Josef Probst und Sigrid Pilz diskutieren unter anderem über Spitalsambulanzen und flächendeckende Fachärzteversorgung.

Foto: Katsey

Josef Probst: "Das österreichische Gesundheitswesen krankt primär daran, dass zu viele Menschen im Spital liegen."

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Sigrid Pilz: "Wir beobachten mit Sorge, dass es in Österreich immer weniger Kassenstellen gibt."

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STANDARD: Auf einer Skala von 1 bis 10. Wie gerecht finden Sie das österreichische Gesundheitssystem?

Sigrid Pilz: Fünf.

Josef Probst: Acht.

STANDARD: Immer mehr Patienten gehen zu Wahlärzten und zahlen das Honorar aus der eigenen Tasche. Finden Sie das gerecht?

Pilz: Das ist einer der Gründe, warum ich "fünf" sage. Die Patienten tun das nicht wegen des Komforts, sondern weil sie sonst schlicht zu lange auf einen Termin warten müssen. Das kann mit Schmerzen und anderen gesundheitlichen Nachteilen verbunden sein. Die Menschen kommen dann zu uns in die Patientenanwaltschaft und sagen: "Jetzt zahle ich viel Geld für die Sozialversicherungsbeiträge, und wenn ich etwas brauche, dann bekomme ich es nicht."

STANDARD: Die Patienten können die Honorarnote bei der Krankenkasse einreichen und bekommen 80 Prozent zurück.

Pilz: Manche Patienten glauben, dass sie 80 Prozent von dem zurückerhalten, was sie bezahlt haben. In Wahrheit bekommen sie aber nur 80 Prozent vom Tarif, den die Kasse den Ärzten zahlt. Das ist meistens viel weniger.

STANDARD: Ist das im Sinne des Hauptverbandes?

Probst: Bleiben wir bei den Fakten: Nur rund sechs Prozent der gesamten Ausgaben für ärztliche Leistungen gibt die Sozialversicherung für Wahlärzte aus. Es wird immer Menschen geben, die zu einem Arzt ohne Kassenvertrag gehen wollen. Die Aufgabe der Sozialversicherung ist es, eine umfassende Versicherung für alle Menschen in Österreich zu bieten. Sollte sich der Trend zu den Wahlärzten verstärken, müssen wir gegensteuern. Der Ausbau von Sachleistungen ist ein strategisches Ziel.

Pilz: Wir beobachten mit Sorge, dass es in Österreich immer weniger Kassenstellen gibt.

Probst: Das ist nicht richtig. Die Anzahl der Vertragsärzte der Gebietskrankenkassen ist seit 1990 um gut zehn Prozent gestiegen. Es gibt inzwischen viele Gruppenpraxen, in denen eine größere Anzahl von Ärzten tätig ist. In manchen Fachgebieten haben wir tatsächlich ein paar Ärzte weniger. Es gibt zum Beispiel mehr als 100 Vertragsradiologen in Wien. Da wird jeder einsehen, dass das zu viele sind.

Pilz: Das Argument teile ich absolut. In der Psychiatrie haben wir mit 20 Kassenstellen in Wien eindeutig zu wenige. Daneben gibt es 300 Wahlärzte.

STANDARD: Die einzelnen Krankenkassen zahlen auch unterschiedlich viel etwa für Kuren, Zahnersatz, Prothesen. Was kann jemand dafür, wenn er in Wien und nicht in Salzburg lebt?

Probst: Die meisten Leistungen sind in ganz Österreich gleich. Einige wenige hängen von der Finanzlage der jeweiligen Krankenkasse ab. Das ist vom Gesetzgeber so vorgesehen. Ich persönlich finde, dass wir diese Unterschiede beseitigen sollten. Sie erzeugen mitunter großen Unmut und sind den Menschen auch wirklich nur sehr schwer zu erklären.

Pilz: So klein sind die Unterschiede nicht. Vor allem von den kleinen Krankenkassen, wie diejenigen der Beamten oder Gewerbetreibenden, werden sichtbar mehr Leistungen bezahlt. Darin sehe ich eine unerwünschte Entsolidarisierung.

STANDARD: Viele chronisch Kranke fühlen sich derzeit nicht gut betreut. Woran krankt es?

Probst: Wir wollen neue Primärversorgungszentren mit verschiedenen Gesundheitsberufen unter einem Dach schaffen, die von in der Früh bis am Abend offen sind. Sie sollen definierte, transparente Leistungsverpflichtungen haben und eine gute Notversorgung in der Nacht bieten. Dazu brauchen wir aber noch gesetzliche Änderungen.

STANDARD: Manche Patienten und Ärzte wünschen sich Spezialzentren für bestimmte Erkrankungen. Ließe sich damit die Versorgung verbessern?

Pilz: Das ist zum Beispiel nach Krebsoperationen durchaus zielführend. Im Spital fehlt es immer öfter an Geld und Zeit für eine Nachbetreuung. Es kann nicht sein, dass man die Patienten dann alleinlässt. Für einen normalen Hausarzt ist die Betreuung von Krebspatienten zu komplex. Auch für Diabetiker würden Spezialzentren oder Netzwerke Sinn machen. Da sind Schulung und Verhütung von Folgeerkrankungen enorm wichtig. Das Disease-Management-Programm "Therapie Aktiv" wäre ein guter Ansatz, da machen nur leider viel zu wenige Ärzte mit.

Probst: Aus meiner Sicht würde die gesamtheitliche Verlagerung der Betreuung von chronisch Kranken in Spezialzentren zu einer Verschlechterung der Situation für die Patienten und Patientinnen führen. Die maßgeblichen chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder COPD müssen in der Primärversorgung bleiben. Wichtig ist vor allem die Kontinuität in der Behandlung. Es geht um ein gutes Zusammenspiel aller Ebenen – von der Primärversorgung über Facharztzentren bis hin zur Spitalsambulanz. Dafür muss es kluge, abgestimmte Behandlungspfade geben.

STANDARD: Wie sieht es mit Spezialzentren bei Krebs, Schmerzen und HIV aus?

Probst: Auch Krebsnachbehandlungen gehören wohnortnah erledigt. Ich möchte auch kein riesengroßes Schmerzzentrum haben, nur weil der Schmerz in der Primärversorgung nicht ausreichend betreut wird. Die Patienten müssen am "Best Point of Service" versorgt werden, und es muss klar sein, wer welche Leistung erbringt.

STANDARD: Laut Gesundheitsreform soll bis 2016 ein Prozent der Bevölkerung in Primärversorgungszentren betreut werden. Wie nahe ist man diesem Ziel?

Probst: Das sind rund 80.000 Menschen und ungefähr acht Zentren. Das Erste ist in Wien bereits in Betrieb, zwei weitere sind in Planung. Auch in Oberösterreich und in anderen Bundesländern sind schon Konturen sichtbar. Bei hohem Engagement und gutem Willen aller Beteiligten ist das machbar.

STANDARD: 80.000 klingt dann doch etwas bescheiden.

Probst: Belgien hat zehn Jahre gebraucht, um zwei Prozent der Bevölkerung in neuen Versorgungsformen zu betreuen. Das wäre mir zu langsam. Wir brauchen neue gesetzliche Rahmenbedingungen, sonst wird es nicht gehen.

Pilz: Auch ich finde ein Prozent nicht sehr ambitioniert. Die Richtung stimmt, das Tempo ist aber zu langsam. Und was die Ärztekammer betrifft, da muss man wohl den Dackel auf die Jagd tragen. Im Privatbereich herrscht ein anderes Tempo. In Wien gibt es ein Ärztezentrum, wo Patienten pro Jahr 300 Euro bezahlen und dann eine Reihe von Privatärzten zum Kassentarif konsultieren können. Es darf doch nicht sein, dass die öffentliche Hand sich so lange Zeit lässt, bis sie wieder privat überholt wird.

Probst: Im Facharztbereich sind wir mit Facharztzentren insgesamt noch sehr am Anfang. Da müssen wir uns sputen, damit die Patienten nicht länger von Facharzt zu Facharzt durch das System kurven müssen. Auch ich sehe es kritisch, dass hier private Institutionen schneller sind. Da müssen wir einen Zahn zulegen und brauchen vielfältige Unterstützungen.

STANDARD: Ein Ziel der Gesundheitsreform war die Entlastung der Spitalsambulanzen.

Probst: Das war es nicht.

Pilz: Das würde aber Sinn machen.

Probst: Das österreichische Gesundheitswesen krankt primär daran, dass zu viele Menschen im Spital liegen. Das ist nicht gesund und auch nicht ökonomisch. Ziel war es, eine gute erste Versorgungsebene für die Menschen zu schaffen. Die Ebene der fachärztlichen Versorgung ist derzeit etwas unkoordiniert bei niedergelassenen Fachärzten und in Spitalsambulanzen. Es gibt keinen Nachweis, dass Spitalsambulanzen teurer sind als niedergelassene Praxen. Der Rechnungshof sagt auch das Gegenteil.

Pilz: Es macht nur dann Sinn, Spitalsambulanzen zu entlasten, wenn sie heillos überlaufen sind. Oft kommen ältere Menschen auch aus sozialen Gründen hin, weil sie draußen niemand betreut. Die Sozialversicherung sollte sich mehr um die medizinische Versorgung in den Pflegeheimen kümmern. Wenn am Wochenende jemand eine Infusion braucht und kein Arzt verfügbar ist, dann kommen die Leute ins Spital. Das ist doch völlig sinnlos.

Probst: Wir haben drinnen und draußen eine parallele Versorgung mit Fachärzten. Da wird man sich irgendwann entscheiden müssen, wo die Leistung erbracht werden soll. Die Gesundheitsreform versucht hier Ordnung ins System zu bringen, damit es für Patienten überschaubarer und effizienter wird.

Pilz: Aber was ist da Ihre Lösung? Warum bauen wir nicht die Spitalsambulanzen ordentlich aus und lassen die Facharztpraxen bleiben.

Probst: Da bin ich ganz bei Ihnen: Diese chaotische Parallelität bringt den Patienten nichts und kostet viel Geld. Aber ich sehe im Augenblick nur wenig Chance auf Umsetzung. In Salzburg versuchen wir gerade, zwei kleine Radiologenpraxen nach Pensionierungen in drei Spitalsambulanzen mit mehr Service für die Patienten – bei geringeren Kosten – zu integrieren. Das stößt auf stärksten Widerstand der Ärztekammer.

Pilz: Wieso nimmt die Sozialversicherung hier ihre Verhandlungsmacht nicht stärker wahr. Sie sind doch der Big Player im niedergelassenen Bereich?

Probst: Ich glaube nicht, dass wir als besonders schüchtern bekannt sind. Ich nehme aber gerne weitere Unterstützung aller Player entgegen.

STANDARD: Die Gesundheitsreform wurde unter dem Slogan einer "neuen Kommunikationskultur" verkauft. Danach sieht es jetzt nicht gerade aus.

Probst: Ich möchte es vorsichtig formulieren: Der Vorsatz, einen gemeinsamen Weg zu gehen, kann in Wahljahren etwas nachlassen. Die politische Temperatur liegt derzeit etwas über der normalen Körpertemperatur. Da lässt die Energie, an der Form zu arbeiten, etwas nach.

STANDARD: Wie soll der geplante Telefon- und Webdienst künftig die Patienten durch das System leiten?

Pilz: Ich erhoffe mir, dass man damit viele unnötige Spitalsaufenthalte und Ambulanzbesuche verhindern kann. Wenn in Wien jemand 144 wählt, dann kommt die Rettung auf alle Fälle, ob man sie braucht oder nicht. Man muss auch darauf achten, welche Leistungen künftig der Ärztefunkdienst erbringen soll. Wir haben bei der Patientenanwaltschaft gerade einen gravierenden Fall von ganz schlechter telefonischer Betreuung eines Notfalls auf dem Tisch. Da ist ein Kind an einer Meningokokken-Sepsis gestorben, weil der Ärztefunkdienst erst nach einer Stunde und 50 Minuten gekommen ist. In Niederösterreich gibt es ein gutes Abfragesystem. Das sollte dann in ganz Österreich ausgerollt werden.

STANDARD: Wie weit ist da die Umsetzung?

Probst: Die Sozialversicherung hat die Konzepte erstellt, und die notwendigen Beschlüsse wurden Ende Juni gefasst. Ein österreichweit einheitliches und gemeinsam gewartetes Abfragesystem mit identer Telefonnummer soll eine hohe Qualität der Gesundheitshotline sicherstellen. Ich hoffe, dass wir Ende 2016 mit den Pilotprojekten in Vorarlberg, Niederösterreich und Wien starten können.

STANDARD: Nach ein paar sehr guten Jahren sind die Finanzprognosen der Krankenkassen derzeit nicht gerade rosig. Warum?

Probst: Die Einnahmenentwicklung mit durchschnittlich drei Prozentpunkten in den nächsten Jahren ist noch halbwegs akzeptabel. Sorgen bereitet uns der Kostenanstieg bei den Medikamenten. Die Prognose lag bei rund sechs Prozentpunkten, und derzeit liegen wir bei 10. Wenn es so bleibt, bekommen wir wirklich Probleme.

STANDARD: Einer der Gründe ist, dass immer mehr extrem teure Medikamente auf den Markt kommen.

Probst: Weltweit stehen die Gesundheitssysteme vor der Herausforderung, mit Monopolpreisen umzugehen. Wir haben zum Beispiel in den letzten zwölf Monaten für 1200 Patienten mit HepatitisC 97 Millionen Euro bezahlt. Das sind Therapiepreise im Ausmaß eines Mittelklassewagens bis Luxusschlittens. Das ist auf Dauer nicht finanzierbar. Da müssen die österreichischen gesetzlichen Regelungen geändert werden und das Regelwerk auf EU-Ebene.

STANDARD: Es wurde in Studien eindrücklich gezeigt: Soziale Ungleichheit lässt die Menschen früher sterben. Wie kommen wir in Österreich auf der Gerechtigkeitsskala näher an zehn Punkte?

Probst: International stehen wir nicht schlecht da. Aber natürlich sind auch bei uns die Chancen auf Gesundheit ungleich verteilt. Das Wichtigste sind Investitionen in die Bildung und in Bevölkerungsgruppen mit besonders schwierigen Lebensbedingungen. Das kann das Gesundheitssystem nicht alleine erledigen. Da brauchen wir einen "Health in all Policies"-Ansatz. Es geht um gesundes Aufwachsen, Gesundheitskompetenz und um gezielte Unterstützungen für bestimmte Gruppen und einzelne Regionen. Was die Krankenbehandlung betrifft, wünsche ich mir mehr Transparenz für die Patienten, ein besseres Service und mehr Wirkungsorientierung.

Pilz: Das Problem ist erkannt, und wir haben Gesundheitsziele definiert, die die Chancengerechtigkeit im Fokus haben. Wir müssen nun dafür sorgen, dass sich die Politik nicht ständig von Lobbys dreinreden lässt. Die Ärztekammer erlangt oft Definitionsmacht und Deutungshoheit, die ihr nicht zustehen. Diese zu reduzieren war ein Kernelement der Gesundheitsreform. Mittlerweile hat man allerdings den Eindruck, dass die alten und etablierten Machtverhältnisse wieder auf dem Vormarsch sind. (Andrea Fried, Cure, 28.8.2015)