Migräne katapultiert auch Kinder ins Aus. Eine fehlgeleitete Schmerzregulierung macht überempfindlich für Reize. Dunkelheit hilft. Ist die Attacke vorbei, halten die Kinder auch Licht wieder aus.

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Wien - Abrupt unterbricht das Kind sein Spiel. Das Gesicht wird blass, um die Augen bilden sich blaue Ringe. Es beginnt zu weinen, erbricht sich und legt sich freiwillig schlafen. Nach etwa zwei Stunden ist die Welt wieder in Ordnung.

Dieses Szenario erlebt Neurologin Çiçek Wöber-Bingöl, Leiterin von Österreichs einziger Kopfschmerzambulanz für Kinder und Jugendliche am Wiener AKH, nicht selten. Seit 1991 hat sie rund 17.000 junge Menschen behandelt, etwa 95 Prozent davon leiden an Migräne. Auf der Warteliste befinden sich derzeit 120 kleine Köpfe.

Ausführliche Anamnese nötig

Bis zum Erstgespräch dauert es zwischen zwölf und achtzehn Monate. Nicht zuletzt deshalb, weil für die Anamnese der obligate zehnminütige Arzt-Patienten-Kontakt nicht ausreicht. Für eine exakte Diagnose müssen zunächst andere Grunderkrankungen ausgeschlossen werden. "Schließlich können Kopfschmerzen auch durch eine Nebenhöhlenentzündung oder schlechte Haltung hervorgerufen werden", so die Neurologin.

Essenziell ist außerdem das ausführliche Gespräch mit Kind und Angehörigen, in dem neben Symptomatik, Frequenz, Dauer, Lokalisation und Intensität der Kopfschmerzen auch die familiäre und soziale Situation beleuchtet wird. Zwischen 60 und 100 Minuten dauert im Schnitt der erste Termin, "manchmal sind es auch drei Stunden".

Fest steht: Migräne ist genetisch determiniert und unheilbar. Sie zählt zu den am stärksten belastenden Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Sind Vater oder Mutter von der Krankheit betroffen, liegt das Risiko, dass ihr Kind später einmal Migräne hat, bei 30 Prozent. Leiden beide Elternteile an Migräne, steigt die Wahrscheinlichkeit auf 70 Prozent.

Seit rund zwanzig Jahren ist bekannt, dass die Krankheit im Hirnstamm ihren Ausgang nimmt. Durch bildgebende Verfahren wie die Positronenemissionstomografie konnte gezeigt werden, dass im Gehirn das sogenannte "Migränezentrum" im Hirnstamm aktiviert und verstärkt durchblutet wird. Dabei kommt es zu einer vorübergehenden Fehlfunktion schmerzregulierender Systeme, und Betroffene reagieren überempfindlich auf Reize.

Stress ist ein Trigger

Die gute Nachricht: Die Anzahl der Attacken kann häufig durch das Vermeiden möglicher Auslöser - sogenannter Triggerfaktoren - gesenkt werden. "Bei den meisten Patienten zeigt sich innerhalb von sechs Wochen eine deutliche Reduktion der Migräneattacken", sagt die Kinderneurologin.

Ein zentrales Element der Therapie ist ein strukturierter Tagesablauf, der individuell auf das Kind zugeschnitten sein soll. Nicht selten heißt das: einen gleichbleibenden Schlafrhythmus etablieren, Stress reduzieren, bewusst Pausen setzen, entspannen, Druck herausnehmen. Regelmäßige Mahlzeiten und ausreichend Flüssigkeit können ebenfalls die Symptomatik verbessern.

Allerdings ist es nicht unerheblich, was dem Körper zugeführt wird: "Ich behandelte einmal einen 15-jährigen Gymnasiasten, der fünfmal in der Woche unter schweren Migräneattacken litt. Bei der Anamnese erzählte er mir, dass er bis zu dreieinhalb Liter Eistee am Tag trinkt. Nachdem er damit aufgehört hatte, traten die Migräneattacken nur mehr einmal im Monat auf", berichtet die Kinderneurologin.

Einen weiteren Faktor konnte Wöber-Bingöl in einer Studie mit 1.600 Migränepatienten identifizieren: Hatte ein Kind vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses oder der Wohnung weniger als 40 Minuten Zeit, kam es häufiger zu Kopfschmerzattacken als ohne zeitlichen Druck. Ziel der Therapie ist es, das Gehirn so weit wie möglich vor Belastungen zu schützen und damit jene Triggerfaktoren zu vermeiden, die individuell den zumeist halbseitig pochenden Kopfschmerz in Gang bringen.

Wenig Medikamente

Zwischen drei und fünf Prozent der Drei- bis Elfjährigen sind von der Krankheit betroffen. Bis zum 18. Lebensjahr steigt die relative Häufigkeit bei Burschen auf sieben, bei Mädchen auf etwa zwölf Prozent. Langzeitstudien weisen darauf hin, dass die Prävalenz von Migräne bei Kindern zunimmt. Die Ursachen dafür sind ungeklärt. "Der Anstieg hängt aber sicher nicht damit zusammen, dass sich Kinder heute eher trauen, über Kopfschmerzen zu sprechen", betont die Neurologin.

Eine medikamentöse Prophylaxe hält Wöber-Bingöl weitgehend für entbehrlich: "Bei den rund 17.000 Kindern und Jugendlichen, die ich bisher behandelt habe, war diese nur in 40 Fällen nötig." Selbst während einer Migräneattacke sei bei Kindern unter zehn Jahren nur selten eine Medikation notwendig: "Meistens reicht es, wenn die kleinen Patienten Wasser trinken und sich in einen abgedunkelten Raum schlafen legen. Schließlich will ich aus den Kindern keine zukünftigen medikamentenabhängigen Erwachsenen machen." (Günther Brandstetter, 6.6.2015)