Wohnen nach Schablone: Das Leben in Celebration wird streng kontrolliert ...

Foto: Czaja

... und ordnet sich dem Diktat von Disney unter.

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"Es ist gut, hier zu leben", sagt Kathy Carlson. "Die Stadt ist fußgängerfreundlich und sehr sicher, es gibt viele Kirchen, einen hübschen See in der Mitte und eine wunderbare Atmosphäre in den Straßen. Doch am meisten schätze ich unseren ausgeprägten Gemeinschaftssinn, der uns alle verbindet." Erst unlängst habe die Community einer Bewohnerin zum 100. Geburtstag ein elektrisches Vierrad geschenkt. Die Lady sei ganz außer sich gewesen. Jetzt könne sie endlich wieder aktiv am Alltag teilhaben.

Celebration, nur wenige Meilen von der Walt Disney World Orlando entfernt, ist eine Bilderbuchkleinstadt, ein Sozialexperiment, eine utopische Retorte aus der Feder des Trickfilmkonzerns Disney. Wer hier wohnen möchte, der muss sich den Spielregeln des privatwirtschaftlichen Giganten unterordnen. Und diese sehen nicht nur vor, in welcher Farbe das Haus gestrichen gehört, sondern auch, wie hoch der Rasen gemäht sein muss und wie die Vorhänge und Gardinen auszusehen haben. Schließlich sind auch diese Teil der unerbittlich nachhaltigen, optischen Harmonie. Demnächst begeht Celebration sein 20-Jahr-Jubiläum. Die Feierlichkeiten sind bereits in Planung.

"Wissen Sie, das ist keine Stadt für jeden Geschmack", sagt Kathy, die in der Celebration Avenue ein Maklerbüro betreibt. Imagination Realty heißt ihre Immobilienwelt. Sie ist kurz angebunden. In wenigen Minuten muss sie wieder los, um ihrer Kundin ein Haus aufzusperren. "Wer hierherzieht, der weiß ganz genau, worauf er sich einlässt. Und das ist auch gut so, denn so bleibt der schöne Charakter der Stadt, so bleiben die traditionellen Werte erhalten. Sagen Sie selbst! Sieht es hier nicht aus wie in Savannah oder wie in Charleston?"

Unkraut entfernt?

Über der Market Street, der zentralen, wiewohl nur 100 Meter langen Fußgängerzone in der Downtown, hängen Dutzende von Kameras. Vertrauen ist gut, Videoüberwachung ist besser. Täglich rückt ein sogenanntes Compliance Team aus, um in den Straßen und Vorgärten nach dem Rechten zu sehen: Ist das Haus sauber? Ist das Unkraut entfernt? Sitzt die Latte wieder proper im Zaun? Ist die Fassade, nachdem die Südseite so stark ausgeblichen war, nun endlich frisch gestrichen?

Die Damen und Herren, die mit Argusaugen durch die eng gekurvten Straßen rollen, sind Teil der Celebration Residential Owners Association (CROA). Sie notieren Auffälligkeiten, dokumentieren Schäden und fordern im Bedarfsfall die Bewohnerinnen und Bewohner zur Instandsetzung auf.

Wer dieser Einladung bis zu einer vertraglich festgesetzten Frist nicht Folge leistet, wird zur Kasse gebeten. Pro Tag in Verzug sind 100 Dollar Strafe fällig. Nach 50 Tagen und ergo 5000 Dollar Schuldenanhäufung ist Schluss. Dann wird das Gericht eingeschaltet.

"Keine Sorge, das passiert nicht oft", meint Scott Nelms, Architekt im örtlichen Büro Looney Ricks Kiss (LRK). Er ist einer der Macher der Häuser im viktorianischen, französischen, mediterranen, kolonialen oder einfach nur klassischen Stil. Diese fünf Baukastensysteme sind es, die dem Käufer zur Wahl stehen. Fassade, Holzlattenbreite und Fensterrahmendesign sind im Celebration Pattern Book, einer Art Baubibel, genau festgehalten. "Natürlich ist der Garten manchmal nicht sehr gepflegt, natürlich tanzt mal jemand aus der Reihe, indem er sein Haus pink oder blau streicht, aber meine Erfahrung ist, dass man sich in der Regel zu einigen versucht. Die Ausbrüche halten sich in Grenzen."

Schrumpfende Stadt

In der Market Street rieseln idyllische Spa- und Klavierklänge aus den Boxen. Der musikalische Schleier soll darüber hinwegtäuschen, dass die Stadt seit der Finanzmarktkrise 2008 kontinuierlich schrumpft. Es waren schon mal 11.000 Einwohner, jetzt sind es 7000. Reading Trout Books, der einzige Buchladen weit und breit, hat bereits dichtgemacht. Auch das Kino, das sich wie die gesamte Innenstadt seit 2004 in Besitz der New Yorker Betreiberfirma Lexin Capital LLC befindet, musste schließen. Man schaut sich bereits nach einer lukrativen Alternativnutzung um, heißt es auf Anfrage bei Imagination Realty.

Jedes Mittel ist recht, um neue Konsumenten nach Celebration zu locken. Von Bewohnern kann man in einer Stadt, die keinen Bürgermeister hat, sondern von Delegierten des Disney-Konzerns gelenkt und überwacht wird, kaum sprechen. Zu Weihnachten schneit es über der Fußgängerzone Flocken von Rasierschaum auf den Boden. Der einzige Schnee weit und breit. "Celebration. Der Ort, nach dem Ihre Seele gesucht hat", steht auf einer Immobilienschautafel an der Stadteinfahrt. Unweigerlich fühlt man sich an Die Frauen von Stepford und an den allmählich Verdacht schöpfenden, Unbill ahnenden Jim Carrey alias Truman Burbank in der Truman Show erinnert.

"Natürlich handelt es sich dabei um eine Illusion", schreibt Naomi Klein in ihrem 500-seitigen Bestseller No Logo!. "Die Familien, die Celebration zu ihrem Wohnort erkoren haben, sind die Ersten, die ein Leben im Zeichen der Marke führen." Und die Wiener Soziologin Anette Baldauf meint gar, Celebration sei das "wahrscheinlich infamste Stadtplanungsexperiment des auslaufenden 20. Jahrhunderts". Doch warum sehnen sich so viele Menschen nach einem Leben in der Lüge? In der Hand der Mächtigen? Im Diktat der omnipräsenten US-amerikanischen und längst schon global agierenden Privatwirtschaft?

Gefahren der Digitalisierung

"Die kommerziell überwachten Monostrukturen sind nichts anderes als die logische Folge der Suburbs und der jahrzehntelangen Stadtplanung, die jede kulturelle Identität der Peripherie in den Orbit des Pluto verbannt hat", sagt der kalifornische Soziologe und Historiker Mike Davis im Gespräch mit dem Standard. "Wir sind es schon längst gewohnt, uns der Kontrolle und Überwachung durch andere unterzuordnen. Das macht die Komplexität der Stadt simpler und leichter verständlich."

Die eigentliche Gefahr der Digitalisierung, der Robotisierung und der zunehmenden Datenspeicherung weltweit, so Davis, sei nicht die künstliche Intelligenz oder der Kampf zwischen Mensch und Maschine. "Um das zu glauben, bin ich wohl zu alt und zu stark im vergangenen Jahrhundert verhaftet. Die eigentliche Gefahr nämlich, der wir ausgeliefert sind, ist die Dualität der immer mächtiger werdenden Medien und Konzerne und der immer schwächer werdenden persönlichen politischen Stimme."

Vom Überwachungskonzern zum Überwachungsstaat ist es nur ein kleiner Schritt. Die weltweit höchste Dichte an Videokameras gibt es in London. Die meisten Augen lauern im virtuellen Raum. Celebration ist überall. "Ach, die Kameras da oben ... Nein, da mache ich mir keine Sorgen. Die dienen nur zu unserer persönlichen Sicherheit", meint eine Mutter, die ihren Kinderwagen durch die Market Street schiebt. "Das ist es, was ich an dieser Stadt schätze. Man ist unter sich, und es ist alles in Ordnung." (Wojciech Czaja, 27.6.2015)