Was ist, medizinisch gesehen, ein Notfall? Bewusstlosigkeit: ja. Insektenstich: nein. In Österreichs Ambulanzen überwiegen Bagatellfälle.

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Die neue Telefonhotline Teweb soll eine erste Anlaufstelle für verunsicherte Patienten sein.

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Es ist der Fuß, der Sorgen macht. Da war dieser Stich, vielleicht eine Gelse, und über Nacht ist das Bein angeschwollen. Nicht einmal der Schuh passt. Außerdem juckt's. Es ist Sonntag, und mit jeder Stunde steigt die Sorge. Dann fährt man ins Spital. Dort sitzen Menschenmassen. Es dauert Stunden, bis man drankommt, um dann zu hören: "Das ist ein Insektenstich, wir sind eine Notaufnahme, fahren Sie wieder heim und legen Sie einen Eisbeutel drauf."

Die Versorgung von Patienten im Spital ist eben kostspielig. "Unser Gesundheitssystem geht seit Jahrzehnten davon aus, dass Menschen wissen müssen, wohin sie sich mit welchen Beschwerden wenden sollen. Aber das stimmt nicht", sagt Christof Constantin Chwojka, Geschäftsführer von 144 Notruf NÖ, der mit der Umsetzung einer neuen Hotline für medizinische Fragen betraut ist. Ziel: eine neue Anlaufstelle für Menschen, die sich gesundheitlich verunsichert fühlen.

Wegen Lappalien ins Krankenhaus

Eine wegen des Insektenstichs verunsicherte Patientin würde dann eine Nummer wählen und mit einem Mitarbeiter verbunden werden, der bei der Abfrage von Symptomen einem genauen Leitfaden folgt.

Fragebaum heißt das im Fachbegriff. Warum rufen Sie an? Wurden Sie von einem Insekt gestochen? Welchem? Haben Sie Atemprobleme, einen geschwollenen Mund? Hatten Sie bereits allergische Reaktionen nach Stichen? Haben Sie Fieber? Jede Antwort eröffnet auf dem Bildschirm des Mitarbeiters neue Optionen.

Er klickt an, was der Anrufer antwortet. Am Ende erscheint auf seinem Bildschirm: "Die Patientin soll einen Hausarzt aufsuchen." Noch befindet sich diese Hotline mit dem Projektnamen Teweb in den Startlöchern. Sie ist Teil der Gesundheitsreform, die das medizinische Versorgungssystem im Sinne eines "Best point of service" neu organisieren will. Was das heißt? Jeder Patient soll dort versorgt werden, wo er die bestmögliche Behandlung bekommt – bestmöglich auch in dem Sinne, was die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems betrifft.

Notfall im medizinischen Sinne

Spitalsambulanzen, so viel steht fest, sind teuer. Dorthin sollen Menschen, die auch im medizinischen Sinne als Notfälle gelten. Das sind Verletzungen mit starkem Blutverlust, Knochenbrüche, Brandverletzungen, lebensbedrohliche Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemnot, Bewusstseinsstörungen. Hingegen haben Insektenstiche, ein Zeh, der seit Wochen schmerzt, oder Kreuzschmerzen nichts in der Notaufnahme verloren.

Die Realität sieht anders aus. Wer einen Freitagabend auf Ebene sechs im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) verbringt, weiß, wie breit das Spektrum der selbstdiagnostizierten Notfälle sein kann. Da sitzen Menschen mit Schnupfen, Scharlach und Schnittverletzungen nebeneinander. Zwischen 200 und 400 Patienten kommen täglich.

"Fast 90 Prozent der Patienten könnten auch bei einem niedergelassenen Arzt am darauffolgenden Tag behandelt werden", konstatiert Anton Laggner, Leiter der Notfallambulanz. Er stellt täglich ab 16 Uhr einen deutlichen Patientenanstieg fest, am schlimmsten seien die Fenstertage. Der Grund: Notfallambulanzen sind 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet.

Bequem für Patienten

Im niedergelassenen Bereich fehlen solche Angebote. Zudem verfügt ein Spital auch über alle zusätzlichen diagnostischen Einrichtungen wie etwa Labore oder Röntgen beziehungsweise Computertomografie. Laggner weiß auch, dass selten Faulheit oder Fadesse die Motive der Patienten sind, ihre Zeit in den Wartegängen auf Ebene fünf zu verbringen. Nicht selten gibt es soziale Motive: Wer am Wochenende kommt, tut das nicht selten, damit der Arbeitgeber nichts davon mitbekommt, aus Angst vor Jobverlust.

"Es sind auch kulturelle Unterschiede. In anderen Ländern ist es üblich, ins Krankenhaus zu gehen", sagt Ruth Kreuzeder, Leiterin der Notfallambulanz im Kaiser-Franz-Josef-Spital. Auch bei ihr ist die Ambulanz täglich überfüllt.

Viele Österreicher seien, weiß sie, einfach zu bequem, sich beim Hausarzt einen Termin auszumachen und ihn dann auch einzuhalten, oder sie fürchten, von dort erst recht wieder weiterüberwiesen zu werden. In einem Spital sind die Spezialisten verschiedener Fachrichtungen ja auch vor Ort.

Bei Sorge anrufen

Die Idee, Patientenströme besser als bisher zu lenken, hat einen Namen. Triagierung ist der Fachbegriff für ein Verfahren, das die Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen nach ihrer Dringlichkeit zum Ziel hat – und zwar noch bevor Menschen aus Eigeninitiative in Notfallambulanzen kommen, weil sie sich ihrer Optionen einfach nicht bewusst sind.

Eine Alternative zur Versorgung außerhalb der Ambulanzen ist Primary Health-Care. Das sind Primärversorgungszentren – eine Gemeinschaftspraxis mit längeren Öffnungszeiten und Unterstützung durch andere Gesundheitsberufe –, auf die mit der Gesundheitsreform gesetzt wird. Teweb, die telefonische Hotline, ist eine zweite Idee.

In der Notfallversorgung bleiben die Rettungsdienste weiterhin eine wichtige Säule. Den Notruf 144 kennen meist schon die Kindergartenkinder. Wer die Nummer wählt, kommt in die Zentrale: Am anderen Ende der Leitung sitzen Sanitäter oder speziell ausgebildeten Mitarbeiter, die sich in der Einschätzung, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelt und ein Rettungsfahrzeug losgeschickt werden soll, ebenfalls an einem Fragekatalog orientieren.

Was die Hotline kann

In Niederösterreich wurden der Ärztefunkdienst 141 und der Notruf 144 zusammengelegt. "Das hat Vorteile bei der Entscheidung, welcher Rettungsdienst zum Anrufer geschickt wird, gebracht", sagt der niederösterreichische Patientenanwalt Gerald Bachinger. Das niederösterreichische Modell ist ein "One-Stop-Shop". Nicht der Patient entscheidet, wo er anruft, sondern Callcenter-Mitarbeiter bestimmen mithilfe des Fragebaums, ob ein Hubschrauber kommt, ein Notarzt oder ein Rettungsauto geschickt wird. Im seltensten Fall kommt niemand.

"Die Qualität der Versorgung hat sich dadurch stark verbessert", sagt Bachinger, der das am Rückgang der Beschwerden ablesen kann. Die neue telefonische Hotline ist für Patientenanwalt Bachinger ein Element, das bisher noch fehlt.

Die Notrufnummern der Rettung bleiben gleich, doch wenn dort durch den standardisierten Fragebaum klar ist, dass keine Lebensgefahr besteht, werden Patienten nicht einfach ins Spital transportiert, sondern haben die Möglichkeit, auch nichtakute gesundheitliche Fragen mit Experten zu besprechen.

Fragen bezüglich Grippesymptomen zum Beispiel oder plötzlich aktuell werdende Themen, etwa die Atemwegserkrankung Mers vor ein paar Monaten, nennt Bachinger Beispiele, für die er sich Teweb gewünscht hätte. Der Fragebaum bleibt bei jedem Anruf immer die Grundlage, "obwohl wir natürlich mit unserem Hotlineangebot medizinische und soziale Fachrichtungen verbinden", sagt Chwojka, Projektleiter von Teweb. Dann beispielsweise, wenn frischgebackene Eltern einfach nicht wissen, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Baby zum ersten Mal hoch fiebert.

Entlastung als oberstes Ziel

Aus technischer, organisatorischer und inhaltlicher Sicht könnte laut Bachinger Teweb in Niederösterreich als Pilotprojekt längst starten, doch bisher scheiterte es an der Finanzierung. Die Testphase soll Ende 2016 beginnen.

Bis dahin wird es so bleiben, dass von den durchschnittlich 400 Patienten täglich in der Notfallambulanz des AKH nur ungefähr 30 stationär aufgenommen werden, auch im KFJ wird es sich weiterhin nur bei einem Viertel aller Patienten um tatsächliche Notfälle handeln.

Worüber sich Notfallmediziner wie Kreuzeder und Laggner einig sind: Jede Maßnahme zur Entlastung der Ambulanzen ist hilfreich, zumal die Ambulanzen als solche ja auch künftig existieren werden. Am AKH erwägt man, einen Allgemeinmediziner für die Bagatellfälle im Haus anzusiedeln – damit sich die Spezialisten um die wirklich kritischen Patienten kümmern können.

In vielen Fällen wird Teweb besorgte Menschen einfach nur beruhigen, diejenigen mit Insektenstichen, kleinen Prellungen oder Zeckenbiss. Oft ist vielleicht nicht einmal der Besuch beim Hausarzt notwendig. Das ist dann auch fürs System eine sehr kostengünstige Variante. (Marie-Theres Egyed, Karin Pollack, Cure, 25.8.2015)