Geld und Gesundheit sind eng miteinander verknüpft, sind sich Ministerin Sabine Oberhauser und Armutsbekämpfer Martin Schenk einig.

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"Leute, die selbstständig in schlecht bezahlten Jobs arbeiten und sich die Sozialversicherung nicht leisten können, werden mehr", betont Martin Schenk.

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"Jeder, der eine Behandlung braucht, bekommt sie", sagt Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser.

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STANDARD: Wir leben in ökonomisch angespannten Zeiten. Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise auf die Gesundheit der Bevölkerung aus?

Oberhauser: Ich denke, dass der Stress in vielen Bereichen gestiegen ist. Existenzangst ist eine Form von chronischem Stress, eine unmittelbare Auswirkung der Wirtschaftskrise. Was das Gesundheitswesen betrifft: Die steigende Zahl der Arbeitslosen und auch die zunehmende Teilzeitbeschäftigung machen sich als sinkende Staatseinnahmen bemerkbar. Die Krankenkassen haben weniger Geld, müssen aber weiterhin ihrem Versorgungsauftrag nachkommen.

Schenk: Im Rahmen unseres Netzwerks gegen Armut und soziale Ausgrenzung haben wir drei wesentliche Felder identifiziert, die Menschen mit wenig Geld unter Druck setzen. Zum einen ist es die Angst vor Delogierung bzw. der Wohnungsverlust. Zum anderen aber auch Arbeit, von der man nicht leben kann oder die so schlecht bezahlt ist, dass man sich die Sozialversicherung nicht leisten kann. Diese prekären Arbeitssituationen sind eine neue Entwicklung. Der dritte Faktor, an dem man die Wirtschaftskrise merkt, sind Erschöpfungszustände.

STANDARD: Wie ist der Zusammenhang zwischen Arm und Krank und Reich und Gesund?

Schenk: Das ist hinreichend gut untersucht. Raucher, die reich sind, leben fünf Jahre länger als Raucher, die arm sind. Generell betrachtet gibt es klare Faktoren, welche diesen Zusammenhang schlagend werden lassen. Zum einen sind das objektive Belastungen, die Wohnsituation betreffend: etwa eine feuchte, schimmlige Wohnung an einer stark befahrenen Straße. Eine feuchte Wohnung bringt einen um. Dann der Arbeitsplatz: Leute, die am Bau arbeiten, sind körperlich früher beeinträchtigt. Dazu geht es aber auch um die Robustheit des Einzelnen, also die Kraft, mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen. In diesem Bereich spielen die Kindheit, die Bildung und die Erfahrung der Selbstwirksamkeit oder Anerkennung eine wichtige Rolle. Und ebenso die Gesundheitsversorgung, konkret Selbstbehalte und Wartezeiten, sind ein Faktor. Am Land ist die medizinische Versorgung weniger gut als in der Stadt.

STANDARD: Kann der Einzelne etwas beeinflussen, etwa durch seine Lebensführung?

Schenk: Rauchen, Ernährung, Bewegung, Schlaf, die sogenannten Lebensstilfaktoren, sind die vierte Säule, die Gesundheit ausmacht. Es ist zweifellos wichtig, doch diese Art der Prävention ist eben nur einer von vier Bereichen. Wenn aber Vorschläge zur Gesundheitsförderung kommen, dann immer einzig beim Lebensstil. Da sollte man eine Regel einführen: Für jeden Vorschlag, den jemand beim Verhalten macht, muss er einen zur Reduzierung schlechter Wohnverhältnisse machen, einen zum Abbau von Barrieren im Gesundheitssystem und einen zur Stärkung der persönlichen Ressourcen. Gesundheitsförderung ohne soziales Umfeld ist genauso blind wie sozialer Ausgleich ohne den Blick auf das Handeln von Personen. Gesundheitsförderndes Verhalten ist am besten in gesundheitsfördernden Verhältnissen erreichbar.

Oberhauser: Gesundheitspolitik ist Querschnittsmaterie. Das ist altbekannt. Der soziale Wohnbau zum Beispiel ist eine Maßnahme, die wesentlich zur Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung beiträgt. Aber auch Bildung spielt eine ganz zentrale Rolle, dazu gibt es ebenfalls Untersuchungen.

STANDARD: "Health in all policies" ist deshalb ein fast inflationär bemühtes Schlagwort. Wie ernst wird eine Gesundheitsministerin von ihren Ministerkollegen überhaupt genommen?

Oberhauser: Denken wir an die Diskussionen um das Rauchverbot in der Gastronomie. Hier ist es trotz großer Hürden gelungen, das Wirtschaftsressort ins Boot zu holen und eine Lösung umzusetzen. Das Rauchverbot in Kasernen ist ein weiteres gutes Beispiel. Da hat der Verteidigungsminister den Ball, den ihm Reinhold Mitterlehner quasi zugespielt hat, angenommen. Beim Thema Nichtraucherschutz hinkt Österreich ja wirklich Jahre nach. Jetzt war die Zeit reif für Veränderungen. Die verpflichtende Turnstunde ist ein ähnliches Thema. Wir wissen alle, wie wichtig Bewegung für Kinder ist. Aber die Einführung einer verpflichtenden Turnstunde in allen Schulen wäre kompetenzrechtlich auf Bundesebene gar nicht durchsetzbar. Dazu müssen alle Player an einem Strang ziehen. "Health in all policies" heißt also auch, den Zeitpunkt für Veränderung zu erkennen und dann die Chancen gemeinsam zu nutzen.

STANDARD: Was ist mit der so oft zitierten Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit?

Oberhauser: Wenn Menschen armutsgefährdet sind, täglich darum kämpfen, Rechnungen bezahlen zu können, vielleicht sogar mehrere Jobs machen, dann denken sie nur sehr wenig über eine gesunde Lebensführung nach. Genau diese Menschen sind gesundheitlich aber am stärksten beeinträchtigt. Von Konzepten, die Menschen auf ihre Eigenverantwortung reduzieren und sie alleine lassen, wenn sie Hilfe am dringendsten notwendig hätten, halte ich nichts. Dagegen werde ich immer ankämpfen.

Schenk: Es wäre auch das Ende des Solidarprinzips. In der Debatte ist der Begriff der Eigenverantwortung total missbraucht worden. Das gedankliche Konstrukt dahinter kommt aus der Verhaltensforschung, ursprünglich aus Versuchen mit Ratten. Der Zusammenhang zwischen einem Reiz und der darauffolgenden Belohnung und Bestrafung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Das läuft an der Komplexität des Lebens vorbei. Leben ist keine Reiz-Reaktions-Schachtel. Auch in den Wirtschaftswissenschaften fällt die Idee des Homo oeconomicus.

STANDARD: Was ist die Idee des Homo oeconomicus?

Schenk: Die Überzeugung, dass sich Menschen ökonomisch nach Abwägung aller Informationen und dem rationalen Nutzen folgend verhalten. Menschen handeln irrational, folgen ihren Gefühlen, lassen sich von anderen beeinflussen, treffen gemeinsam mit anderen Entscheidungen. Was Rauchen und die Ernährung betrifft, geht es darum, die Funktion dieser Verhaltensweisen zu verstehen. Denn oft sind Zigaretten oder Süßigkeiten eine Form von Stressbewältigung, also Wohlfühlinseln in einem harten Alltag. Ein Gesundheitspolitiker, der das nicht versteht, schafft ein feindlich gesinntes Umfeld, ist moralisierend bzw. betrachtet er Menschen als Ratten. Abgesehen davon hat es Auswirkungen auf Demokratie und Freiheit. Der Mensch wird in einen Datensatz mit unterschiedlich zu sanktionierenden Körperwerten verwandelt – im schlimmsten Fall in einen Datenkörper mit einer direkten Leitung zum zuständigen Versicherungsbeamten.

Oberhauser: Ich verwehre mich gegen ein Verständnis von Prävention als Privilegiertenprogramm, wie etwa das Bonus-Malus-System der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft. Wer gebildet genug ist und genug Geld hat, sich ein Fitnessstudio finanziell und zeitlich leisten zu können, wird belohnt, andere nicht.

Schenk: Fitness ist ein Begriff der akademischen Eliten, die die Gesundheitskonzepte dieses Landes bestimmen. In unserer Studie konnten die Armutsbetroffenen mit dem Wort "fit" nichts anfangen, verbanden damit höchstens einen Slogan vom Arbeitsmarktservice.

STANDARD: Worum geht es dann?

Schenk: Sie verbinden Sport mit Lebensqualität und Erholung. "Tut gut" wäre ein guter Slogan. Im Kern geht es um Maßnahmen, die die Autonomie und Handlungsspielräume eines Menschen erhöhen.

STANDARD: Wie viele Menschen in Österreich sind nicht krankenversichert?

Schenk: Vor zehn Jahren waren es circa 160.000. Wie es heute ist, weiß man nicht so genau, weil keine Daten erhoben werden. Durch die Anfragen der Beratungsstellen schätzen wir, dass es rund 100.000 sind. Die Grundversorgung der Asylwerber und die E-Card als Teil der Mindestsicherung waren sehr effiziente Maßnahmen. Der Hauptverband blockt weitere Initiativen mit dem Argument ab, dass es sich ja ohnehin nur um ein Prozent der Bevölkerung handelt. Das ist unverständlich, weil jeder Einzelne einer zu viel ist.

STANDARD: Wer konkret?

Schenk: Leute, die selbstständig in schlecht bezahlten Jobs arbeiten und sich die Sozialversicherung nicht leisten können, werden mehr. Mitversicherte Frauen fallen nach einer Scheidung aus der Versicherung raus, auch das ist für uns neu. Seit Jahren bekannte Risikogruppen sind Obdachlose und Menschen aus dem nahen Ausland, die etwa am Bau oder als Pflegerinnen arbeiten und sich verletzen.

Oberhauser: Die Mindestsicherung für armutsgefährdete Menschen war in dieser Hinsicht sicher der wichtigste Schritt. Dass Sozialhilfeempfänger heute eine E-Card haben, hat vieles verbessert und auch Stigmatisierungen eindeutig abgebaut. Wir hatten in den letzten Jahren aber auch den Fokus auf psychosozialen Maßnahmen, etwa der Finanzierung von "Frühen Hilfen". Weil wir wissen, dass die ersten Lebensmonate und -jahre eines Kindes für das ganze Leben prägend sind, bieten wir Familien in Krisensituationen spezielle Beratung und Unterstützung an.

Schenk: Das sind erwiesenermaßen sinnvolle, weil langfristige Maßnahmen. Trotzdem. Wir haben gerade eine Studie zu "Lücken und Barrieren im österreichischen Gesundheitssystem" gemacht. Dort konnten wir erfahren, dass bei gleicher Diagnose arme und reiche Menschen tatsächlich auch anders behandelt werden. Datenmäßig lässt sich das über die Rezeptgebührenbefreiung ermitteln. Da wären Statistiken aus der Sozialversicherung interessant.

STANDARD: Gibt es in Österreich die Zweiklassenmedizin?

Oberhauser: Wenn es um die Gesundheitsversorgung der Menschen geht, eindeutig nein. Jeder, der eine Behandlung braucht, bekommt sie.

STANDARD: Hat aber Wartezeiten, die mit einer Zusatzversicherung fallen würden ...

Oberhauser: Es gibt Bereiche, die wir uns hier genauer anschauen müssen, etwa die bildgebenden Verfahren, wo das scheinbar der Fall ist. Es ist aber auch die Frage, ob die Untersuchungen überhaupt in jedem Fall notwendig sind.

Schenk: Es gibt eindeutig medizinische Leistungen, die sehr stark vom Angebot abhängen. Wenn es viele CTs und MRTs gibt, ist es wahrscheinlicher, dass sie angewendet werden.

Oberhauser: Und die Patienten fordern sie ja auch, da spielen viele Faktoren zusammen.

Schenk: Die meisten Mediziner gibt es dort, wo die lokalen Einkommen am höchsten sind. In benachteiligten Bezirken oder abgelegenen Gebieten ist die Versorgung medizinisch und psychosozial schlechter. Die Aufgabe von Gesundheitspolitik muss hier sein, gegen eine kommerzielle Dynamik zu arbeiten. Denn die pickt sich nur profitable Angebote heraus. Nur so kann eine Versorgung auch mit neuen Angebotsformen sichergestellt werden.

STANDARD: Patienten brauchen Zeit mit ihrem Arzt, doch genau da wird gespart. Das ist widersinnig.

Oberhauser: Nicht, wenn wir daran arbeiten, die Aufgaben so zu strukturieren, dass die einzelnen Berufsgruppen ihren Kerntätigkeiten besser nachgehen können. Das bedeutet Bürokratieabbau für Ärzte, aber auch eine Umverteilung in der Pflege, wie etwa die Entlastung des gehobenen Dienstes und die Aufwertung der Pflegeassistenz durch die Befreiung von administrativer und hauswirtschaftlicher Tätigkeit.

Schenk: "Cure" und "Care" sind in Österreich stark voneinander abgegrenzt. Eine Strategie wäre es, hier mehr Durchlässigkeit zu schaffen. Auch angesichts der wachsenden Zahl an Demenzkranken, die ja nicht alle in Spitälern versorgt werden können und sollen. Sozialarbeiterische und am Gemeinwesen orientierte Kompetenzen werden neben medizinischen Aufgaben immer wichtiger. Gesundheits- und Sozialzentren können bei der Gesundheitsversorgung eine organisatorische Funktion übernehmen.

Oberhauser: Eines der aktuell größten Probleme ist das stark ausgeprägte Standesdenken der einzelnen Gesundheitsberufe. Es gibt da vor allem die Angst, eine Berufsgruppe könnte der anderen etwas wegnehmen und damit unwichtig werden. Dieses Denken halte ich nicht mehr für zeitgemäß. Es geht am Patienten vorbei.

STANDARD: Was ist mit dem niedergelassenen Bereich?

Oberhauser: Da ist es sehr ähnlich. Die Hausärzte zum Beispiel haben Angst, dass die Primärversorgung in Gesundheitszentren ihre Leistungen schmälern wird. Das ist aber nicht der Fall, denn wir wissen, dass wir die Hausärzte brauchen. Es muss nur neue Arten der Kooperation geben. Das Fatale ist, dass dieser Kompetenzstreit ja auch schon zwischen den Ärzten selbst herrscht. Das macht eine Lösung zu einer großen Herausforderung.

STANDARD: Die letzte Frage: Was wünschen Sie sich in puncto Gesundheit?

Schenk: Mehr Verständnis für Menschen, die in schwierigen sozialen Lebenssituationen stehen. Das gilt besonders bei Gutachten. Respekt ist sicher der richtige Weg.

Oberhauser: Als Gesundheitsministerin Möglichkeiten für mehr Zeit und Zuwendung für die Patienten zu schaffen. Das wünschen sich ja auch die Ärzte. (Karin Pollack, Cure, 25.8.2015)