Stephen Baxter: "Steinfrühling"

Klappenbroschur, 632 Seiten, € 17,30, Cross Cult 2015 (Original: "Stone Spring", 2010)

Was sieht haargenau so aus wie ein Buch von Heyne, ist fett wie ein SF-Wälzer von Heyne und stammt auch noch von einem Heyne-typischen Autor? Das muss dann wohl eine Neuerscheinung bei Cross Cult sein, das ich hiermit endgültig nicht mehr "nur" als Comic-Verlag wahrnehme. Cross Cult gibt mittlerweile eine beachtliche Zahl an Romanen heraus. Die meisten davon gehören zu dem einen oder anderen Franchise – etwa das famose "Planet der Affen"-Paket von 2014, das derzeit mit der Comic-Reihe "Zeitenwende" fortgesetzt wird.

Aber es gibt auch alleinstehende Werke im Programm. Und dazu gehört erfreulicherweise auch Stephen Baxters "Northland"-Trilogie, von der ich mir seit Jahren eine deutsche Veröffentlichung erhofft habe. Endlich ist es so weit!

Das Szenario

In "Steinfrühling" begeben wir uns gut 9.000 Jahre zurück in die Mittelsteinzeit. Dort, wo heute die Erhebung der Doggerbank teilweise nur 13 Meter tief unter der Nordsee liegt, befand sich damals, als der Meeresspiegel in den Nachwehen der Eiszeit noch deutlich tiefer lag, trockenes Land. Nordland, wie es in dieser Trilogie heißt. Vor etwa 8.500 Jahren wurde dieser letzte Abschnitt der einstigen Landverbindung zwischen den Britischen Inseln und Kontinentaleuropa überflutet. Aber was, wenn die BewohnerInnen des Nordlands beschlossen hätten, ihre Heimat mit Deichen vor der Überflutung zu schützen? Die Geschichte hätte vermutlich einen völlig anderen Verlauf genommen – und genau den exerziert Baxter in seiner Trilogie durch.

Im Eröffnungsband lernen wir erst einmal den bunten Reigen an steinzeitlichen Jäger- und Sammlerkulturen kennen, die das Nordland und die daran angrenzenden Regionen bevölkern: Etwa die Schneckenköpfe, die ihr Schädelwachstum vom Kindesalter an zu einer künstlich verlängerten Form manipulieren, wie es später die Hunnen und deren Vasallenvölker taten. Oder die Blätterjungen, die sich so stark an den ganz Europa überwuchernden Wald angepasst haben, dass sie kaum jemals mehr aus dem Geäst herabsteigen. All diese Kulturen sind natürlich von Baxter frei erfunden – sie liegen aber im Bereich des Möglichen.

Der Nabel der Welt

Im Mittelpunkt steht das Volk von Etxelur, das am äußersten Ausläufer Nordlands vom Fischfang lebt. Dass dies mittlerweile eine Frontlage ist, wird ihnen spätestens bewusst, als mehrfach Tsunamis über ihre Siedlung hinwegschwappen. Und sie müssen erkennen, dass vor ihnen schon andere zurückweichen mussten: Sie finden Überreste aus einer Zeit, als sich Etxelur noch auf Gebiete erstreckt hatte, die nun längst unter Wasser liegen. Bei dieser Gelegenheit lässt Baxter es sich übrigens nicht nehmen, eine Atlantis-Anspielung einzubauen. Das heilige Symbol von Etxelur sind drei konzentrische Kreise, die von einer geraden Linie durchbrochen werden: Ganz der Beschreibung Platos vom Hafen von Atlantis entsprechend – aber keine Angst, Baxter serviert uns hier keinen Esoterik-Kram von versunkenen Hochkulturen, wir bleiben auf Steinzeit-Level.

In Etxelur lebt Ana, die Hauptfigur des Romans. Zu Beginn soll sie, nach dem Einsetzen ihrer ersten Periode gerade offiziell zur Frau geworden, in einer feierlichen Zeremonie ihr Totemtier erfahren. Zu ihrem Entsetzen ist es die Unheil verheißende Eule – aber Ana beschließt, die Herausforderung ihres Schicksals anzunehmen. Und sie wird die Welt verändern. Weitere Hauptfiguren sind Anas statusbewusste Schwester Zesi – ein wahrer Unglücksmagnet -, der Schamane Jurgi, Anas und Zesis beim Fischfang verschwundener Vater Kirike sowie der junge Krieger Schatten aus dem benachbarten Volk der Pretani aus Albia (ja, sie leben im heutigen England ... man kann's wirklich nicht übersehen).

Apropos Kirikes Reisen: Zwischen den Etxelur-Kapiteln wird auch auf andere, weit entfernte Schauplätze umgeblendet. In Nordamerika etwa wird Eisträumerin vom Rest ihres Volks getrennt, nachdem neueingewanderte Menschen sie aus ihrer Heimat vertrieben haben. Und im fernen Südosten liegt das gerne als die älteste Stadt der Welt bezeichnete Jericho, wo man sich durch Sesshaftigkeit und Landwirtschaft bereits auf ein jungsteinzeitliches Niveau emporgeschwungen hat. Dort lebt der nichtsnutzige Kaufmannssohn Novu, der von seinem Vater kurzerhand an einen wandernden Händler abgegeben wird. Und Novu wird noch ebenso wie Eisträumerin seinen Weg nach Nordland finden. Nicht schlecht, dieser interkontinentale Reiseverkehr – so mancher Steinzeitler kommt hier mehr herum als unsereins!

Nüchternheit rules

Novu ist es, der Ana mit dem Konzept des Mauerbaus bekanntmacht. Und warum nicht eine Mauer gegen das ansteigende Wasser errichten? Schließlich ist jeder seines eigenen Glückes Steinmetz. Es wird der Beginn einer hydraulischen Gesellschaft sein – anders als die historisch bekannten Beispiele in Mesopotamien und Ägypten will diese allerdings das Wasser nicht herbeischaffen, sondern ableiten: eine reizvolle Umkehrung. Doch wird der Wandel auch hier nicht ohne Folgen für die Gesellschaft bleiben. Anfangs ist Etxelur eine freie Gemeinschaft, in der weitgehend Gleichheit – auch zwischen den Geschlechtern – herrscht: Keine Utopie Baxters, das entspricht durchaus dem, was man von real existierenden Jäger-und-Sammler-Kulturen kennt. Mit dem Wandel werden sich jedoch Hierarchien und Zwänge herausbilden.

Einmal mehr demonstriert Baxter damit seine nüchterne – manche sagen auch: unmenschliche – Herangehensweise. Ökologische und schließlich auch politische Faktoren bestimmen das Schicksal der Figuren. Hier müssen vermeintlich eindeutige Love Interests keineswegs zusammenfinden (und wenn sie's doch tun, werden sie wieder getrennt). Heldentaten können zu einem ungedankten Tod führen, Bösewichte müssen nicht notwendigerweise ihre verdiente Strafe erhalten. Realität geht über herkömmliche Storytelling-Zwänge (bei einer Verfilmung würden Studiobosse hier wohl heftigst intervenieren). Und diese Haltung spiegelt sich auch in den Hauptfiguren wider – sei es die in ihrem Pragmatismus immer kälter werdende Ana, sei es Jurgi, der mit seinem Skeptizismus eher einem heutigen Wissenschafter als einem Schamanen entspricht. Überhaupt denken alle Figuren ausgesprochen modern.

Die Baxter-Matrix

Man könnte Stephen Baxters enorm umfangreiches Schaffen in eine Matrix einfügen – und ich frage mich echt, ob er nicht selbst ein Modell davon daheim hat, das er vor dem Schreiben der "Nordland"-Trilogie nach Lücken absuchte: Ah ja, hier könnte man noch ein Puzzleteil einbauen – in einer Reihe mit den prähistorischen Romanen "Evolution" und der leider nie ins Deutsche übersetzten "Mammut"-Trilogie, direkt über dem "Flut"-Zweiteiler und unterhalb der Alternativweltenszenarien à la "Zeit-Verschwörung". Die ihrerseits in den jüngsten Romanen "Proxima" und "Ultima" gerade eine Brücke zu Baxters Space Operas zu schlagen scheinen. Da weidet jemand die Themenpalette aber mal so richtig methodisch ab.

Kurz zusammengefasst: "Steinfrühling" bietet ein typisch Baxtersches Schmökererlebnis mit Hard-SF-Haltung, wenn auch auf Low-Tech- bzw. No-Tech-Level. Anfang September erscheint mit "Bronzesommer" der zweite Teil, in dem sich die Historie dieser Erde schon etwas deutlicher von der unseren unterscheiden wird. Ich freu mich jetzt schon drauf.

Daryl Gregory: "Harrison Squared"

Gebundene Ausgabe, 320 Seiten, Tor Books oder
Broschiert, 352 Seiten, Titan Books, jeweils 2015

Daryl Gregory gehört zusammen mit Lavie Tidhar und Adam Roberts zu einem kleinen Grüppchen dankenswerter Autoren, die einerseits hochproduktiv sind (pro Jahr mindestens ein neuer Roman, gerne auch mehr) und andererseits stets das Qualitätslevel halten. Vieles ist ausgezeichnet, nichts sinkt jemals unter die "Lesenswert"-Schwelle. Im vergangenen Jahr bescherte uns Gregory den Designerdrogen-für-alle-Thriller "Afterparty". Und kaum haben wir den verdaut, legt er mit "Harrison Squared" etwas vollkommen anderes nach: ein vergnügtes Lovecraft-Pastiche.

Was es mit dem Titel auf sich hat

Hauptfigur des Romans ist der aus einer Wissenschafterfamilie stammende Harrison Harrison ... darum sein Spitzname "Harrison zum Quadrat" / "Harrison Squared" bzw. H2, wie ihn seine Mutter liebevoll nennt ("It was the kind of humor that scientists found hilarious."). Als Harrison drei Jahre alt war, verlor er in demselben Bootsunfall, bei dem sein Vater starb, ein Bein. Er hat von damals noch dunkle Bilder von Tentakeln und Zähnen im Kopf, tut dies aber als konstruierte Erinnerung ab, die seiner Popkultur-Sozialisierung geschuldet sei.

... zumindest bis er, mittlerweile 16 geworden, im Schlepptau seiner Mutter an die US-Ostküste kommt, wo die Meeresbiologin die Ausbreitung des Koloss-Kalmars erforschen will. Der kleine Ort in Massachusetts, an dem sich die beiden für ein paar Monate niederlassen, trägt in schöner Lovecraft-Kondensierung den Namen Dunnsmouth. Und ist derart aus der Zeit gefallen – Handys wollen hier einfach nicht funktionieren -, dass er seinem Namen auch alle Ehre macht.

Nie mehr Schule!

Harrison hat das Glück oder Pech, dass das düstere Epizentrum von Dunnsmouth zugleich seine tägliche Anlaufstelle wird: die örtliche Schule. Die Dunnsmouth Secondary ist ein labyrinthischer Klotz voller bleicher, gleichgeschalteter Kinder, die fremdartige Choräle anstimmen und sich in einer geheimen Zeichensprache unterhalten, und mit einem Schulpersonal, das sich so seltsam benimmt wie die Mitglieder der Addams Family. Harrison tippt auf Inzucht-Folgen und denkt unwillkürlich an dasjenige Merkmal, das klischeemäßig für Inzucht steht: Schwimmhäute zwischen den Zehen ... Mit Blick darauf, wessen Werk Gregory hier bearbeitet, wirkt dieser Gedanke natürlich extrakomisch.

Apropos Wasser: Der Schwimmunterricht findet in einer riesigen Kaverne unter dem Schulgebäude statt, im Biologieunterricht werden Frösche nicht seziert, sondern wiederbelebt, und auf dem Lehrplan stehen Themen wie Kryptozoologie, nicht-euklidische Geometrie und historische Naturkatastrophen. Die Dunnsmouth Secondary könnte ein Nerd-Paradies sein, wenn sie bloß nicht so düster wäre.

Nur keine Angst

Gregory vergisst keineswegs auf den Gänsehautfaktor. Harrisons Mutter verschwindet auf dem Meer und wird für tot gehalten. Zudem tritt mindestens ein wirklich gruseliges Wesen auf den Plan. Aber die meisten Begegnungen mit dem Übernatürlichen laufen hier alles andere als eldritch ab: Harrison trifft zum ersten Mal auf einen waschechten Fischmenschen, als ihm dieser ein Comicheft klaut – soviel zum Thema Dwellers of the Deep. Und er freundet sich mit einer weiteren Figur an, die erst "The Sixth Sense"-mäßig spät und in witziger Weise als Geist enttarnt wird.

Überhaupt pflegt Gregory einen recht lockeren Umgang mit den Geschöpfen der dunklen Phantastik – wobei er sich auch nicht ausschließlich auf Lovecraft beschränkt. Im Roman sind verschiedenste mythologische Verweise versteckt – so finden sich beispielsweise die altgriechischen Graien als Köchinnen in der Schulkantine wieder. Viel Spaß bei der Suche nach weiteren Easter Eggs!

Dass man trotz Spannungselementen beim Lesen nicht gerade vor Angst durchgeschüttelt wird, liegt vor allem an Harrison selbst, der als sarkastischer Ich-Erzähler dem Unheimlichen meist die Spitze nimmt. Für zusätzliche Screwball-Comedy-Dialoge sorgt Harrisons nachträglich angereiste Tante Sel; ein unsinkbares Upper-Class-Schlachtschiff, in dessen Kielwasser so ziemlich jeder ins Trudeln kommt: Mr. Waughm held out his hand to Aunt Sel. "It was such a pleasure to meet you," he said. She patted his wrist. "I'm sure it was," she said.

In Relation zum übrigen Werk

"Harrison Squared" zeigt einige Anklänge an Gregorys älteren Roman "The Devil's Alphabet". Allerdings wuchsen dort neue evolutionäre Zweige der Menschheit in einem etwas ernsteren Umfeld heran. In "Harrison Squared" hingegen ist alles bewusst light gehalten. Was man auch als typisches Young-Adult-Element sehen könnte. Für eine Einordnung als YA spricht auch die Handlung um einen jugendlichen Protagonisten, der 1) seine größte Angst (nämlich die vor dem Meer) überwinden muss, um 2) zum Helden zu werden, wenn er seine Mutter retten will, und 3) sich dafür mit anderen Jugendlichen zusammentut. Ein Rezensent hat "Harrison Squared" einen gewissen Fünf-Freunde-Vibe zugeschrieben, was durchaus seine Berechtigung hat. Auf jeden Fall ist der Roman sehr vergnüglich zu lesen – und zumindest eine Möglichkeit, die Zeit zu überbrücken, bis Gregory wieder etwas Gewichtigeres raushaut.

Eines noch zum Abschluss: Obwohl "Harrison Squared" ein eigenständiger Roman ist, handelt es sich gewissermaßen um ein Prequel: Denn zwischen dem eingangs erwähnten "Afterparty" von 2014 und diesem Buch veröffentlichte Daryl Gregory noch einen Roman; er ist wie gesagt äußerst produktiv. "We Are All Completely Fine" dreht sich um eine Therapiegruppe, deren Mitglieder ihre ganz speziellen Dämonen mit sich herumtragen – und einer von ihnen ist der erwachsene Harrison. Mehr dazu auf der nächsten Seite – dass am Ende von "Harrison Squared" ein paar Dinge offen bleiben, wird durch das Sequel allerdings auch nicht erklärt. Vielleicht kommt da ja noch mehr.

Coverfotos: Tor Books/Titan Books

Daryl Gregory: "We Are All Completely Fine"

Broschiert, 184 Seiten, Tachyon Publications 2014

Wer nach der Lektüre von "Harrison Squared" wissen will, was aus dem sympathischen Helden geworden ist, findet hier die Antwort. Die beiden Bücher stehen in einem gar nicht so leicht benennbaren Prequel/Sequel-Verhältnis zueinander, denn "We Are All Completely Fine" ist handlungszeitlich knapp zwei Jahrzehnte nach "Harrison Squared" angesiedelt, wurde jedoch ein halbes Jahr davor veröffentlicht - laut Gregory aber erst danach geschrieben. Welche Handlungsidee da jetzt welche beeinflusst hat, weiß wohl nur er selbst.

Mittlerweile hat sich der ehemalige "Monsterdetektiv" Harrison, nun in seinen 30ern und immer noch gezeichnet von seinen früheren Erlebnissen, zu einem desillusionierten Zyniker entwickelt. Wenn ihn die Psychologin Jan Sayer zur Teilnahme an einer Therapiegruppe überredet, heißt es etwa: She believed that people were captains of their own destiny. He agreed, as long as it was understood that every captain was destined to go down with the ship, and there wasn't a damned thing you could do about it. Obwohl inzwischen eher zynisch als sarkastisch, sind Harrisons Kommentare zum Geschehen unverändert witzig zu lesen.

Eine Gruppe wie keine andere

Jedes Mitglied der Therapiegruppe, die Dr. Sayer hier aufbaut, ist der oder die einzige Überlebende einer Attacke monströser Wesen. Neben Harrison wäre da etwa der nervige Alte Stan, der in einem Rollstuhl sitzt und nur noch Armstümpfe hat, nachdem er einst einer Kannibalenfamilie entkam (1974 soll das übrigens gewesen sein - wer erinnert sich an einen Film, zu dem das passen könnte?). Oder Barbara, eine Frau in mittleren Jahren, der einst ein Serientäter den Körper aufgeschnitten hat, um auf ihren Knochen eine Botschaft einzuritzen. Barbara fühlt sich in ihrer eigenen Familie wie ein Fremdkörper - am liebsten zieht sie sich in ein Einzelapartment zurück und brütet darüber, wie sie in Erfahrung bringen könnte, was für eine Botschaft denn das gewesen sein mag.

Die anderen beiden Gruppenmitglieder sind deutlich jünger. Der Geek Martin trägt ständig eine Datenbrille, die ihm eine augmentierte Version der Wirklichkeit zeigt: Eine Art Zombiespiel - aber seit einiger Zeit sieht Martin darin auch Monster, die nicht zum Spiel gehören. Und zuletzt das Goth-Chick Greta, deren ganzer Körper mit einem dichten Geflecht aus Narbenmustern überzogen ist und die in den Gruppensitzungen lange Zeit beharrlich schweigen wird.

Daraus ergibt sich eine brisante Mischung, wie Sayer weiß: Every small group was a chemistry experiment, and the procedure was always the same: bring together a group of volatile elements, put them in a tightly enclosed space, and stir. The result was never a stable compound, but sometimes you arrived at something capable of doing hard work, like a poison that killed cancer cells. And sometimes you got a bomb. In diesem ganz besonderen Experiment wird beides zusammengebraut werden.

Die Struktur der Erzählung

Von seiner Grundidee her lehnt sich "We Are All Completely Fine" ein Stück weit an alte Erzählformen wie die "Canterbury Tales" an: Man bringt eine Gruppe von Menschen auf kleinem Raum zusammen und lässt sie der Reihe nach ihre Geschichten erzählen.

Zum Glück macht Gregory daraus aber kein starres erzählerisches Korsett. Denn die Handlung, die bei ihm wie üblich mit diversen Enthüllungen und Twists aufwartet, schreitet sowohl innerhalb als auch außerhalb der wöchentlichen Sitzungen nahezu linear voran. Die von den Gruppenmitgliedern erzählten Geschichten und die aktuelle Rahmenhandlung stehen dabei in ständiger Wechselwirkung miteinander. Als Erzähler fungieren übrigens abwechselnd die einzelnen Gruppenmitglieder (in dritter Person) und ein kollektives "Wir", das das sich langsam aufbauende Zusammengehörigkeitsgefühl unterstreicht.

Die richtige Mischung

Daryl Gregory ist ein Autor, dessen Werke sich oft nicht auf ein bestimmtes Genre festlegen lassen. Sein Erstling "Pandemonium" etwa, an den mich "We Are All Completely Fine" stark erinnert, war Fantasy ebenso wie Alternativweltgeschichte, Mystery, Horror, Magic Realism oder auch psychologische Mainstreamliteratur. Und über alledem war es eine Meta-Betrachtung der Phantastik voller popkultureller Referenzen. Was auch in "We Are All Completely Fine" so stark spürbar ist wie in keinem anderen Werk seit "Pandemonium".

Werfen wir doch nur einen Blick darauf, was genau den Mitgliedern von Dr. Sayers Therapiegruppe widerfahren ist: Harrisons Geschichte ist eine eindeutige Lovecraft-Hommage. Stans Horrortrip in den 70ern glich dem "Texas Chainsaw Massacre". Und Gretas als lustvoll erlebte rituelle Verstümmelung, durch die, wie wir bald erfahren werden, ein Portal in übernatürliche Sphären geöffnet werden sollte ... wer würde dabei nicht an Clive Barker denken? Es ist, als hätte die Geschichte des Horror-Genres Gestalt angenommen, um die ProtagonistInnen von "We Are All Completely Fine" zu attackieren.

Yep, Gregory ist ein cleverer Autor. Aber zum Glück lässt er's nicht raushängen und die eigentliche Geschichte darunter leiden. Er erzählt mal witzig, mal einfühlsam, mal furchteinflößend - es ist diese Mischung, die seinen besonderen Stil ausmacht. Wirklich schade, dass statt "We Are All Completely Fine" das vergleichsweise konventionelle "Yesterday's Kin" von Nancy Kress den heurigen Nebula für die beste Novelle eingeheimst hat. Aber sei's drum. Sowohl Gregorys Novelle als auch sein Roman "Harrison Squared" lassen genug offene Enden übrig, um jederzeit weitere Prequels, Sequels und sonstige Ableger folgen zu lassen - und damit weitere Preiskandidaten.

Coverfoto: Tachyon Publications

Barry Napier: "Die Nester"

Broschiert, 166 Seiten, Luzifer Verlag 2014 (Original: "Nests", 2013)

CERN war schuld, da hammas. Zumindest wird an einer Stelle von Barry Napiers "Die Nester" die Vermutung ausgesprochen, dass es die Experimente am Genfer Kernforschungszentrum gewesen sein könnten, die Portale in ein anderes Universum geöffnet haben, aus denen gigantische Wesen hervorgequollen sind. Genaues weiß man allerdings nicht - und ganz bestimmt nicht die beiden Hauptfiguren des Romans, die sich monatelang in einem verlassenen Haus irgendwo in Georgia vor dem Chaos da draußen versteckt haben.

Eric, Kendra und ihr kleines Baby wirken auf den ersten Blick wie die klassische Kernfamilie - tatsächlich sieht es etwas anders aus. Das vermeintliche Paar ist eine reine Zufallsgemeinschaft, Verbündete in der Not. Dass Eric sich inzwischen in Kendra verliebt hat, hält er vor ihr verborgen. Und das Baby ist auch nicht von ihm. Es trägt nicht einmal einen Namen, weil es aus einer Vergewaltigung stammt - geschehen damals in den Wirren der Apokalypse, als die Menschheit ihren letzten Abwehrkampf führte.

Roadtrip through hell

Nach Monaten relativer Sicherheit beschließen Eric und Kendra ihre Zufluchtsstätte zu verlassen, da sie in den Taschen eines Eindringlings einen Zettel gefunden haben, der auf eine angebliche Nordamerikanische Sicherheitszone in Virginia hinweist: Eine lange Reise - und sie führt durch eine überaus lebensfeindliche Umwelt. Schließlich sind nicht nur Riesenmonster (und die sind wirklich mindestens "Cloverfield"-riesig) durchgezogen; die Armee hat auch einen - vergeblichen - nuklearen Gegenangriff auf die Eindringlinge durchgeführt. Zurückgeblieben ist eine trostlose Wüstenei.

Kurz gesagt: Wir finden uns im Genrefreunden wohlvertrauten postapokalyptischen Aschegrau wieder. Da muss Horror-Autor Barry Napier, selbst in Virginia ansässig, gar nicht viele Worte auf Beschreibungen verschwenden - das Wort "postapokalyptisch" wirkt als genauso schnelle Orientierungshilfe wie "Cornwall" auf Rosamunde-Pilcher-Fans. Ich kenne Leute, die tatsächlich auf Pilchers Spuren durch Cornwall gefahren sind. Und auch das hier ist ein Roadtrip mit - siehe "The Walking Dead", "Falling Skies", you name it - vielen bekannten Elementen: Sehen Sie links gekreuzigte und ausgestopfte Leichen. Sehen Sie rechts im Bett das alte Ehepaar in inniger Umarmung, das gemeinsam Selbstmord begangen hat. Achten Sie auf den kannibalischen Räuber von hinten.

Mit einer Besonderheit wartet die Reise von Eric und Kendra allerdings doch auf. Das sind die im Titel genannten Nester: Riesige Ballungen aus Dunkelheit, die sich mitten in der Landschaft manifestieren. Was sich in ihnen verbirgt, weiß vorerst niemand. Auf jeden Fall hat es aber laaaaaaaaange Tentakel.

Kurz und bündig

Wie schon zuvor in Daryl Gregorys "Harrison Squared" werden auch in "Die Nester" unwillkürlich Assoziationen zu Cthulhu & Co wach. Was bei Gregory allerdings als humorvolles Pastiche angelegt war, zollt hier dem Genre der Monsterapokalypse in dessen Urform Tribut: Kurz, blutig, straight erzählt und ohne unnötigen Ballast. B-Movie-Style, und das meine ich keineswegs negativ. Die Handlung wird viele an Gareth Edwards Film "Monsters" aus dem Jahr 2010 erinnern (hat eigentlich schon jemand das Sequel gesehen?). Aber eigentlich steht "Die Nester" in einer langen Tradition von Erzählungen, die spätestens mit John Wyndhams "Triffids" und "Wenn der Krake erwacht" begann und seitdem immer wieder dreckige kleine Blüten hervorgebracht hat.

Mein einziger Kritikpunkt bleibt, dass es das Korrektorat ein wenig genauer nehmen hätte können - beim nächsten Buch, das aus demselben Verlag stammt, ist die Fehlerbeseitigung besser gelungen. Das hingegen, worüber nach dem Lesen von "Die Nester" viele gemeckert haben, stört mich keineswegs: Nämlich der gar nicht B-Movie-mäßige Schluss. Also ich finde den gut. Aber natürlich verrate ich ihn nicht.

Coverfoto: Luzifer Verlag

Sarah Pinborough & F. Paul Wilson: "Die letzte Plage"

Klappenbroschur, 323 Seiten, Luzifer Verlag 2014 (Original: "A Necessary End", 2014)

Alleweil Neues von der Pandemie-Front: Kein Virus, kein Bakterium und kein Prion ist es, das sich in "Die letzte Plage" anschickt, die Menschheit auszulöschen. Es ist eine Autoimmunreaktion, die die roten Blutkörperchen angreift und binnen drei Tagen zum Tod führt. Ausgelöst wird die Reaktion durch den Biss oder Stich einer neu aufgetretenen Fliegenart – möglicherweise einer künstlich gezüchteten, da wird anfangs noch drüber gerätselt.

Ausgebrütet hat diese Idee ein transatlantisches Duo von Horror-AutorInnen: Die Engländerin Sarah Pinborough, von der ich bislang noch nichts gelesen hatte, und der US-Amerikaner F. Paul Wilson. Den kenne ich dafür umso besser – Wilson hat unter anderem die "Handyman Jack"-Romane und den Nazi-Horror-Klassiker "Das Kastell" geschrieben.

Das Ende der Zivilisation

Aber zurück zur letzten Plage. Die findet zunächst noch in fernen Regionen wie Afrika oder dem von England aus ebenso uninteressanten Kontinentaleuropa statt. Auf den Britischen Inseln glaubt man sich noch schützen zu können. Sprühwägen voller Insektengift ziehen durch die Straßen, am Flughafen wird noch schärfer kontrolliert als heute schon. So manches, was Pinborough und Wilson da als Erwähnung in ihr Hintergrundszenario eingebaut haben, liest sich wie eine Anspielung auf gegenwärtige politische Themen: Militäreinsatz gegen afrikanische Flüchtlingsströme, die übers Mittelmeer nach Europa kommen. Angst vor Terroristen (die hier keine Bomben schmuggeln, sondern Fliegeneier). Religiös motivierter Massenmord.

... und damit befinden wir uns noch in dem Abschnitt, der unter "Gute Zeiten" laufen könnte. Doch von da an geht es laufend bergab – dargestellt auch anhand von Medienrundschau-Schnipseln, wie sie in Weltuntergangsromanen gerne zwecks Panoramawirkung eingebaut werden. Hier übrigens jeweils am Kapitelende statt wie üblich am Anfang. Mein Lieblingsbeispiel daraus ist dieses:

Das Gesundheitsministerium der demokratischen Volksrepublik Korea hat der Welt bekanntgegeben, dass Nordkorea noch keinen einzigen Fall der mysteriösen Plage verzeichnet hat, die die kapitalistischen Staaten befällt. Dies kann der überlegenen Schädlingsbekämpfung zugeschrieben werden, die von den Bürgern Nordkoreas betrieben wird – unter der Anleitung ihres glorreichen Führers Kim Jong-Un, der infizierten Fliegen den Eintritt in den Nordkoreanischen Luftraum verboten hat. - Diese offizielle Aussendung aus Pjöngjang bleibt allerdings ein singulärer Moment des Humors in einem ansonsten unsagbar deprimierenden Niedergangsszenario.

Das leidige Thema Religion

Zwar gibt es buchstäblich einen Lichtschein am Ende des Tunnels ... der macht die Sache allerdings noch schlimmer. Während ihrer letzten Atemzüge glauben die Seuchenopfer nämlich eine Vision Gottes zu sehen. Da können Wissenschafter noch so oft erklären, dass es sich um eine durch Sauerstoffmangel bedingte Halluzination handelt, Religiöse aller Couleur stürzen sich darauf wie die Geier. Allen voran die Mungus, die Menschen dazu aufrufen, sich absichtlich infizieren zu lassen, und die auch nicht davor zurückschrecken, in noch seuchenfreien Ländern Fliegeneier einzuschmuggeln. Wie üblich machen Religionen eine ohnehin schon schlimme Lage noch viel, viel schrecklicher.

Religion wird auch zu einer Belastung für die Beziehung der beiden in London lebenden Hauptfiguren Nigel und Abby: Er ein Journalist, der es mit einem der letzten Flüge aus Afrika geschafft hat, wo sich Leichenberge stapeln und Fliegenschwärme den Himmel verdunkeln – sie eine Krankenschwester und gläubige Christin. Ohnehin stand es um diese Beziehung schon vor der Pandemie nicht zum Besten, da Abby an der Autoimmunkrankheit Lupus leidet und Nigel damit einfach nicht umgehen kann. In diesem Punkt bekleckert er sich wahrlich nicht mit Ruhm.

Er liebte sie, aber er mochte sie nicht mehr, heißt es an einer Stelle. Und ganz ehrlich ... ich kann es ihm nicht verdenken. Seit Jahren ist mir keine Romanfigur mehr derart auf die Nerven gegangen wie Abby. Präzisierung: Womit ich nicht irgendein schriftstellerisches Versagen meine, sondern ganz im Gegenteil die gelungene Zeichnung einer Figur, die man durch Sonne und Mond schießen möchte. In exzeptioneller religiöser Borniertheit führt Abby jeden Vorgang in der Welt darauf zurück, dass Gott ihr etwas mitteilen will, passt jede noch so widersprüchliche Information in ihr Weltbild ein, baut einen Scheiß nach dem anderen und sieht in wirklich allem Gottes Plan. Dass neben dem christlichen auch andere Götter "existieren", kommt ihr übrigens nicht einmal in den Sinn, aber wenigstens das wird ihr noch jemand verdeutlichen.

Ein Roman ist kein Wunschkonzert

Nachdem Religionen zunächst – siehe Fliegenschmuggel – als klare Unheilsbringer eingeführt wurden, mag es ein wenig verwundern, dass das Thema Glaube im Verlauf des Romans immer wichtiger wird. Alle ProtagonistInnen – Nigel, Abby und der als Nebenfigur auftretende Familienvater Henry, der eine wirklich unverzeihliche Gräueltat begeht – werden im weiteren Verlauf der Handlung nach einem Weg suchen, Vergebung zu finden, was letztlich das eigentliche Thema des Romans ist.

Mag sein, dass diese Schwerpunktsetzung nicht jedermann gefällt und dass so mancher lieber einen anderen Schluss gehabt hätte. Aber ganz nüchtern betrachtet: Wer schreibt, bestimmt. Aus dem gleichen Grund ist und bleibt schließlich auch die Rundschau trotz gelegentlich aufgetauchter Anfragen, "Gehört das denn nicht eigentlich ...", in der Wissenschaft ;-)

Coverfoto: Luzifer Verlag

James Corey: "Cibola brennt"

Broschiert, 652 Seiten, € 15,50, Heyne 2015 (Original: "Cibola Burn", 2014)

Haben schon alle den Trailer zur TV-Version der "Expanse"-Reihe gesehen? Mein Haupteindruck ist, dass wirklich jeder Beteiligte zehn Jahre jünger aussieht, als ich ihn mir vorgestellt habe. Der Syfy Channel promotet die für heuer angekündigte Space Soap Opera jedenfalls als "Game of Thrones im Weltraum". Und anders als bei GoT brauchen sich die Fernsehmacher in diesem Fall auch keine Sorgen machen, dass sie mit ihren Staffeln die literarische Vorlage überholen könnten. Denn die beiden Autoren Daniel Abraham und Ty Franck, die sich hinter dem gemeinsamen Pseudonym James Corey verbergen, schreiben im Eilzugstempo: Zeitgleich mit der deutschsprachigen Ausgabe dieses Bands ist im Original bereits dessen Nachfolger "Nemesis Games" auf den Markt gekommen.

Das Szenario

Kurzer Rückblick: Im vorangegangenen Roman "Abaddons Tor" ist buchstäblich eine Tür in eine neue Welt geöffnet worden. Die Menschheit kam in Kontakt mit dem sogenannten Protomolekül, einer uralten biotechnologischen Entwicklung einer außerirdischen Superzivilisation. Dieses höchst infektiöse Ding hat nicht nur unzählige Menschen in irgendetwas zwischen einem Zombie-Kollektiv und dem Blob verwandelt, sondern auch die Oberfläche der Venus komplett umgekrempelt. Und diese neue Venus gebar ein ringförmiges Konstrukt, das sich im äußeren Sonnensystem positioniert hat und als Portal in tausende ferne Sternsysteme fungiert. Eines davon, in dem der bewohnbare Planet Ilus - auch Neuterra genannt - liegt, ist Schauplatz der Handlung von "Cibola brennt".

Erstaunlich, wie schnell die Menschheit von "Welche unvorstellbare Intelligenz hat diese Ehrfurcht gebietenden Wunder erschaffen?" bis zu "Nun, da sie nicht mehr da sind, kann ich jetzt ihre Sachen haben?" fortgeschritten ist, sinniert die Soldatin Bobbie, eine alte Bekannte aus einem früheren Band, im Prolog des Romans. Gar nicht erstaunlich eigentlich, wenn man die ersten Bände gelesen hat: Statt Sense of Wonder trieben die Menschen des "Expanse"-Universums stets Gewinnstreben und massives Konkurrenzdenken an. Das ist hier nicht anders: Ilus ist vor einiger Zeit von einer Gruppe Flüchtlinge auf eigene Faust kolonisiert worden. Nun schweben die offiziell von der UNO abgesegneten SiedlerInnen ein, und natürlich kracht es bald zwischen den beiden Fraktionen. In dieser Auseinandersetzung setzt sich zugleich der alte Konflikt zwischen den BürgerInnen von Erde und Mars einerseits und den Gürtlern - den BewohnerInnen des äußeren Sonnensystems - andererseits fort.

Die Hauptfigur

Als Vermittler engagiert die UNO einmal mehr die Hauptfigur der Reihe, den notorisch idealistisch denkenden Raumschiffkapitän Jim Holden, obwohl der mit seiner unbestechlichen Moral jeden Politiker in die Verzweiflung treibt. Holden ist zwar abgebrühter (und gewaltbereiter) geworden, nimmt Begriffe wie Fairness und Ehrlichkeit aber immer noch überaus ernst.

Erwähnen sollte man allerdings noch, dass er einen "Geist" sieht: Nämlich den des Ermittlers Miller aus dem ersten Band "Leviathan erwacht". Miller kam im Kampf gegen das Protomolekül zu Tode, sein Bewusstsein blieb dort jedoch gespeichert und wird bisweilen als virtueller Gesprächspartner in Holdens Kopf projiziert. Und dieser unsichtbare Begleiter verfolgt durchaus eigene Pläne: Die Zivilisation, die einst das Protomolekül schuf, wurde nämlich von einer noch mysteriöseren zweiten Macht an den Rand der Vernichtung gedrängt. Molekül-Miller will unbedingt herausfinden, wer das war.

Weitere ProtagonistInnen

Wie schon die vorangegangenen Bände wird auch "Cibola brennt" abwechselnd aus der Perspektive verschiedener Personen erzählt. Da wäre neben Holden zunächst Basia Merton, ein von Ganymed geflüchteter illegaler Kolonist auf Ilus. Er schließt sich einer Terroristengruppe an, die gegen die Neuankömmlinge vorgeht, wird die von ihnen verübten Gewaltakte aber schon bald bereuen. Dann die Exobiologin Elvi Okoye, die als Figur mit dem Wort "peinlich" umfassend charakterisiert ist. Und schließlich der Sicherheitsmann Dimitri Havelock, der in Band 1 als Partner Millers einen kleinen Auftritt hatte und nun als eine der Hauptfiguren wiederkehrt.

... nicht, dass er allzuviel zu melden hätte. Viel spannender ist der Mann, für den er arbeitet: Adolphus Murtry, der Sicherheitschef der UN-Kolonisierungsmission und Holdens großer Antagonist in diesem Band. Und hier wird's echt interessant: Obwohl Murtry fraglos eine der Hauptfiguren ist, verwehren uns die Autoren seine Innenperspektive (im Gegensatz zu den drei oben genannten Langweilern). Von Anfang an wird so oft gesagt, dass Murtry ein skrupelloses Arschloch sei, das man besser sofort töten sollte, dass man's wohl ungefragt als Wahrheit akzeptieren soll. Dabei sind die "Guten" hier genauso gewaltbereit wie der "Bösewicht" und haben nach meiner Zählung mehr Tote auf dem Gewissen als er. Da hätte ich doch gerne Murtrys Standpunkt von ihm selbst gehört.

The Neverending Story

Andererseits ist es bei mir auch immer ein untrügliches Anzeichen dafür, dass ich mit einer Geschichte die Geduld verliere, wenn ich anfange, zum Bösewicht zu helfen. Und Geduld braucht man hier: "Cibola brennt" ist noch viel mehr als seine Vorgänger als epische Soap angelegt, Subplots zu Basias Familienangelegenheiten, Elvis Fremdschäm-Liebesnot und ähnlichen Privatproblemen inklusive. Die Handlung wälzt sich dahin wie ein Brontosaurus und am Ende muss man sich schon ernsthaft die Frage stellen: Waren dafür wirklich 650 Seiten notwendig?

Jaja, es passiert schon was: Die Biotechnoide der alten Zivilisation erwachen auch auf Ilus wieder zum Leben, ein Mond schmilzt, eine riesige Eruption schickt einen Megatsunami um den Planeten, eine Epidemie macht die KolonistInnen blind und und und. Klingt spektakulär, aber es ist wie bei einer Revue, bei der ständig was Neues auf der Bühne abläuft, ohne dass ein erkennbares Konzept dahinterstünde. Letztendlich dürfte der Grund dafür darin liegen, dass "The Expanse" mit diesem Band den Wechsel von ursprünglich einer Trilogie zu einer Serie vollzogen hat. Das macht einen fundamentalen Unterschied: Es geht nicht mehr darum, eine große Geschichte aufzubauen und abzuschließen, sondern darum, die LeserInnen mit Geschehnissen beschäftigt zu halten.

Da mich Serien aus ebendiesem Grund in der Regel nicht interessieren, stand schon vor der Lektüre von "Cibola brennt" mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit fest, dass ich "The Expanse" danach nicht mehr weiterverfolgen würde. Dass sich der Roman nun im Grunde als Lückenfüller erwiesen hat, macht daraus endgültig eine Gewissheit. Denn vergessen wir nicht: im vorigen Band schien die Handlung auf eine neue, gesamtgalaktische Ebene gehoben zu werden. Ein Panorama mit unüberschaubaren Möglichkeiten! Stattdessen dümpeln wir hier in annähernder Endlosigkeit auf einem einzigen Hinterwäldlerplaneten herum. Wie ein Leser geschrieben hat: Es ist, als würde man einer Partie "Risiko" beiwohnen, bei der alle um Madagaskar kämpfen und niemand auch nur einen Blick auf den Rest der Welt wirft. - Enttäuschend, leider. Aber mal sehen, wie die TV-Serie wird.

Coverfoto: Heyne

Josh Malerman: "Bird Box"

Gebundene Ausgabe, 318 Seiten, € 20,60, Penhaligon 2015 (Original: "Bird Box", 2014)

Als Autor mag Josh Malerman noch nicht jedem ein Begriff sein - aber seine Stimme haben sicher viele im Ohr: Er ist es nämlich, der den Titelsong der großartigen TV-Serie "Shameless" singt. Mit seiner Band The High Strung ist der US-Amerikaner seit mittlerweile 15 Jahren aktiv, die Schriftstellerei hingegen hat der bekennende Horror-Fan erst kürzlich für sich entdeckt. Und gleich mit seinem Debütroman "Bird Box" jede Menge Lorbeeren eingefahren - durchaus zu Recht.

Paranoia oder Tod

"Bird Box" ist eine geballte Dreierpackung Klaustrophobie, Agoraphobie und Achluophobie (die Angst vor der Dunkelheit). Oder kurz gesagt: eine Studie in totaler Paranoia. Eine Autofahrt kann hier so ablaufen: Das Radio funktioniert jetzt. Der Mann spricht immer noch von Krieg. Etwas bewegt sich rechts von ihr, sie nimmt es aus dem Augenwinkel wahr. Sie sieht nicht hin. Sie schließt das rechte Auge. (...) Malorie kommt an der Roundtree Street vorbei. Ballam Street. Horton. Sie weiß, sie ist ganz in der Nähe. Links von ihr huscht etwas. Sie schließt das linke Auge.

In der Fahrschule wird einem solches Verhalten im Straßenverkehr nicht beigebracht - was also ist geschehen? Dafür gibt es buchstäblich keine Augenzeugen. Irgendetwas unsagbar Fremdes hat sich auf der Erde manifestiert (später werden wir erfahren, dass es sogar gewaltig viele Irgendetwasse sind). Und wer es erblickt, verfällt unweigerlich dem Wahnsinn, tötet sich selbst und nimmt dabei oft noch einige andere mit in den Tod. Erst schien es sich nur um anekdotische Berichte aus weit entfernten Gegenden der Welt zu handeln. Doch die Fälle häufen sich und rücken immer näher - bis daraus eine Massenhysterie wird und sich schließlich keiner mehr ins Freie wagt.

Sieh nicht hin!

Malerman lässt archaische Motive wie das von Lots Weib und den Medusa-Mythos ebenso anklingen wie Diverses aus der Phantastik des 20. Jahrhunderts, sei es H. P. Lovecrafts "Die Farbe aus dem All", Clive Barkers "Das Höllenrennen" (ich fand es immer ein bisschen geschummelt, dass die Hölle dem armen Mann den Hals umdreht, damit er ihr ins Antlitz blicken muss ... aber naja, ist halt die Hölle) bis zu den "Ring"-Filmen. Eine der Figuren von "Bird Box" fällt auch tatsächlich dem Phänomen zum Opfer, nachdem sie das Fremde nicht in echt, sondern nur auf einem Video zu Gesicht bekommen hat. Die ProtagonistInnen werden viel über das Wesen der unbekannten Bedrohung rätseln und dabei auf keinen grünen Zweig kommen - es schält sich aber die Meinung heraus, dass man es weniger mit einer geplanten Invasion als mit einem "Blick in die Unendlichkeit" zu tun habe, wofür der menschliche Verstand einfach nicht gerüstet sei.

Zu Beginn dessen, was mit bemerkenswertem Understatement in den Medien als das Problem bezeichnet wird, verschanzt sich Hauptfigur Malorie, zu diesem Zeitpunkt hochschwanger, mit ein paar Zufallsbekanntschaften in einem Haus in einem Vorort von Detroit. Dort wird sie die nächsten Jahre unter Einhaltung bizarrer - aber überlebensnotwendiger - Verhaltensregeln verbringen. So unterzieht sie die beiden Kinder von Geburt an einem beinharten Blindheitstraining: Wie oft hat sie an ihren Mutterpflichten gezweifelt, als sie die Kinder zu Lauschapparaten ausgebildet hat? Für Malorie war es manchmal schrecklich, ihre Entwicklung zu verfolgen. Als hätte sie für zwei Mutantenkinder zu sorgen. Kleine Monster. Selbst eine Art unheimlicher Wesen, die ein Lächeln hören können.

Einer der Mitbewohner hatte allen Ernstes vorgeschlagen, die Kinder gleich nach der Geburt sicherheitshalber zu blenden - und einmal hatte Malorie schon einen Kanister Lackverdünner in der Hand, um es tatsächlich zu tun: nur ein Beispiel für die buchstäblich haarsträubenden Situationen, mit denen der Autor seine Figuren immer wieder konfrontiert. Doch selbst ohne Blendung sind die für das Überleben notwendigen Maßnahmen schrecklich genug, dass sich Malorie mehr als einmal fragt, ob es sich für die Kinder überhaupt lohnt, in einer solchen Welt am Leben zu bleiben.

Gestern und Heute

Ganz im Stil von Stephen Kings "Es" schildert Malerman die Ereignisse auf einer Vergangenheits- und einer Gegenwartsebene, um die parallel geführten Stränge schließlich zur finalen Klimax zusammenzufügen (in diesem Fall übrigens eine Klimax mit Geburten, das hat man auch nicht alle Tage). Dabei leitet er geschickt ein, was uns - respektive die Hausgemeinschaft - erwarten dürfte, denn gleich auf den ersten zwei Seiten begleiten wir Malorie auf einem letzten Gang durch das Haus, das ihr jahrelang als Unterschlupf diente:

Der Sockel der Wände im Flur ist verfärbt, tiefe Purpurtöne, die mit der Zeit zu Braun verblasst sind. Sie stammen von Blut. Der Teppichboden im Wohnzimmer ist ebenfalls verfärbt, egal wie viel Malorie schrubbt. (...) Eine Schachtel Kerzen verbirgt einen Fleck in der Eingangsdiele. Die Couch im Wohnzimmer steht seltsam schief, sie wurde so hingestellt, um zwei Verunreinigungen zu überdecken, die für Malorie wie Wolfsköpfe aussehen. Im Obergeschoss, bei der Treppe zum Dachboden, verhüllt ein Berg muffig riechender Mäntel purpurne Kratzer, die tief in den Sockel der Wand eingegraben sind. Gut drei Meter entfernt befindet sich der schwärzeste Fleck im Haus. Sie benutzt den hinteren Teil des ersten Stockwerks nicht, weil sie sich nicht überwinden kann darüberzusteigen.

Das ist eine Menge Blut. Und lässt es nur noch beklemmend wirken, wenn wir in den Rückschaukapiteln lesen, wie Malories MitbewohnerInnen hoffnungsvoll an einer Überlebensstrategie arbeiten. Aber zumindest Malorie und die Kinder müssen überdauert haben. Und die lässt Malerman nun zu einer Expedition ins Ungewisse aufbrechen: Eine Bootsfahrt zu einer möglichen Zuflucht und eine Reise mit verbundenen Augen, die ebenfalls mit atemberaubenden Momenten aufwarten wird. Wenn sich etwas - vermutlich eines der fremden Wesen - nähert und sogar zu Malorie ins Boot steigt, möchte man schreien, so sehr wird das Geschehen hier auf die Spitze getrieben. Aber Malorie sieht mit eiserner Disziplin nicht hin.

Äußerst spannend!

Zugegeben, man muss so einiges hinnehmen, was nicht plausibel ist - etwa das erstaunlich lange Überleben einiger Tiere und Menschen praktisch ohne Nahrungsvorräte. Das macht der Roman mit seiner einzigartigen Atmosphäre aber mehr als wett. "Bird Box" würde sich hervorragend als Vorlage für einen Film eignen. Aber bitte nicht von M. Night Shyamalan.

Coverfoto: Penhaligon

Robert Silverberg: "Downward to the Earth"

Broschiert, 255 Seiten, Orion Publishing 2015

Das Schöne an Reihen wie "SF Masterworks" ist, dass sie nicht nur diejenigen Werke eines Autors wiederveröffentlichen, die man bei der Nennung seines Namens sofort runterrasseln könnte. Sondern dazwischen auch solche, die vielleicht nicht ganz so bekannt sind und die man möglicherweise sogar komplett übersehen hatte.

Ein Urgestein der Science Fiction

Zum großen US-amerikanischen Autor und Herausgeber Robert Silverberg dürfte den meisten die Reihe "Die Majipoor-Chroniken" einfallen, zu der Silverberg – schriftstellerisch mittlerweile nicht mehr so hochproduktiv wie von den 50ern bis hinein in die 90er – erst 2013 einen weiteren Erzählband herausgegeben hat. Oder "The Book of Skulls" ("Bruderschaft der Unsterblichen"). Oder "To Open the Sky" (auf Deutsch "Das heilige Atom" respektive "Öffnet den Himmel"). Aber auch "Downward to the Earth", das 1973 als "Die Mysterien von Belzagor" auf Deutsch erschien, gehört in diese Reihe. Und hat sich als mein Lieblingsbuch in dieser Rundschau-Ausgabe entpuppt, siehe da. Daran konnte nicht einmal mehr der selbst für Silverberg-Verhältnisse sehr religiöse Schluss etwas ändern.

Dabei war ich eigentlich hauptsächlich wegen der Elefanten am Cover drauf angesprungen – ich kann Tier-Themen einfach nicht widerstehen. Auch wenn es natürlich keine Elefanten und auch keine Tiere im Sinne von Wesen ohne Verstand sind. Die Unterscheidung zwischen intelligenten und "nichtintelligenten" Wesen ist sogar eines der zentralen Themen des Romans.

Verlorene Welt

Im Vorwort dieser Ausgabe spricht Cyberpunk-Autorin Pat Cadigan von einem postkolonialen Roman und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Inspiriert von Afrika-Reisen, übertrug Silverberg seine Eindrücke von unabhängig gewordenen Kolonien ins 23. Jahrhundert und auf einen Planeten, der bis vor einigen Jahren der Menschheit "gehörte". Bis man einfach nicht mehr ignorieren konnte, dass zwei einheimische Spezies – die elefantenähnlichen Nildoror und die zweibeinigen Sulidor – trotz fehlender Technologie fraglos intelligent sind. Als in der menschlichen Gesellschaft der Traum von einem Imperium allmählich aus der Mode kam, wurde schließlich auch der Planet Belzagor in die Unabhängigkeit entlassen.

Einer, der über den geänderten politischen Zeitgeist so gar nicht froh war, kehrt nun nach Belzagor zurück. Schließlich fungierte Edmund Gundersen zehn Jahre lang als leitender Kolonialbeamter auf Belzagor, als der Planet noch Holman's World hieß. Warum er nun mit 48 noch einmal zurückkehrt, weiß er selbst nicht so recht. Um zu sehen, wie die Nildoror "den Job erledigen", ihre eigene Welt zu verwalten, redet er sich ein. Doch insgeheim sucht er auch nach Vergebung für die nicht immer rühmenswerten Maßnahmen, mit denen er einst die Kolonie am Laufen hielt – buchstäblich auf dem Rücken der Nildoror.

Und zum Teil ist es wohl auch schlicht und einfach Wehmut. Immerhin verbrachte er hier die wichtigsten Jahre seines Lebens – in einer Welt, die es nun nicht mehr gibt. Nur wenige Menschen sind auf Belzagor zurückgeblieben, um gelegentlich mal ein Touristengrüppchen in Empfang zu nehmen. Die einstige Infrastruktur wird vom Dschungel gefressen – und die Nildoror sind zwar nicht unfreundlich gesinnt, haben aber auch keinerlei Interesse daran, diese instand zu halten. Je eher die letzten Spuren der Besatzung getilgt sind, desto besser. Gundersen ist also auf der Suche nach etwas unwiederbringlich Verlorenem – mag es die Kolonie sein oder auch seine eigene Jugend.

Vom Kolonialherren ...

Silverberg versteht es sehr gut, Gundersen als vielschichtige Persönlichkeit zu zeichnen. Gundersen zeigt alleine schon wegen seiner langjährigen Erfahrungen vor Ort sehr viel mehr Verständnis für die Kultur der Nildoror als die trampeligen TouristInnen, mit denen er angekommen ist. Aber auch in seiner gut gemeinten neuen Aufgeschlossenheit steckt noch sehr viel an Klischees und Vorurteilen: An intelligent race exempt from the sin of Cain, so sieht er die (vermeintlich) gewaltlosen Nildoror nun. Es ist die klassische Kolonialherrenattitüde gegenüber dem "noblen Wilden" und noch kein wirklicher Fortschritt seit seiner Zeit als Administrator, als er den Einheimischen Gutes tun und sie "erheben" wollte. Aber Gundersen arbeitet an sich. Und als er sich im Licht der fünf Monde einer Gruppe Nildoror in einem ekstatischen Tanz anschließt, beginnt er sich tatsächlich zum ersten Mal zu öffnen.

... zum Suchenden

Gundersen wird sich auf eine persönlichkeitsverändernde Reise begeben. Er will das noch von keinem Außenstehenden beobachtete Ritual der "Wiedergeburt" miterleben, zu dem sich die Nildoror in eine dauerhaft von Nebel verhüllte Zone begeben. Als Gegenleistung für freies Geleit muss er einwilligen, einen Menschen, der eine nicht genannte Freveltat begangen hat, aus der Nebelzone zu den Nildoror zurückzubringen.

Falls das jetzt jemandem bekannt vorkommt: Ja, Silverberg spielt damit explizit auf Joseph Conrads Kolonialismus-Klassiker "Herz der Finsternis" an (den meisten vermutlich eher in der Stanley-Kubrick-Version "Apocalypse Now" bekannt). Der Mann, den Gundersen suchen soll, heißt zwar nicht Kurtz – aber dafür eine andere Figur, womit Silverberg noch einmal unterstreicht, was ihn zu "Downward to the Earth" inspiriert hat.

Äußere und innere Reise

1970 erstmals veröffentlicht, war "Downward to the Earth" einerseits von der in den 60ern aufgekommenen New-Wave-SF beeinflusst. Es steckte aber auch noch ein gehöriges Stück Golden Age drin. Immerhin haben wir es hier mit einem astreinen Planetenabenteuer voller Wunder und Gefahren zu tun. Gundersen wird gewarnt, dass der Planet dazu neigt, Menschen in Besitz zu nehmen. Und tatsächlich findet er unterwegs so manchen körperlich veränderten und von verschiedenen Parasiten oder rätselhaften Phänomenen befallenen Kolonisten.

Exotische Tiere, ein blauer Dschungel, ein See mit höherem Alkoholgehalt als Brandy, Schlangen, die psychotrope Substanzen absondern, ein kilometerhoher Wasserfall, eine Wüste aus leuchtendem Kristallstaub: All das und noch viel mehr wird hier geboten – wie armselig wirken dagegen die Ideen in "Cibola brennt", wo doch so viel mehr Platz gewesen wäre, eine exotische Welt atemberaubend zu beschreiben.

Gundersens Walkabout ist aber auch ganz im Sinne der New Wave eine innere Reise: Spiritualität, Drogentrips und Träume, Sex und Ekstase, aber auch neues Verständnis und politisches Umdenken – all das wird Gundersens innere Entwicklung beeinflussen. Und zwangsläufig steht am Ende eine Transformation. "Downward to the Earth" ist eine Entdeckungsreise in ein unbekanntes Land: Für uns, die wir es zum ersten Mal betreten. Und für den Protagonisten, der es zu kennen glaubte, es nun aber erstmals wirklich mit offenen Augen und offenem Geist erlebt.

Sehr empfehlenswert!

Wirklich erstaunlich, was in diesem für heutige Verhältnisse kurzen Roman alles drinsteckt. Kein Wunder, dass er im englischsprachigen Raum fest zum Silverberg-Kanon gerechnet wird. Ironischerweise war der Autor selbst mit seinem Werk zunächst höchst unzufrieden. Er hatte auf den Spuren Rudyard Kiplings und Joseph Conrads wandeln und deren Szenarien aus einer zeitgemäßen Perspektive neuinterpretieren wollen. Und er dachte, er wäre damit auf ganzer Linie gescheitert, wie er im Vorwort bekennt. Erst als Lobeshymnen und Nominierungen für Preise einströmten, begann er "Downward to the Earth" in einem positiven Licht zu sehen. Heute hält er den Roman offenbar auch selbst für gelungen. Sympathischer Nachsatz: But, after all, what do I know? I'm only the guy who wrote it.

Coverfoto: Orion Publishing

Adam Cesare & Cameron Pierce: "Bottom Feeders"

Broschiert, 117 Seiten, Severed Press 2015

Hand hoch, wer weiß, was "Noodling" ist! Dabei handelt es sich um eine ziemlich perverse Fischfangtechnik für "echte Kerle" in den USA, bei der man einen Arm in den Schlamm am Flussgrund steckt, wartet, bis sich ein Wels daran festgebissen hat, und diesen dann herauszieht. "Bottom Feeders" beginnt damit, dass ein junger Mann am Ufer des Mississippi seine Holde mit seiner Nudelfertigkeit beeindrucken will – bis beide in einem Akt poetischer Gerechtigkeit von einem Riesenwels verschlungen werden.

Alles Böse kommt von unten, wie wir ja seit "Jaws" wissen, das "Bottom Feeders" sowohl mit dem Pärchen-Prolog als auch dem Coverbild sehr hübsch zitiert. Und das sind nicht die einzigen Elemente aus Filmen wie dem "Weißen Hai", "Piranhas" & Co , die uns hier wiederbegegnen werden. In Form von Jed Wilkes, der im Delta des Mississippi ein schwimmendes Casino von der Größe eines Flugzeugträgers bauen will, hätten wir auch wieder den Archetyp des raffgierigen Unternehmers, der ob seiner wirtschaftlichen Ambitionen alle Sicherheitsbedenken in den Wind schlägt.

Zwei gegen den Wels

Fehlt nur noch ein knorriger Fischersmann, der das "kleine Problem" richten soll. Genau genommen kriegen wir hier gleich zwei davon: Chase hat sich aus den Untiefen des White Trash hochgearbeitet und verdient seine Brötchen damit, dass er Touristen auf Angelfahrt mitnimmt. Stellen wir ihn uns als einen dieser Fischfangexperten vor, wie sie Dokus à la "Extreme Angler" gerne engagieren.

Als platonisches Sidekick – zumindest sieht er sie so – steht ihm Lucinda Hero zur Seite, die auf einen überaus bunten Lebenslauf zurückblickt (den die beiden Autoren in allen erstaunlichen Einzelheiten im Schnelldurchlauf rapportieren werden). Abgesehen vom Geschlecht hat Lucinda alles, was einen echten Macho ausmacht: Sie ist trinkfest, pulsiert vor Jagdlust und leistet sich zur Unterhaltung gerne mal einen Stripper.

Diese beiden nun schickt Wilkes – durchaus zum Missfallen von Chases Frau Gail (zugleich Wilkes' Ex, Achtung, Beziehungsdrama!) – in den Kampf gegen ein wahrlich kolossales Welsweibchen mit Hang zu beeindruckenden Auftritten: At first its mottled brown head, the size of a VW beetle, emerged, followed by a stout, slimy body, and a forked tail that looked sharper than all the guillotines in hell. The behemoth rose about five feet out of the water, struck a Free Willy pose, twisted in the air, and emitted a guttural, demonic noise.

Bizarr auf unerwartete Weise

Adam Cesare ist ein Horror-Autor – Cameron Pierce hingegen kennen wir als Vertreter der Bizarro-Bewegung (siehe etwa "Shark Hunting in Paradise Garden"). Sollte sich in diesem Duo der konventionellere Ansatz Cesares durchgesetzt haben? Es treten zwar auch ein Haufen Kultisten mit Roben aus Fischhaut und ein neugeborenes Baby mit Schuppen und Flossen auf – aber nur am Rande. Die längste Zeit liest sich "Bottom Feeders" eigentlich wie eine reine B-Movie-Hommage.

Wirklich bizarr ist hingegen der Aufbau der Erzählung: Obwohl "Bottom Feeders" kaum die Länge einer Novelle erreicht, ist es in eine Vielzahl von Kurzkapiteln mit wechselndem Personal unterteilt, als wäre es ein Riesenroman. Es enthält mittendrin sogar einen Zeitsprung von einem Jahr, das muss ja wohl ein Scherz sein!

Chaos im Schuppenkleid

Und gegen Schluss, da läuft dann alles komplett aus dem Ruder – jede Erwartung wird in den letzten paar Kapitelchen, in denen es wirklich drunter und drüber geht, zunichte gemacht. Was ist es am Ende: Ein Scheidungsdrama mit Monstern als Statisten? Ein Showdown zweier Mütter aus verschiedenen Spezies? Der Beginn des Weltuntergangs? All das und mehr ist es. Fans von wohlausgewogen erzählten (Horror-)Geschichten werden sich vermutlich an den Kopf greifen – aber wer es nicht so streng sieht, wird mit dem süffig erzählten "Bottom Feeders" sicher seinen Spaß haben. Und geht es bei Bizarro nicht darum, einen aus dem Gleichgewicht zu bringen?

Wem dieser Fischgang Appetit auf mehr gemacht hat, der wird es finden: Cameron Pierce befand sich mit "Bottom Feeders" offenbar gerade mitten in seiner schuppigen Periode. Davor erschien "Our Love Will Go the Way of the Salmon" und unmittelbar danach das mit einem noch apokalyptischeren Einschlag versehene "Live Bait". Mahlzeit!

Coverfoto: Severed Press

Thomas Carl Sweterlitsch: "Tomorrow & Tomorrow"

Broschiert, 480 Seiten, € 15,50, Heyne 2015 (Original: "Tomorrow and Tomorrow", 2014)

Buy America! Fuck America! Sell America! So tönt es in "Tomorrow & Tomorrow" als Slogan von CNN. Und man beachte: Damit gehört CNN immer noch zu den seriöseren US-amerikanischen Nachrichtenkanälen. In seinem Debütroman zeichnet US-Autor Thomas Carl Sweterlitsch eine zugespitzte Version unserer Gegenwart, eine Gesellschaft der nahen Zukunft, die auf Schamgrenzen und den Schutz der Privatsphäre komplett pfeift und ihr öffentliches Interesse unverblümt auf den Kern reduziert hat. Mit anderen Worten: Sie ist von vorne bis hinten durchpornografisiert.

Das Sabbern jetzt aber bitte wieder einstellen - für sexploitationgeile Voyeure ist der Roman nämlich trotzdem nichts. Wirklich nicht. Nehmen wir als ernüchterndes Beispiel einen Mordfall, bei dem die mediale Berichterstattung binnen Minuten vom eigentlichen Verbrechen auf gehackte Sexbilder des Opfers umschwenkt, bis vom Thema nur noch dessen Porno-Aspekte übrig bleiben. Oder - heutige Webseiten à la "Naked Celebrities" waren nur der Anfang - eine US-Präsidentin, die ihre Popularität ihrer Vergangenheit in der Sexindustrie verdankt und nun öffentliche Hinrichtungen durchführen lässt, die vom IS inszeniert sein könnten.

Das Szenario

Der Verzicht auf Privatsphäre gilt allerdings auch auf einem ganz anderen Gebiet, womit wir schon bei der Prämisse des Romans wären. Vor zehn Jahren wurde die Stadt Pittsburgh durch eine von Terroristen gezündete Atombombe ausgelöscht. Wir werden übrigens nie die Hintergründe erfahren, darum ging es Sweterlitsch offenbar nicht. Zum Gedenken wurde jedenfalls eine virtuelle Kopie der Stadt vor dem Anschlag hergestellt - zusammengefügt aus allen verfügbaren Quellen, von Überwachungskameras bis zu privatem Material. Unter dem Schlagwort Recht auf Erinnerung wurde gesetzlich festgelegt, dass wirklich jede Quelle zulässig ist - bis hin zu heimlich gemachten Aufnahmen von Stalkern.

Hauptfigur John Dominic Blaxton gehört zu denen, die sich mittels der bei fast jedem Menschen in den Kopf implantierten Adware regelmäßig in das virtuelle Pittsburgh einklinken. Er tut dies im Auftrag einer Detektei, die zwecks Klärung von Versicherungsansprüchen herausfinden soll, ob eine bestimmte Person tatsächlich durch die Bombe oder auf irgendeine andere Weise zu Tode gekommen ist. Mit den abstrakten Datengalaxien des Cyberpunk hat das nichts zu tun - es ist aber auch keine virtuelle Welt, deren BewohnerInnen völlig frei agieren können oder womöglich sogar glauben, sie wären noch am Leben. BesucherInnen ist eine begrenzte Interaktion mit den virtuellen Rekonstruktionen möglich - ab einem bestimmten Grad der Abweichung von den aufgezeichneten Daten springen sie aber wieder in ihre Defaulteinstellung zurück. Das zweite Pittsburgh ist ein Such-Tool, mehr nicht.

Eine sehr persönliche Geschichte

Trotz seiner aktuellen Tätigkeit darf man sich Blaxton nicht als Detektiv vorstellen - und erst recht nicht als abgebrüht: Als er zum ersten Mal in der realen Welt auf eine Leiche trifft, flippt er völlig aus. Eigentlich ist er ja ein gescheiterter Literaturwissenschafter, den der Tod seiner Frau beim Bombenanschlag völlig aus der Bahn geworfen hat. Er ist vorbestraft, lebt in einer Sozialwohnung, nimmt Drogen und lässt sich gehen. Und er ist seit Jahren in Therapie. Nach einem Rückfall wird ihm mit dem religiösen Timothy ein neuer Therapeut vor die Nase gesetzt. Der wird noch eine wichtige Rolle spielen.

Im virtuellen Pittsburgh hingegen bestimmen drei Frauen Blaxtons Handeln: Zunächst die Studentin Hannah Massey, die offenbar kurz vor dem Anschlag ermordet wurde - irgendjemand ist nun dabei, sie sukzessive aus dem Archiv zu löschen. Das gleiche passiert auch mit Albion O'Hara Waverly, einer Tochter aus gutem Hause, die Blaxton nun im Auftrag eines reichen Privatkunden aufspüren soll. Und dann ist da noch Theresa Marie, Blaxtons verstorbene Frau. Immer wieder besucht er die Orte, an denen sie (und mit ihr die gemeinsame Vergangenheit der beiden) aufgezeichnet ist. "Tomorrow & Tomorrow" ist nicht nur, aber auch eine sehr melancholische Geschichte.

Reizüberflutung

Dass es sich um einen Debütroman handelt, merkt man an einigen Gewichtungsproblemen. So haben wir nach einigen Längen ein sehr gutes vorletztes und ein viel zu gerafftes letztes Kapitel. Etwas problematisch ist aber auch das Verhältnis zwischen tatsächlichen Ereignissen und Beschreibungen.

Inzwischen nehme ich den Bus, weil ich meinen VW bereits vor Jahren aus Geldnot verkauft habe. Die Plätze sind belegt, also setze ich mich hinter den Fahrer neben ein zerkratztes Glasplakat, durch das Werbung für die Abtreibungspille Mifeprex, die Bedürftigenhilfe TANF und YouPorn läuft. In der Nähe des Dupont Circle verbindet sich meine Adware automatisch mit wifi.dc.gov, und die Feeds prickeln über meinen Schädel. Ein paar Sekunden lang ist alles schwarz, dann rebootet mein Gesichtsfeld mit einer beschissenen Darstellung von Augs und Apps, überwiegend Gratisangebote. Sobald mein Blick auf eines fällt, rückt es näher, während die anderen zurückweichen, und mein Profil wird mit so vielen Pop-ups und Würmern überschwemmt, dass alles nur noch flimmert.

Mit ihren Adware-Implantaten bewegen sich die ProtagonistInnen durch eine augmentierte Wirklichkeit, die sich als allgegenwärtige, invasive Datenflut präsentiert. Es ist ein unaufhörlicher Strom von Eindrücken - und Sweterlitsch macht daraus einen Stil. Das ist anfangs noch gut und notwendig, um das Wesen der Romanwelt zu illustrieren. Aber Sweterlitsch hört mit dem Beschreiben nie auf. Und irgendwann muss ich dann nicht mehr jeden einzelnen Teilnehmer an einer schrillen Straßenszene beschrieben bekommen oder wissen, was in einer bestimmten Situation jetzt wieder für perverses Zeugs am Fernseher im Hintergrund läuft. Wer schon mal mit einem Kind im Auto gefahren ist, das jedes Detail der vorbeiziehenden Landschaft beim Namen nennt, kennt den Effekt.

"Tomorrow & Tomorrow" ist ein guter Roman mit origineller Grundidee und ganz eigener Atmosphäre. Aber er hätte um ein Drittel gekürzt werden können.

Coverfoto: Heyne

Eric Flint et al: "By Tooth and Claw"

Broschiert, 309 Seiten, Baen Books 2015

Von Baen habe ich relativ selten Bücher in der Rundschau, weil bei dem auf Military-SF spezialisierten Verlag vieles naturgemäß in die gleiche Richtung geht. Ob nun Menschen auf Alien-Imperien treffen oder eine moderne Stadt ins 17. Jahrhundert katapultiert wird - egal, wie kreativ die Grundidee, letztendlich läuft doch wieder alles auf ein kriegerisches Actionspektakel hinaus. Das ist hier nicht anders, aber in dem Fall konnte ich der Prämisse einfach nicht widerstehen.

Und die sieht so aus: Der berühmt-berüchtigte Asteroid ist vor knapp 66 Millionen Jahren doch nicht auf der Erde eingeschlagen, und darum haben nicht nur die Vögel, sondern auch die übrigen Dinosaurier überlebt. Wer spekulative Biologie mag, dem sei an dieser Stelle Dougal Dixons "The New Dinosaurs" von 1988 empfohlen, in dem der Geologe und Paläontologe dieselbe Ausgangsidee zu einem Bildband im Stil von Brehms Tierleben umgesetzt hat: Sehr schön und anders als "By Tooth and Claw" soweit möglich auf streng wissenschaftlichen Kriterien basierend.

Jellicle Mrem

Auch im Baen-Szenario haben die Dinos also überlebt, sich weiterentwickelt, und eine Spezies - Liskash genannt - hat sogar eine bronzezeitliche Zivilisation aufgebaut. Die kleinen Fürstentümer der telepathisch begabten Liskash sind aber nicht nur untereinander verfeindet, sondern haben überdies einen gemeinsamen biologischen Konkurrenten. Denn auch die Säugetiere haben mit den Mrem eine intelligente Spezies hervorgebracht: Katzenabkömmlinge, die im Gegensatz zu den sesshaften Liskash als Nomaden auf mittelsteinzeitlichem Niveau leben.

... und die mich unwillkürlich an die Kzin aus Larry Nivens "Known Space" erinnern, erst recht beim Blick auf das Buchcover. Auch die "Man-Kzin-Wars"-Reihe ist ja bei Baen zuhause ... hm, wie eigentlich auch die beliebten Treecats aus David Webers "Honorverse". Wer hätte gedacht, dass Military-SF-Schreiber die gleichen Katzennarren sind wie die durchschnittliche Romance-Autorin? In Form einer am Rande erwähnten Figur namens Rantan Taggah ist hier sogar eine Hommage an "Cats" enthalten ("the Rum Tum Tugger is a curious cat, schubidu ...").

Leider kein Kontext

Ins Rollen kommen die Dinge auf dieser alternativen Erde, als sich die Umweltverhältnisse ändern und weite Landstriche überflutet werden. Migrationsströme und Kriege sind die Folge. Aus diesem Grundszenario wurde ein Shared Universe entwickelt, zu dem verschiedenste Baen-AutorInnen Erzählungen beitragen. Hier sind es vier Novellen. Vor ein paar Jahren gab es mit "Exiled: Clan of the Claw" schon einmal einen vergleichbaren Band, an dem unter anderem John Ringo und Harry Turtledove beteiligt waren.

Womit ich schon beim ersten Kritikpunkt angelangt wäre: Es wird zuviel als selbstverständlich vorausgesetzt. Wo und wann sind wir hier? Eine Karte sucht man leider ebenso vergeblich wie einen einleitenden Text zu den Grundzügen dieser Welt. Welche Art Nutztier ist ein arx? Oder ein krelprep? Würden wir es wiedererkennen, weil es zu "unserer" Evolutionslinie gehört, oder ist es ein domestizierter Dino? Dass der Band keinerlei Hintergrundinfos zu diesem Shared Universe bietet, ist nicht nur enttäuschend, sondern auch seltsam - immerhin ist es einer der Hauptanreize von Alternate-History-Szenarien, Vertrautes in neuem Kontext anzutreffen. Im Grunde könnte sich all das hier genausogut auf einem anderen Planeten abspielen. Unterm Strich ist "By Tooth and Claw" also ein reines Fantasyszenario - aber zur Abwechslung immerhin Fantasy ohne Menschen (erinnert sich noch jemand an den "Dunklen Kristall"?).

Die einzelnen Erzählungen

Bevor ich zum Highlight des Bands komme, erst noch die drei anderen Novellen im Schnelldurchlauf. Sie stammen zwar von prominenten AutorInnen, die dabei jedoch allesamt unter ihren Möglichkeiten geblieben sind. Von Fantasy-Autorin Mercedes Lackey etwa, der Schöpferin des "Valdemar"-Universums, habe ich schon deutlich Besseres gelesen. In "Bury My Heart" schildert Lackey zusammen mit Cody Martin die Flucht eines Mrem-Clans vor dem Wasser und ein Scharmützel mit einem Liskash-Trupp. All in all, rather underwhelming. Eine der Figuren heißt übrigens Arschus. Ob das bei einer Übersetzung ins Deutsche wohl so bliebe?

S. M. Stirling ist ein Spezialist für Alternativweltgeschichten ("Draka", "Emberverse"), kommt in der Kürze von "A Clan's Foundation" aber auch nicht so recht in Fahrt. Die Erzählung dreht sich um eine Gruppe entlaufener Mrem-Sklaven, die auf der Flucht vor ihren ehemaligen Liskash-Herren zu einem neuen Clan zusammenwachsen. Bleibt zuletzt noch "Feeding a Fever" von SF-Autorin Jody Lynn Nye, das im Wording nicht so ganz zu den übrigen Erzählungen passt (bei Shared Universes ist sowas praktisch unvermeidlich) und schildert, wie ein schlauer Mrem einmal mehr die tumben Liskash austrickst. Mittels chemisch-biologischer Kriegsführung übrigens.

Ein Highlight gibt es doch

Das war alles in allem gar nicht so gut und ich hätte "By Tooth and Claw" schon als totalen Fehlkauf verbucht, wenn der Band mit "Sanctuary" von Eric Flint (Schöpfer von unter anderem der populären "1632"-Reihe) nicht doch noch eine wirklich lesenswerte Geschichte enthielte. Auch in "Sanctuary" wird geflüchtet, verfolgt und gekämpft, doch ist diese Erzählung deutlich komplexer angelegt. Zum einen formal, denn Flint schildert das Geschehen aus den Perspektiven von knapp einem Dutzend ProtagonistInnen, zwischen denen er wie in einem schnell geschnittenen Film herumswitcht - manchmal auch in derselben Situation, etwa mitten in einer Kampfszene. Zum anderen gewährt er uns damit Einblicke in die Gedankenwelt aller beteiligten Fraktionen, womit die Liskash endlich mal mehr sind als bloße Pappkameraden.

In dieser Novelle - es ist zum Glück die mit Abstand längste Erzählung des Bands - überzieht ein Liskash-Fürst mit Expansionsgelüsten die Lande mit Krieg. Was dazu führt, dass ein von ihm besiegter Mrem-Clan ein unwahrscheinliches Bündnis mit einer religiösen Gruppierung der Liskash eingeht, die der Kriegsherr als nächstes Ziel ins Auge gefasst hat. Das Zusammenspiel der beiden Spezies mit ihren jeweiligen spirituellen Fähigkeiten mündet in eine unerwartete Synergie, die das Potenzial hat, die Welt dieses Shared Universe von Grund auf zu ändern. Was "Sanctuary" zugleich zu einer echten Geschichte macht, während die übrigen drei Erzählungen sich eher wie herausgelöste Romankapitel lesen. Flint hat sich auch als einziger detailliertere Gedanken zu kulturellen, religiösen und biologischen Unterschieden zwischen den Spezies gemacht, was die Geschichte deutlich aufwertet. Und endlich beschreibt hier auch mal einer die Welt dieses Shared Universe etwas konkreter. Zu bieten hat sie schließlich genug - von räuberischen Meeresechsen bis zu Riesenammoniten. Das gibt einen Showdown, der sich gewaschen hat!

Bei einer etwaigen Wiederveröffentlichung würde sich "Sanctuary" als Einzelpublikation anbieten, den Rest kann man knicken. Wer von der Grundidee tapfere-Säugetiere-gegen-Dino-Zivilisation angetan ist, findet in Harry Harrisons "Eden"-Trilogie von 1984 bis '88 vermutlich die lohnendere Alternative.

Coverfoto: Baen

George R. R. Martin: "Traumlieder 3"

Broschiert, 825 Seiten, € 15,50, Heyne 2015 (Original: "Dreamsongs Volume 3", 2003)

Der Mann kann einfach erzählen! Das merkt man selbst an diesem Band, der immerhin der dritte und letzte in der RRetrospective "Traumlieder" ist. Mit anderen Worten: Das ist der Rest vom Schützenfest. Im Original erschien George R. R. Martins Storysammlung "Dreamsongs" 2003 als Kontinentalplatte von einem Buch. Auf Deutsch wurde sie in drei Bände aufgeteilt, von denen allerdings immer noch jeder überdurchschnittlich voluminös ist. Da es sich um lauter Wiederveröffentlichungen handelt und ich die meisten Geschichten schon kannte, habe ich mir die ersten beiden gespart und beschränke mich nun auf den Schluss.

Das TV-Zeitalter vor "Game of Thrones"

Auch dieser Band ist wieder in thematische Abschnitte gegliedert, eingeleitet jeweils von kurzen Essays, in denen Martin spannende Einblicke in sein Leben und seine Arbeit als Schriftsteller gibt. Auch in sein wechselvolles und oft glückloses Arbeiten für Hollywood: Denn schon lange vor "Game of Thrones" schrieb Martin Vorlagen und sogar Drehbücher für TV-Serien – tatsächlich gesendete wie "Die Schöne und das Biest" oder die wenig erfolgreiche Neuauflage der "Twilight Zone", aber auch diverse Projekte, die dann eingestampft wurden.

Wer das Essay "Der Sirenengesang Hollywoods" gelesen hat, kann verstehen, warum Martin heute seine TV- und Roman-Tätigkeitsfelder so weit wie möglich voneinander trennt und zum Beispiel auf seinem Blog sämtliche Kommentare zu "Game of Thrones" konsequent löscht. Als Erzählungen, wenn man so will, sind dem Essay zwei Drehbücher angefügt, eines zur "Twilight Zone"-Folge "Merkwürdiger Besuch" sowie der Pilot zur schubladisierten Serie "Doorways", in der es einige Jahre vor "Sliders" um das Wechseln zwischen Parallelwelten ging. Beziehungsweise gegangen wäre. Es handelt sich dabei übrigens wirklich um Drehbücher, nicht um Adaptionen in Form von Kurzgeschichten. Kurz: Das ist wirklich nur was für eingefleischte Martin-Fans.

Superhelden wider Willen

Der zweite Abschnitt dreht sich um das Projekt, das Martin in den 80er und frühen 90er Jahren parallel zu seiner Arbeit für Hollywood auf Trab hielt, das von ihm dirigierte Shared Universe der "Wild Cards". Das Setting ist eine alternative Version der Erde, in der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein Virus freigesetzt wurde, das Infizierten Superkräfte verlieh. Diejenigen, die dabei körperlich unversehrt blieben, heißen nun Asse. Die, bei denen sich auch das Äußere bizarr veränderte, sind die Joker. In den beiden hier enthaltenen Erzählungen, von denen eine gut und eine weniger gut ausgesucht ist, fokussiert Martin auf die als Freaks diskriminierten Joker, die in einem New Yorker Ghetto leben.

"Aus dem Tagebuch des Xavier Desmond" schildert eine desillusionierende diplomatische Weltreise einer Gruppe Joker, Asse und Normalos quer durch die Krisenherde der 80er Jahre – unter ihnen der krebskranke Titelheld, ein Joker und Bürgerrechtsaktivist. Martin wählte die Geschichte aus, weil er sie für eine der besten aus dem "Wild Cards"-Universum hält, was allerdings nur zur Hälfte stimmt. Nachvollziehbar (und insofern auch ein echtes Leseerlebnis) ist sie nur vom Feeling her, weniger vom Inhalt. Der leidet nämlich – typisch für Superhelden-Universen in der Comic-Branche – unter einem Übermaß an Querverweisen zu früher veröffentlichten Werken.

Die andere Erzählung kommt zum Glück mit weniger Kontext und Vorgeschichte aus. In "Taschenspielertricks" wird ein neuer Superheld geboren, als sich der junge Tom einen Panzer baut, den er mit seinen telekinetischen Kräften schweben lassen kann, um fortan als der Große und Mächtige Turtle durch die Lüfte zu fliegen. Und er reaktiviert einen kaputten Comic-Helden seiner Kindheit, den Außerirdischen Doktor Tachyon, der wegen Schuldgefühlen im Suff gelandet ist. Nicht umsonst sind die "Wild Cards" in derselben Ära entstanden wie die "Watchmen" und andere Vertreter der damals neuen, zynischen Variante des Superhelden-Genres. Handlungszeit ist, durchaus symbolisch, die Zeit nach Kennedys Ermordung – also "als Amerika seine Unschuld verlor", wie gerne gesagt wird.

Im Herzen des Genres

Im dritten Abschnitt, eingeleitet vom Essay "Das Herz im Widerstreit", demonstriert Martin dann seine volle Bandbreite, von Science Fiction über Alternate History, Horror und Magic Realism bis zu Fantasy. Im Original war hier auch "Der Heckenritter von Westeros" enthalten (womit der derzeit natürlich unvermeidliche "Game of Thrones"-Verweis am Buchcover gerechtfertigt wäre). Das ging aber wohl aus rechtlichen Gründen nicht, immerhin ist der "Heckenritter" vor Kurzem erst bei Penhaligon auf Deutsch erschienen.

Als "Ersatz" ist die Rede angefügt, die Martin bei der SF-Worldcon von 2003 hielt und in der er sehr ausführlich auf seine Kindheit eingeht ... naja. Wieder eher was für Hardcore-Fans; ich schätze, dass sein Publikum damals schon sehnsüchtig aufs Buffet geschielt hat. Das Essay "Das Herz im Widerstreit" hingegen ist hervorragend. Martin fasst darin seine Gedanken über Genregrenzen und Ideologiestreitigkeiten (aus einer Zeit lange vor der dummdreisten Kampagne der Sad Puppies) zusammen und kommt zum Schluss, dass letztlich nur die Ausstattung bestimme, in welches Genre eine Geschichte fällt, im Mittelpunkt aber immer der Mensch stünde.

Die 1.000 Facetten des GRRM

Ohne den "Heckenritter" sind immer noch fünf höchst unterschiedliche Novellen und Novelletten geblieben, düster, humorvoll, spannend, gruselig oder einfach nur schön. Zum düsteren Auftakt setzt es "Belagert", in dem ein schwer entstellter Mutant aus einer Zukunft nach dem Atomkrieg seinen Geist in die Vergangenheit projiziert, um die Geschichte in eine bessere Bahn zu lenken. Sein – für Alternate-History-Erzählungen durchaus originell gewähltes – Ziel ist das Jahr 1808, in dem Schweden die Festung Sveaborg und damit Finnland ans russische Reich abtrat. Das gilt es zu verhindern, um den Aufstieg Russlands (und damit der späteren Sowjetunion) zu verhindern – allerdings funkt wieder einmal der menschliche Faktor dazwischen.

Wie alle Geschichten hier ist auch diese schon einmal auf Deutsch erschienen: Und zwar in der wegweisenden Alternativwelten-Anthologie "Hiroshima soll leben!" von 1993, die ich sehr empfehle. Seinerzeit musste ich noch zu einer Enzyklopädie greifen, um den Schluss von "Belagert" zu verstehen – in Zeiten von Wikipedia geht das natürlich einfacher.

Vollkommen anders die preisgekrönte Novelle "In der Haut des Wolfes": Willie Flambeaux ist der sympathischste Schuldeneintreiber, den die Welt je gesehen hat. Und er ist ein Werwolf. Zusammen mit der Detektivin Randi Wade bildet er ein Ermittlerduo, wie es seitdem in der Urban Fantasy derart oft kopiert worden ist, dass man es schon als modernen Archetyp betrachten kann. Hier ergibt die Mischung einen spannenden Noir-Krimi mit witzigen Dialogen und Horror-Einschlag, der beinahe der Beginn einer Serie geworden wäre.

Reduktion tut gut

"Die Glasblume", in dem die Unsterbliche Cyrene im Seelenspiel gegen den Cyborg Kleronomas antritt, gehört zu Martins äußerst loser Future History "Thousand Worlds" – wie beispielsweise auch die berühmten Geschichten um den "Planetenwanderer" Haviland Tuf. Allerdings sind diese "Tausend Welten" so unterschiedlich, dass die einzelnen Geschichten weder inhaltlich noch stilistisch eine Einheit bilden. Für mich ist die fantasyeske – oder besser gesagt märchenhafte – "Glasblume", die zu sehr in ihrer Ausstattung schwelgt, die schwächste der fünf hier enthaltenen Erzählungen.

Dann doch lieber das raffinierte Kammerspiel "Aussichtslose Varianten" – nicht umsonst merkt eine der Figuren an, dass sie sich vorkomme wie in einem Stück von Harold Pinter. Ein Millionär zitiert ehemalige Studienfreunde, mit denen er einst ein Schachteam gebildet hatte, in sein abgelegenes Domizil. Dort eröffnet er ihnen nonchalant, dass er eine Technologie für Zeitreisen entwickelt ... und mit dieser ihrer aller Leben ruiniert hat, weil er sich für eine erlittene Schmach rächen wollte. Es kommt zu einem großen Schach-Showdown, sowohl auf dem Brett als auch außerhalb.

Ebenfalls reduziert, ebenfalls wunderbar geschrieben und ebenfalls preisgekrönt die letzte Geschichte: In "Bilder seiner Kinder" erhält der alternde Schriftsteller Richard Cantling eine Reihe von Porträts, die seine Tochter gemalt hat, nachdem die beiden einen erbitterten Streit hatten. Sie wirft ihm Missbrauch vor, weil er ihr Leben so wie das aller anderen Menschen in seinem Umfeld als Szenarien für seine Romane verwertet hat. Deshalb schickt sie ihm nun Bilder seiner "wahren" Kinder – nämlich seiner Romanfiguren. Und die erwachen zum Leben. Eine sehr gelungene Geschichte, die offen lässt, ob sie wirklich zur Phantastik gehört oder ob sich alles nur in Richards Kopf abspielt. Und sie endet völlig anders, als man glaubt.

Resümee

Obwohl ich anfangs von Restlverwertung gesprochen habe (und wer könnte es Verlagen zurzeit verdenken, wenn sie sich auf alles greifbare Martin-Material stürzen?), ist hier immer noch ausreichend gute Lektüre enthalten. Und die beiden vorangegangenen "Traumlieder"-Bände, die unter anderem Kracher wie die "Sandkönige" oder Tuf-Geschichten enthalten, sind sogar noch besser. Martin lesen lohnt eben.

Coverfoto: Heyne

Enki Bilal: "Die Farbe der Luft"

Graphic Novel, gebundene Ausgabe, 104 Seiten, € 25,70, Ehapa Egmont 2015 (Original: "La couleur de l’air ", 2014)

"Nicht nach Erklärungen suchen", hieß es im Auftaktband von Enki Bilals jüngster Trilogie, mit der uns der serbisch-französische Comic-Künstler einen einzigartigen surrealen Trip zum Ende und Neuanfang der Welt beschert. Bilal, der sich einst mit "Die Geschäfte der Unsterblichen" für immer in die Herzen von SF-Comicfans gezeichnet hat, vollendet mit dem nun auf Deutsch erschienenen Abschlussband der Trilogie, "Die Farbe der Luft", ein weiteres Wunderwerk.

Der Anfang

Die Saga begann 2009 mit "Animal'z". Wir betreten darin die Welt nach dem Blutsturz, einer umfassenden globalen Veränderung der Natur: Tiere fliegen durch die Luft, bizarre Wetterphänomene führen zu ebenso bizarren Toden, die Geographie verschiebt sich. Die Erde ist dabei, sich komplett umzukrempeln – und das ist durchaus wortwörtlich zu verstehen. Bilals ProtagonistInnen nehmen all das in gewohnt lakonischer Weise hin. Wir begleiten ein kleines Grüppchen Überlebender, das per Jacht zu einer angeblichen Sicherheitszone unterwegs ist. Allesamt sind sie reich und/oder gebildet – bis auf einen namenlosen Mann, der sich zu Beginn spektakulär aus einer Delfinhaut schält (für so etwas trägt man ein Mutationspack mit sich). Er war einst für biotechnologische Experimente rekrutiert worden und lässt sich – nachdem sein Blick zufällig auf ein Gemälde gefallen ist – als Francis Bacon ansprechen.

Rund um die Veröffentlichung von "Animal'z" war viel zu lesen, das man durchaus abschreckend finden konnte: Von wegen Bilal hätte seinen Stil komplett geändert und so. Ist aber halb so wild. Tatsächlich ist Bilal für diese Trilogie sehr reduziert vorgegangen, hat zum Kohlestift gegriffen und fast ganz auf Farbe verzichtet. Graues Wabern zieht sich durch die Seiten, als wär's der Staub, den die Erde bei ihrer Verpuppung abschüttelt, und nur vereinzelt schimmert Rot als farblicher Akzent durch. Die letzte Farbe, die man noch sieht, wenn man in die Tiefe taucht. Was aber genau gar nichts am Gesamtbild ändert: Man schlägt den Band auf und sieht auf den ersten Blick, dass er von Bilal kommt. Die Inszenierung, die markanten Jugendstilgesichter, das ist alles genauso unverwechselbar wie ein einziger Ton aus der Kehle von Björk.

Das Zwischenspiel

Als 2011 der noch grauere zweite Band "Julia & Roem" erschien, brachte er erst mal eine Enttäuschung für diejenigen, die zwei Jahre lang gespannt darauf gewartet hatten, wie es mit Bacon und Kim, Ana und dem Weltenbummler Lester Outside weitergehen würde. Die kommen hier alle nicht vor. Im Mittelpunkt steht stattdessen Lawrence, ein multikonfessioneller Militärgeistlicher mit Mad-Max-Anmutung, der in der Wüste zwei Verdurstende aufgabelt (einer davon Roem) und sie zu einem festungsartigen Hotel mitnimmt, in dem sich eine kleine Patchworkfamilie aus der Geldaristokratie verschanzt hat.

Die Namen aller Beteiligten in diesem vergnüglichen Zwischenspiel sind Abwandlungen von Charakteren aus "Romeo und Julia". Und nicht nur das, bald beginnen sie auch Shakespeare zu zitieren und nachzuleben, als wäre der Barde der Genius loci des Hotels und in sie gefahren, um sein großes Drama in der Wirklichkeit aufzuführen. Was auch heißt, dass es Mord und Totschlag geben wird. So kommt die größte (und schwülstigste) Liebesgeschichte der Welt noch einmal zu Ehren – geerdet allerdings durch trockene Ironie. Die Schlussworte sind herrlich!

Mutter Natur versucht was Neues

Und jetzt also das Grande Finale. Nicht schrecken, in "Die Farbe der Luft" wird zunächst noch eine neue Gruppe von Überlebenden eingeführt. Aber diesmal switcht Bilal fast im Seitentakt zwischen den ProtagonistInnen aus den Bänden 1 und 2 und den Neuen hin und her – Letztere reisen übrigens an Bord eines "geerbten" Luftschiffs voller Atommüll und Sprengladungen, womit offenbar Terroristen einen Anschlag verüben wollten. Doch dazu kam es nie – in erster Linie, weil längst die Erde selbst direkt ins Geschehen eingreift. Sie ist es auch, die unsere drei Flüchtlingsgruppen nun zu einem von ihr festgelegten Ziel lenkt und sich dabei verstärkt von ihrer hilfreichen Seite zeigt. Was als Weltuntergangsszenario begann, wird mehr und mehr zu dem, worauf Bilal mit seiner metaphorischen Trilogie wirklich abzielte: einem fundamentalen Wandel der menschlichen Gesellschaft.

"Die globale Situation ist nicht mehr intellektuell zu verkraften", stöhnt eine der Figuren in "Die Farbe der Luft". Wie wahr – eines der Leitmotive der Trilogie, nämlich dass die Figuren ständig große Denker zitieren, gerät nun endgültig zum absurden Theater. Schon in Band 1 trat mit einem Lone Rider auf einem Zebroiden eine Nebenfigur auf, die ständig Philosophensprüche im Mund führte. In Band 2 dann die Shakespeare-Orgie – und nun reicht es schon, mit dem Luftschiff in eine offenbar intellektuell aufgeladene Wolke einzufliegen, um von ihr den Zitatenschatz der Menschheit eingeimpft zu bekommen. Solcherart "aufgetankt", geben die Reisenden Aphorismen wieder, als würden sie ein auswendig gelerntes Kunststück absolvieren oder wären hirnlose Abspielapparate. Darauf folgt wie zwangsläufig eine Phase des Schweigens und Vergessens: Während die Erde draußen Müll, Abgase und das gesamte weltweite Waffenarsenal buchstäblich verschluckt, entsorgt parallel dazu die verbliebene Menschheit ihren Geistesmüll.

Diese Stoßrichtung Bilals könnte man jetzt durchaus hinterfragen. Und zugegeben, die letzten Seiten und die darauf präsentierte Utopie sehen etwas nach einer Esoterik-Broschüre aus. (In Farbe! Der dritte Band bringt die Farben zurück!) Doch nimmt die staunenswerte allerletzte Seite dem Kitsch wieder die Spitze – ein letztes Mal setzt's hier noch einen Schuss Ironie. Und davon abgesehen: Rein intellektuell darf man an diese Trilogie ohnehin nicht herangehen, siehe das Zitat oben. Dafür ist sie – im edlen Großformat – ein überwältigendes visuelles Erlebnis. Der Trip des Jahres!

Stay tuned

Und wie geht's nächstes Mal weiter? "Julia & Roem" bringt mich auf die Idee, ein paar Romane zu versammeln, die sich mit dem Raumschiff Liebe durch SF-Welten bewegen. Aber die Auswahl der nächsten Rundschau hängt auch ein bisschen davon ab, was als nächstes an Büchern eintrudeln wird. So viel Verlockendes kommt derzeit raus: Neues von Clive Barker, Zachary Jernigan, China Miéville, ein neuer "Koko"-Roman und und und. Das wird ein leseintensiver Sommer. (Josefson, 20.6.2015)

Coverfotos: Ehapa