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Wandgemälde in der Lehrerbildungsanstalt.

Foto: AP/Marco Ugarte

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Chilpancingo (Bundesstaat Guerrero), 29. März 2015: Polizeieinsatz gegen protestierende Studenten der "Normal de Ayotzinapa".

Foto: EPA/LENIN OCAMPO

Von links: Román Alejandro Hernández, Omar Garcia und Eleucadio Ortega Carlos.

Foto: Colectivo Acción Solidaria con México - Austria, https://colectivoaccionsolidaria.wordpress.com

Am 26. September 2014, also vor mehr als sieben Monaten, verschleppten Polizisten in der mexikanischen Stadt Iguala 43 Studierende des Lehrerseminars von Ayotzinapa. Der offiziellen Version der Ereignisse zufolge übergaben sie die jungen Männer einer Drogenbande, die sie ermordete und die Leichen verbrannte.

Doch die Angehörigen der Verschwundenen zweifeln bis heute an den Angaben der Regierung: Sie hoffen, ihre Söhne lebend wiederzusehen und verlangen, die Ermittlungen nicht einzustellen. Im Rahmen der "Eurocaravana43" touren Lehramtsstudent Omar García, Kaffeebauer Eleucadio Ortega Carlos, dessen Sohn verschleppt wurde, und der Menschenrechtsaktivist Román Alejandro Hernández durch Europa, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. Bert Eder traf sie in Wien.

derStandard.at: Wo waren Sie am 26. September 2014?

García: In der Lehrerbildungsanstalt Ayotzinapa. Kurz vor 20 Uhr rief mich dann ein Studienkollege an, der mit anderen unterwegs war, um in der 120 Kilometer entfernten Stadt Iguala Spenden zu sammeln. "Wir werden gerade von der Polizei beschossen", sagte er mir. Mit einem Kleinbus der Schule brachen wir sofort auf, um unseren Kommilitonen zu helfen oder zumindest vermittelnd einzugreifen. Als wir am Tatort eintrafen, sahen wir zwei zerschossene Busse, überall war Blut. Die Polizei hatte auf einer Straßenseite Positionen bezogen und schoss immer noch, die Studenten versteckten sich hinter den Bussen.

Als sie kurz aufhörten zu schießen, konnten wir einen verletzten Kollegen in Sicherheit bringen, wurden aber von einer Militärstreife aufgehalten. Wir durften Anrufe entgegennehmen, aber am Telefon nicht erwähnen, dass wir in Gewalt der Militärs waren. Nachdem sie uns alle fotografiert hatten, ließen sie uns frei. Die Rettung, die sie anzurufen versprochen hatten, kam natürlich nie, sodass wir unseren Kollegen erst gegen halb drei Uhr morgens ins Spital bringen konnten.

derStandard.at: Wie geht es Ihrem Kollegen Aldo Gutiérrez, der seit dem Angriff im Koma liegt?

García: Aldo hat einen Kopfschuss erlitten. Mehrere Spezialisten haben ihn untersucht, aber da ein Großteil seiner Gehirnmasse beschädigt ist, gibt es wenig Hoffnung. Er kann sich nicht einmal bewegen.

derStandard.at: Wie reagieren die lokalen Behörden? Gibt es Unterstützung für Aldo und seine Angehörigen?

García: Man hat ihn von Iguala in ein Spital in der Hauptstadt verlegt, wir hoffen weiter, dass ausländische Spezialisten etwas für ihn tun können, aber bisher ist nichts geschehen.

derStandard.at: Was ist so besonders an der Lehrerbildungsanstalt "Normal de Ayotzinapa"?

García: Die Schule ist Teil des Bildungssystems, das nach der mexikanischen Revolution im Jahr 1910 eingeführt wurde. Präsident Lázaro Cárdenas (1934-1940, Anm.) führte dann die "sozialistische Erziehung" ein, stellte die "Normalschulen" genannten Lehrerbildungsanstalten unter Selbstverwaltung und ordnete an, dass die Studenten dort ein Mitspracherecht bekommen.

Artikel drei der mexikanischen Verfassung schreibt vor, dass an staatlichen Schulen religiöse Doktrinen, Fanatismus und Vorurteile keinen Platz haben. Seit dem Ende seiner Amtszeit haben viele Regierungen versucht, diese Errungenschaften rückgängig zu machen. Die ländlichen Lehrerbildungsanstalten blieben aber auf dem revolutionären Weg, den ihnen Cárdenas vorgezeigt hatte, und sind deshalb natürlich äußerst unbequem für das System.

Auch an den Studentenprotesten, die 1968 zum Massaker von Tlatelolco geführt hatten, waren "Normalistas" maßgeblich beteiligt. Als dann Guerillabewegungen wie die Gruppe um den Grundschullehrer Lucio Cabañas oder die "Kommunistische Liga des 23. September" aufkamen, warf die Regierung der Schule vor, ein "Terroristennest" zu sein.

derStandard.at: Diese Vorwürfe gibt es immer noch. Auf den Webseiten rechter Gruppen ist zu lesen, dass die Schule ein "Indoktrinierungszentrum terroristischer Organisationen" sei und dies den Angriff auf die Studenten rechtfertige. Wie gehen Sie mit solchen Vorwürfen um?

García: Sie können gerne nachsehen, wir haben wirklich keine Bombe dabei! Der Staat versucht mit Unterstützung von Kirche und Massenmedien, die sozialen Bewegungen zu kriminalisieren. Man wirft uns vor, Guerilleros zu sein und jeglichen Fortschritt abzulehnen. Bei solchen Vorwürfen bleibt natürlich immer etwas hängen: Medienkonsumenten, die diese Diktion nicht hinterfragen, sehen uns als Gefahr, da bekommt man schon mal "Tu etwas für das Vaterland, töte einen Normalista" zu hören. Im Jänner 2014 hat zum Beispiel ein Lastwagenfahrer zwei Kommilitonen absichtlich überrollt. Auch die Polizisten bekommen in ihrer Ausbildung solche Sprüche zu hören und haben deshalb keine Bedenken, Waffen gegen Studenten zu gebrauchen.

derStandard.at: Welche Auswirkungen hat die umstrittene Bildungsreform für Sie? Präsident Peña Nieto will ja umfangreiche Änderungen vornehmen, es kommt immer wieder zu Protesten.

García: Bisher nicht besonders viele. Wir sind mit vielen Universitäten und Schulen vernetzt und geben den Widerstand nicht auf.

derStandard.at: Wie war das Verhältnis der Normalistas zur Staatsgewalt vor den tragischen Ereignissen des 26. September?

García: Da gibt es immer wieder Probleme. Als ich gerade mein Studium begonnen hatte, hielt mich das Militär beim Spendensammeln auf der Straße auf. Sie sehen, dass du im ersten Studienjahr bist und machen sich einen Spaß daraus, dich einzuschüchtern, erniedrigen dich und zielen mit dem Gewehr auf dich. Da merkt man den Hass, der ihnen eingetrichtert wird.

derStandard.at: Die Regierung wirft der Lehrerschaft vor, auf Privilegien wie der Vererbung von Dienstposten zu beharren und ungerechtfertigte Lohnforderungen zu stellen …

García: Um zu erkennen, wer da der Verbrecher ist, muss man nur die Gehälter vergleichen: Ein mexikanischer Senator verdient im Monat 217.500 Pesos (13.000 Euro), wobei diese Summe soeben um hundert Pesos verringert wurde. Ein Lehrer bekommt alle zwei Wochen etwas weniger als 4.000 Pesos (240 Euro).

derStandard.at: Haben Sie das Gefühl, dass der internationale Druck auf die Regierung Peña Nieto etwas gebracht hat?

García: Ohne die Unterstützung, die wir aus dem In- und Ausland erhalten, wäre unsere Bewegung wohl schon in Vergessenheit geraten. Mexikos Regierung und die großen Medien verbreiten die offizielle Version; unsere Kameraden seien getötet und verbrannt worden, der Fall damit aufgeklärt.

derStandard.at: Was erwarten Sie sich von ihrer Europatour?

García: Die EU arbeitet in Sicherheitsfragen mit Mexiko zusammen. Den "Krieg gegen Drogen" führen in Lateinamerika die USA, aber auch Europa ist mitverantwortlich, wenn der Staat Menschen verschwinden lässt oder ermordet. So liefert zum Beispiel Deutschland Waffen, die gegen soziale Bewegungen, Kleinbauern und Studenten eingesetzt werden. Viele der Polizisten, die wegen des Massakers von Iguala festgenommen wurden, trugen deutsche Waffen. Wir würden uns Exportbeschränkungen für Länder, in denen es soziale Konflikte gibt, wünschen.

derStandard.at: Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam, der im November des Vorjahres Angehörige der Vermissten mit der Aussage "Ich habe jetzt genug" gegen sich aufgebracht hat, ist mittlerweile zurückgetreten. Was erwarten Sie von seiner Nachfolgerin Arely Gómez González?

García: Diese ständigen Postenwechsel sind eine Art Manie: Die Regierung versucht damit den Anschein zu erwecken, dass sich etwas ändern werde. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hat nun mehrere Unregelmäßigkeiten entdeckt und fordert den Staat auf, vom Verschwindenlassen von Menschen zu sprechen. Die neue Generalstaatsanwältin sagt natürlich, dass sie mit der misslungenen Untersuchung nichts zu tun habe, dafür sei ihr Vorgänger verantwortlich. Wir haben also wenig Hoffnung.

derStandard.at: In Iguala gibt es einen Militärstützpunkt. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Offiziere von einer Schießerei vor ihrer Haustür nichts mitbekommen und nicht einschreiten?

García: Natürlich haben die das gemerkt. Dort ist das 27. Infanteriebataillon stationiert, das schon seit den 60er- und 70er-Jahren am Kampf gegen die Guerilla, aber auch soziale Bewegungen beteiligt war. In der Kaserne wurden Gefangene festgehalten, einige davon ließ man verschwinden. Im Rahmen der Bekämpfung des Drogenhandels hat das Militär Überwachungskapazitäten aufgebaut. Sie können Telefone abhören und anpeilen, und diese Informationen werden selbstverständlich mit den verschiedenen Polizeieinheiten geteilt. Vor zwei Jahren wurden Soldaten aus diesem Stützpunkt beschuldigt, an Morden im Drogenmilieu beteiligt gewesen zu sein.

derStandard.at: Am 7. Juli werden im Bundesstaat Guerrero ein neuer Gouverneur und die Vorsteher der 81 Bezirke gewählt. Erstmals tritt auch die Partei Morena ("Bewegung für eine Nationale Regenerierung") des gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Andrés Manuel López Obrador an. Was erwarten Sie sich von dieser neuen Bewegung?

García: Nichts. Wir wollen nichts mit politischen Parteien zu tun haben. Als 1988 die PRD ("Partei der demokratischen Revolution") unter Cuauhtémoc Cárdenas von der seit 1928 regierenden PRI ("Partei der institutionalisierten Revolution") abspaltete, hofften viele auf Wandel. Aber die Partei enttäuschte Millionen Wähler. Jetzt kommt wieder eine neue Partei daher, die sich halt diesmal "Bewegung" nennt und versucht, Reformen anzustoßen und die schlimmsten Missstände zu korrigieren. Wir wollen ein Ende des Verschwindenlassens von Menschen, keine politischen Gefangenen mehr, und nicht, dass diese Ungerechtigkeiten lediglich etwas gemildert werden. In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 150.000 Menschen ermordet, von über 30.000 weiteren fehlt jede Spur.

derStandard.at: Was ist eigentlich aus den Zapatisten geworden? Als sie am 1. Jänner 1994 erstmals öffentlich in Erscheinung traten, waren die Augen der Welt auf den südmexikanischen Bundesstaat Chiapas gerichtet, aber mittlerweile hört man kaum noch von ihnen.

García: Bloß weil die Medien nicht mehr über sie berichten, haben sie sich noch lange nicht aufgelöst. Im Dezember haben wir uns mit ihnen getroffen, sie haben uns diese Europatour vorgeschlagen. Selber beschäftigen sie sich hauptsächlich mit dem Aufbau der Autonomie in ihren Territorien, Projekte wie die Gemeindepolizeien, die abseits staatlicher Strukturen gegen das Verbrechen vorgehen, haben ihre Wurzeln in dieser Bewegung. (Bert Eder, derStandard.at, 30.4.2015)