwester oder durch Erfahrungsberichte anderer Flüchtlinge. Die Faktentreue ist sehr wichtig, doch darüber steht noch die Dramaturgie und die Empathie den Figuren gegenüber.

Ausschnitt aus "Der Traum von Olympia": Während ihrer Odyssee in Richtung Europa hielt Samia Yusuf Omar via Facebook Kontakt zu ihren Freunden und ihrer Familie.
Reinhard Kleist, Carlsen Verlag 2015

STANDARD: Im deutschsprachigen Raum boomen seit geraumer Zeit Graphic Novels zu Einzelschicksalen und auch Sie haben sich in Ihrem Werk – Bücher über Johnny Cash, Fidel Castro – darauf spezialisiert. Was macht den Comic so geeignet für Biografien bzw. Porträts?

Kleist: Als Autor bin ich sehr frei, das zu erzählen, was ich möchte und was ich denke – was nötig ist, um ein Ereignis am Besten zu transportieren. Ich habe, im Gegensatz zum Film, keine wirtschaftlichen Zwänge, um Bilder zu liefern. Auch die Erzählweise ist nicht unbedingt gebunden an eine stringente Erzählung. Ich kann Ausflüge machen in andere Ebenen, die Details einer Person, eines Lebens liefern können, die zum Verständnis nötig sind, was passiert ist oder was eine Person und ihr Werk oder die Verbindung von Leben und Werk ausmacht.

STANDARD: "Der Traum von Olympia" war nach "Der Boxer" der letzte Fortsetzungscomic, der in der FAZ erschienen ist. Welchen Einfluss hatte die Fortsetzungsform auf die Gestaltung?

Kleist: Die Seiten sind zuerst im Stripformat erschienen und fürs Buch musste ich sie komplett umbauen, konnte aber auch Bilder größer machen, zusätzliche Szenen einbauen, Bilder hinzufügen. Beide Bücher sind ca. ein Drittel länger als die Zeitungsversion.

STANDARD: Hat sich der Comic endgültig von der Zeitung, wo er seinen Anfang nahm, gelöst?

Kleist: Ich hoffe nicht. Da viele Zeitungen sparen müssen, ist es gerade keine gute Zeit für Comics in diesem Format. Aber es gibt ja durchs Internet viele neue Formen der Verbreitung, die auch neue Formen der Gestaltung ermöglichen.

Ausschnitt aus "Der Boxer": Hertzko Haft musste als das "jüdische Biest" im KZ um Leben und Tod boxen.
Der Boxer/Reinhard Kleist/Carlsen

STANDARD: Deutschland und Österreich gelten noch immer nicht als besonders comicaffin. Welche Einflüsse haben Sie gehabt, wie haben Sie Ihren Stil entwickelt und wie würden Sie ihn beschreiben?

Kleist: Es entwickelt sich langsam. Nie zuvor gab es so viele tolle und erfolgreiche, zum Teil auch international, Comics im deutschsprachigen Raum. Meine Einflüsse kommen aber nicht so sehr von deutschen Kollegen, sondern eher von Künstlern wie Will Eisner oder Baru, früher waren es Dave McKean, Bill Sienkiewicz oder Kent Williams.

STANDARD: Zu Ihren zukünftigen Projekten: Sie sind zur Musikerbio zurückgegangen und arbeiten an einem Comic über Nick Cave. Die Entstehung des Buches dokumentieren Sie in dem Blog nickcave-comic.com. Was erwartet die Leser? Arbeiten Sie dazu mit Nick Cave zusammen? Und gibt es noch andere Projekte in der Schublade?

Kleist: Nick weiß von der Sache und gab mir sein OK, weil er den Cash-Comic kannte. Er ist sehr interessiert an Comics und meiner Idee und hilft mir mit manchen Detailfragen. Ich werde den Versuch unternehmen, mich seiner schillernden Persönlichkeit und seinem komplexen Werk über verschiedene Ebenen zu nähern, also wird es nicht so sehr eine zusammenhängende Erzählung geben, wie bei "Cash" oder "Castro". Andere Projekte gibt es zur Zeit nicht. Der Mann frisst meine ganze Aufmerksamkeit.

STANDARD: Ihre Bücher wurden mehrfach übersetzt. Wo gibt es die meiste Resonanz?

Kleist: Das kann ich gar nicht sagen, es ist oft abhängig vom Thema. "Castro" zum Beispiel war ein Flop in Holland, in Frankreich lief er sehr gut. Durchgängig toll war "Cash", aber das war auch abhängig davon, wie bekannt der Sänger in dem jeweiligen Land ist.

Die Comic-Biographie "Cash - I see a darkness" war der bisher größte Erfolg von Reinhard Kleist.
Foto: Cash/Reinhard Kleist/Carlsen

STANDARD: Man hört immer wieder die Kritik, dass es im deutschsprachigen Raum zu wenig Genrevielfalt gäbe, und dafür eine sehr ausgeprägte Neigung zu zeitgeschichtlichen Themen, Autobiografien und Literaturadaptionen. Woran könnte das liegen?

Kleist: Vielleicht liegt es an unserer komplexen deutschen Geschichte, dass wir uns ständig mit Vergangenheiten und Biografien auseinandersetzen. Oder dem Hang zum Grüblerischen. Sicher auch, dass man in Deutschland einen eher ausgeprägten Individualismus pflegt.

STANDARD: Haben Sie selbst vor, einmal wieder in Richtung Fiction – so wie in der Vampirsaga Berlinoir (aus 2007) – zu gehen?

Kleist: Ich habe einen Stoff im Kopf, der aber nicht fantastisch ist. Eher ein Zeitdokument über mehrere Jahrzehnte, aufgehängt an einer fiktiven Geschichte. Allein die Zeit ist zu kurz… (Karin Krichmayr, derStandard.at, 13.4.2015)