Bild nicht mehr verfügbar.

Privatversicherte Patienten werden überdiagnostiziert und übertherapiert, behaupten internationale Studien.

Foto: dpa / Matthias Hiekel

Zu viel des Guten

Private Krankenversicherungen bringen Patientinnen und Patienten viele Vorteile. Sie sind VIPs im Krankenhaus und in der Ordination. Nicht immer zu ihrem Vorteil. Wenn Honorare locken, wird manchmal gerne überbehandelt

Von Jutta Berger

Wer eine private Krankenversicherung hat, ist in Ordinationen und Privatkrankenhäusern eine "very important person" (VIP). Manchmal laufen Privat- oder Zusatzversicherte jedoch Gefahr, zu viel des Guten zu bekommen. Sie werden öfter mit teuren bildgebenden Verfahren wie MRT oder CT untersucht, nehmen häufiger Labordienste in Anspruch, bekommen teure Medikamente, kommen öfter unters Skalpell, werden überdiagnostiziert und übertherapiert. Das behaupten zumindest internationale Studien. In Deutschland, wo man je nach Berufsgruppe oder Einkommen zwischen Pflicht- und Privatversicherung wählen kann, diskutieren und kritisieren Versicherungen unangemessene medizinische Interventionen. Man spricht von Überversorgung.

Über- und unterversorgt

In Österreich haben 2,5 Millionen Menschen zusätzlich zur Pflichtversicherung eine private Krankenversicherung. Überversorgung ist aber (noch) kein öffentliches Thema. Weder Spitalserhalter noch Versicherungen hätten ein Interesse an einer öffentlichen Debatte, sagt Thomas Czypionka, Leiter des Forschungsbereichs Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik (IHS HealthEcon) am Institut für Höhere Studien. Schließlich bringe die Behandlung von Privatpatienten in öffentlichen Krankenhäusern den Spitalserhaltern Vorteile. Czypionka: "Immerhin decken Zusatzversicherungen sieben Prozent der Spitalsausgaben. Auch bei den Gehältern der Ärztinnen und Ärzte profitiert der Spitalserhalter, sie werden durch Privathonorare aufgebessert."

Die Kehrseite der Medaille ist die Ungleichbehandlung. Obwohl der § 16 Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz regelt, dass für die ärztliche Behandlung ausschließlich der Gesundheitszustand maßgeblich ist, werden Privatversicherte bevorzugt. "Sie kommen früher dran, werden besser betreut", sagt Czypionka. Wer eine private Versicherung hat, dürfte eigentlich nur bei Zimmerbelegung und Essen profitieren, nicht bei Betreuung und Behandlung. Denn Privatversicherungen bezahlen nur die Zusatzleistung, die Grundleistung finanziert die allgemeine Krankenversicherung.

Studien über das "Wespennest"

Die Wirklichkeit schaue aber oft anders aus, kritisiert Czypionka. So werde immer wieder berichtet, dass Primarärzte nur Visite bei Privatpatienten machen und Auszubildende von Privatpatienten ferngehalten würden. Zu vermuten sei auch, dass Privatversicherte länger im Krankenhaus behalten werden, was für die öffentliche Hand Mehrkosten bedeute. Zahlen und Fakten gebe es dazu nicht, sagt der Gesundheitsökonom: "Niemand hat Interesse an solchen Studien, man würde da wahrscheinlich in ein Wespennest stechen."

Bereits 2011, als deutsche Medien über die Überversorgung von Privatversicherten berichteten, regte Claudia Wild, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Technology Assessment (LBI-HTA), Evidenzanalysen an. Man sollte sich den angemessenen Aufwand bestimmter Diagnosegruppen und empirische Analysen der Abrechnungsdaten von Versicherungen genauer anschauen. Vier Jahre später sieht Wild erste kritische Ansätze. Der Zusammenhang zwischen Überdiagnostik und Überversorgung würde mittlerweile "doch von einigen" erkannt, sagt die Sozialmedizinerin.

So wurde ihr Institut von den Ländern beauftragt, Strategien zum angemessenen Einsatz von Magnetresonanztomografie (MRT) und Positronen-Emissions-Tomografhie/Computertomografie (PET/CT) zu erarbeiten. Hintergrund waren die langen Wartezeiten für solche Untersuchungen. Die Studien sollen nun dazu dienen, Kriterien für den Einsatz der Technologien zu entwickeln, aber auch Bewusstseinsbildung bei den Patientinnen und Patienten anzuregen. Wild nennt ein Beispiel für unangemessenen MRT-Einsatz: "Man muss nicht alle mit chronischen Rückenschmerzen zum MRT schicken."

Über- und Unterbehandlung

Verbraucherschutzorganisationen raten Patientinnen und Patienten, diagnostische und therapeutische Verfahren zu hinterfragen, Zweitmeinungen einzuholen. Die Zweitmeinung wird allerdings von der gesetzlichen Krankenversicherung im Gegensatz zu den Privaten nicht bezahlt. "Wenn ein Arzt eine Operation empfiehlt, decken moderne Sonderklassetarife oder Zusatztarife auch die Kosten für eine zweite Meinung ab", sagt Peter Eichler, Vorstand von Uniqa Österreich.

Das richtige Niveau einer Heilbehandlung festzustellen, sowohl Über- als auch Unterbehandlung auszuschließen sei schwierig, sagt Eichler: "Es gibt in der Medizin kaum harte Behandlungsstandards, zudem muss jeder Fall individuell beurteilt werden." In Zweifelsfällen prüft die Versicherung aber, ob eine stationäre Behandlung nötig war.

Drei-Klassen-Medizin: Zusatzversichert, versichert und nicht versichert.
Foto: KHM; Illustrationen: Sarah Egbert Eiersholt

Nur das Mindeste

Rund 100.000 Menschen in Österreich sind nicht krankenversichert. Sie sind auf jene Einrichtungen angewiesen, die medizinische Versorgung kostenlos anbieten. Menschen, die dort hinkommen, sind oftmals sehr schwer krank.

Von Florian Bayer

Studenten, geschiedene Ehefrauen, Unternehmer im Konkurs, Obdachlose, Flüchtlinge ohne Papiere: Die Gruppe der Nichtversicherten ist vielfältig, genauso vielfältig sind die Hintergründe und Lebensgeschichten. Allen gemein ist, dass ihnen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt ist.

Dabei hätte jeder Zweite von ihnen zwar Anspruch auf Versicherungsschutz, macht davon aber nicht Gebrauch: Aus Scham, Angst vor behördlichen Schikanen – oder schlicht aus Unwissenheit. Eine andere Ursache: fehlende Anspruchsberechtigung, ist doch die Versicherung immer noch stark an die Erwerbstätigkeit gekoppelt. So sind etwa nur die Arbeitslosen versichert, die auch Arbeitslosengeld beziehen – viele, vor allem Junge, haben aber noch nicht genug Versicherungsmonate beisammen.

Oder es scheitert am Geld, wie etwa bei einem Viertel der insgesamt 200.000 geringfügig Beschäftigten, die sich den Beitrag von rund 50 Euro im Monat einfach nicht leisten können.

Gallisches Dorf

Exakte Daten gibt es zwar nicht, die Zahl der Nichtversicherten liegt jedoch konstant bei rund einem Prozent der Bevölkerung: Unter den Betroffenen sind viele Migranten, auch immer mehr Flüchtlinge. Einer Studie der Donau-Uni Krems zufolge haben undokumentierte Flüchtlinge etwa in der Schweiz, in Holland, Spanien oder Frankreich vollen Zugang zum Gesundheitssystem, in Österreich und Deutschland hingegen gar keinen.

Sie müssen auf die Angebote von Hilfsorganisationen ausweichen – etwa Amber-Med, einer gemeinsamen Einrichtung von Diakonie und Rotem Kreuz, die am südlichen Stadtrand Wiens ambulant-medizinische Versorgung für Nichtversicherte, darunter viele Familien und Kinder offeriert. Kostenlos und anonym.

"Wir beurteilen nicht die Lebensgeschichte, sondern geben Unterstützung, soweit es uns möglich ist", sagt Amber-Med-Leiterin Carina Spak. Die Mitarbeiter, vom Arzt über die Ordinationsassistenz bis hin zum Dolmetscher, arbeiten alle ehrenamtlich. Ihre Überzeugung: Kranken Menschen muss man helfen – egal, ob versichert oder nicht, egal, wo sie herkommen. "Wir sind ein kleines gallisches Dorf. Aber wir tun, was wir können."

Krankheit und fehlender Versicherungsschutz

Bereits am Montagmorgen ist das Amber-Med-Wartezimmer bis zum letzten Platz gefüllt. Vor allem Frauen und Kinder sitzen hier, die meisten aus anderen Ländern. Sie lassen es sich nicht anmerken, doch die meisten im Raum brauchen die Behandlung dringend, haben Schmerzen. Häufiger als die restliche Bevölkerung leiden Menschen in prekären Lebenssituationen, um die es sich bei Nichtversicherten überwiegend handelt, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an Erkrankung der Lunge oder des Bewegungsapparats. Auch Alkoholismus und soziale Verwahrlosung stehen unmittelbar mit fehlendem Versicherungsschutz in Verbindung, zeigen internationale Studien.

Diesen Zusammenhang bestätigt auch Markus Reiter, Leiter der Organisation Neunerhaus in Wien, die jährlich rund 3000 Obdachlose, meist nichtversicherte Menschen, an 18 Standorten medizinisch behandelt. "Unsere Patienten haben im Schnitt sechs Diagnosen gleichzeitig. Sie kommen erst dann, wenn gar nichts mehr geht."

Um bereits früher gegenzusteuern, bemüht man sich um einen möglichst unkomplizierten Zugang: "Jeder kann sich zu uns ins Wartezimmer setzen, man muss nichts ausfüllen. Es ist ja schon ein enormer Schritt, sich überhaupt Hilfe zu suchen", sagt Reiter.

Kein Grundrecht auf Versorgung

Neben dem Neunerhaus gibt es in Wien noch den Louise-Bus der Caritas, der durch die Stadt tourt und Obdachlose und Flüchtlinge betreut, das Spital der Barmherzigen Brüder, wo auch Nichtversicherte operiert werden, oder die Geburtsklinik Göttlicher Heiland, wo jährlich 50 Geburtsplätze für sozial Benachteiligte zur Verfügung stehen. Auch in Graz und Linz gibt es Initiativen, doch im ländlichen Raum ist das Angebot deutlich geringer, insbesondere in Westösterreich.

"Leider erfüllen wir noch immer kein Grundrecht auf medizinische Versorgung. Es gilt eine Holschuld: Wenn man nicht sehr dahinter ist, dass man versichert ist, fällt man durchs Netz", sagt Reiter. Die 2010 eingeführte bedarfsorientierte Mindestsicherung bietet zwar eine Krankenversicherung für alle Bezieher, doch ist vor allem auf dem Land die Hemmschwelle noch groß, aufs Gemeindeamt zu gehen und darum anzusuchen.

"Es wird uns auch weiterhin noch brauchen"

Was könnte man darüber hinaus verbessern? "Ein erster Schritt wäre bessere Information vonseiten der Krankenkassen, wann der Versicherungsschutz ausläuft", sagt Reiter. Denn viele Betroffene wissen gar nicht, dass sie nicht (mehr) versichert sind. Aber er denkt noch weiter: "Man könnte die Versicherung an den legalen Aufenthaltsstatus koppeln, anstatt an Erwerbstätigkeit bzw. Mitversicherung. In den skandinavischen Ländern ist das der Fall", sagt Neunerhaus-Betreiber Reiter.

Weil das hiesige System seit jeher anders ist, erwartet er von der Politik keine Richtungsänderungen in nächster Zeit. "Es wird uns auch weiterhin noch brauchen." (Jutta Berger, Florian Bayer, Cure, 2.9.2015)