Gerlind Weber: "Ohne kontrollierte Schrumpfung wird es nicht gehen."

Foto: Luiza Puiu

Baukulturgespräche 2015 in Alpbach: Gerlind Weber, Wissenschafterin für Raumplanung und Raumordnung, fordert, nicht immer nur von Wachstum zu sprechen. In strukturschwachen Regionen plädiert sie im Gespräch mit Wojciech Czaja für kontrollierte Schrumpfung und aktive Sterbehilfe.

STANDARD: Stadtmensch oder Landei?

Gerlind Weber: Ich bin durch und durch ein Landei. Wenn auch mit starken städtischen Einsprengseln. Ich bin am Land aufgewachsen, am Attersee, und obwohl ich den Großteil meines Lebens in der Stadt verbracht habe, fühle ich mich dem Land auch heute noch stark verbunden. Allein schon aus beruflichen Gründen bin ich mehr oder weniger gezwungen, in Wien zu leben. Die Verbindung von beiden empfinde ich als große Bereicherung.

STANDARD: Mehr und mehr entwickelt sich zwischen Großstadt und manchen Landregionen eine Ungleichbehandlung, was Infrastruktur, Arbeitsplätze und Mobilitätsangebot betrifft. Wie geht die Regionalentwicklung mit dieser Ungleichheit um?

Weber: In der Vergangenheit hat sich die Regionalentwicklung immer bemüht, einen Ausgleich zwischen Stadt und Land zu schaffen und Geld von den strukturstarken in die strukturschwachen Regionen zu verlagern. Dennoch ist es nicht gelungen, das Abrutschen dieser schwachen Regionen zu verhindern. Jede finanzielle Hilfe ist eine Tablette, die Linderung bringt. Aber sie bringt keine Heilung.

STANDARD: Von welchen strukturschwachen Regionen sprechen wir hier eigentlich?

Weber: Die Muster sind seit Jahrzehnten immer noch die gleichen. Wir sprechen in erster Linie von den ländlichen Regionen entlang des Eisernen Vorhangs, sofern diese nicht von Ballungsräumen wie etwa Wien und Graz unterbrochen sind, sowie von einer alpinen Zunge, die sich von Osttirol über den Alpenhauptkamm bis in die Bucklige Welt in Niederösterreich erstreckt.

STANDARD: Wer trägt Schuld daran, dass diese Regionen so stark vernachlässigt wurden?

Weber: Niemand und alle zugleich. Niemand, weil: Es kann nicht jede Region in Österreich eine boomende, florierende sein. Faktoren wie periphere Lage, dünne Besiedelung, zeitintensive Erreichbarkeit, fehlende soziale Infrastruktureinrichtungen, Mangel an guten Erwerbsmöglichkeiten und so weiter benachteiligen diese Regionen. Und alle zugleich, weil wir uns tendenziell dort niederlassen, wo wir uns bessere Chancen versprechen.

STANDARD: Was tun?

Weber: Sich nicht gegen das Schrumpfen erfolglos stemmen, sondern es zulassen und aktiv gestalten! Aber wie gesagt: Finanzielle Hilfe allein ist, wie wir gesehen haben, zu wenig. Wir haben wie auch viele andere Länder ein Verteilungsproblem.

STANDARD: Macht es einen Sinn, diese Regionen überhaupt noch zu retten beziehungsweise zu unterstützen? Die Schweiz etwa ist dafür bekannt, dass sie unter bestimmten Gesichtspunkten Dörfer und Regionen abbaut und kontrolliert verfallen lässt.

Weber: Die Schweizer sind uns in dieser Hinsicht um einiges voraus. Ob so etwas möglich oder auch nur denkbar ist, hängt von der politischen Akzeptanz ab, vom Konsens zwischen Individuum und Kollektiv, letztendlich auch von der demokratischen Reife eines Volkes, das in der Lage ist, das Allgemeinwohl und den volkswirtschaftliche Benefit über die individuellen Interessen zu stellen. Um Dörfer und ganze Regionen wirklich aufzugeben, dazu braucht es verdammt viel Kraft und Ausdauer. Ja, es ist möglich. Aber ich würde den Aufwand und den Gegenwind nicht unterschätzen. Erklären Sie einmal einer Bauernfamilie, dass ihr Grund und Boden, das ihr Leben in dieser Form keine Zukunft mehr hat!

STANDARD: Aber genau damit setzen Sie sich in Ihrer Arbeit ja auseinander!

Weber: Und ich wurde für meine Überlegungen lange Zeit kritisiert. Am liebsten hätte man mich von so manchem Rednerpult weggezogen, als ich davon gesprochen habe, nicht immer nur das Wachstum zu beschwören, sondern auch die kontrollierte Schrumpfung mancher Regionen in Erwägung zu ziehen. Die einen haben mir aktive Sterbehilfe unterstellt, die anderen haben gemeint, ich sei ein Pompfüneberer der Raumordnungspolitik.

STANDARD: Woher nimmt man die Energie, um diesen Buhrufen standzuhalten?

Weber: Aus einer fachlichen Überzeugung und aus dem Glauben, dass auch das Schwierige ausgesprochen werden muss.

STANDARD: Mit welchen Argumenten?

Weber: Schauen Sie, die Regionalpolitik wie auch die Wirtschaft spricht vom permanenten Wachstum. Das ist quasi systemimmanent. Allein, die Realität sieht anders aus: Wir haben eine Studie über Gemeinden in Niederösterreich gemacht, in denen die Schlüsselparameter Einwohner und Arbeitsplätze schon seit Jahrzehnten rückläufig sind. In manchen Fällen beträgt das Bevölkerungssaldo bis zu 45 Prozent! Und trotzdem sprechen die Bürgermeister und Planer immer noch von Infrastrukturausbau, Zuwanderungspotenzial und Gewerbeansiedlung. Da kann ich nur sagen: Wacht auf! Mit den Wachstumsversprechen und Rezepte für den erhofften Turn-around vom Niedergang zum Wachstum ist es vorbei, allein schon, weil es vor Ort gar nicht mehr die Menschen gibt, die diesen Zuwachs erzeugen könnten.

STANDARD: Manche wachen auf.

Weber: Ja, zum Glück! Und ich gebe zu, das ist nicht leicht, denn so eine Gemeinde wird, sobald von Schrumpfung und rückläufiger Entwicklung die Rede ist, in ihrer Würde gekränkt. Manche von ihnen verkommen zu einer zähen, gallertartigen Masse.

STANDARD: Wie sehen die konkreten Schritte aus, wenn es darum geht, einen Schrumpfungsprozess einzuleiten?

Weber: Das wichtigste ist, dass so ein Prozess nicht nur von oben, sondern vor allem auch auf Gemeindeebene abgewickelt wird. Ich rate dazu, im Einvernehmen mit der Bevölkerung und den direkt davon Betroffenen intensiv zu arbeiten. Erst wenn für die Letztverbleibenden Ersatzstandorte gefunden sind, erst dann kann man dazu übergehen, einen Standort aufzugeben, indem man dort dann nicht mehr investiert, keine Reparaturen mehr vornimmt und beginnt, den Ort sich selbst zu überlassen.

STANDARD: Das klingt nach einem schmerzvollen Prozess.

Weber: Das ist er auch. Da werden ganze Familiengeschichten unterbrochen und müssen woanders ihre Fortsetzung suchen.

STANDARD: Wie groß muss der Leidensprozess sein, damit man zu handeln beginnt?

Weber: Der muss enorm sein.

STANDARD: Gibt es positive Beispiele, wo dieses Auflassen und Aufgeben von Land gut funktioniert hat?

Weber: Ein wunderbares Beispiel dafür ist Ostdeutschland. Dort hat man es geschafft, die Städte nicht nur zu schrumpfen, sondern ihnen dadurch auch eine neue Lebensqualität zu verleihen. Häuser wurden abgerissen, und zwar nicht planlos, sondern stets so, dass sich nun von der Stadtgrenze bis in den Kern grüne Lungen durch die Stadt ziehen. Dank diesen neuen Naherholungsgebieten sind wunderbare, lebenswerte Stadträume entstanden. Es geht!

STANDARD: Wird Raumordnung Ihrer Meinung nach in Österreich zu wenig ernst genommen?

Weber: Und wie! Ein Lied könnte ich Ihnen davon singen! Bei den Baukulturgesprächen in Alpbach habe ich von Finanzminister Hans Jörg Schelling das erste Mal gehört, dass man nun endlich überlegt, Raumplaner in die Finanzausgleichsverhandlungen einzuladen. Das habe ich schon vor vielen Jahren vorgeschlagen. Damals hat man mich noch ausgelacht.

STANDARD: Inwiefern müssen Schrumpfungsprozesse auch beim Finanzausgleich berücksichtigt werden?

Weber: Der Finanzausgleich begünstigt die ohnehin wachsenden Zentralräume. Dort buttern wir ständig Geld hinein. Hier würde ich mir stattdessen wünschen, etwas differenzierter an die Sache heranzugehen. Ja, ein ordentlicher, behutsam begleiteter Schrumpfungsprozess kostet Geld, und diese Gelder müssten eigentlich auch im Finanzausgleichsgesetz (FAG) berücksichtigt werden. Das ist derzeit nicht der Fall. Die Landgemeinden haben zwar keine zentralen Aufgaben zu erfüllen, aber durch die geringe Bevölkerungsdichte müssen sie Kosten für weite Infrastruktursysteme tragen.

STANDARD: Wenn Sie die Macht hätten, ein neues Raumordnungsgesetz zu erlassen: Was wären die drei wichtigsten Punkte, die darin auf jeden Fall enthalten sein müssten?

Weber: Wenn ich die Macht hätte? Nun… Erstens würde ich einen sorgfältigeren Umgang mit Bodenressourcen verlangen: weniger Bodenversiegelung, mehr Nachverdichtung und Revitalisierung von Leerständen. Zweitens würde ich ein Instrumentarium für kontrollierte Schrumpfung schaffen, damit solche Prozesse professionell abgewickelt werden könnten. Das ist ein neues Berufsfeld, das sich hier herauskristallisiert. Und drittens vermisse ich in der Raumordnung, die ja ihre Wurzeln im Städtebau hat, ein Bekenntnis zur Ernährungssicherung. Ich würde fordern, dass die Bodengüte und die Agrarstruktur bei den Entscheidungen über die Siedlungsentwicklung stärker berücksichtigt werden. Spontan fallen mir diese als diese drei wichtigsten Punkte ein.

STANDARD: Wie wird Österreich im Jahr 2100 aussehen?

Weber: Wenn es so weiter geht wie in den 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird das für Österreich fatale Folgen haben. Manche Teile wären stark zersiedelt, andernorts wäre man mit verlassenen Landstrichen konfrontiert. Dann wird man Österreich im Jahr 2100 nicht wiedererkennen. Wir sollten daher stärker die Dezentralisierung auf regionaler Ebene betreiben und auf örtlicher Ebene die Zersiedelung unserer Landschaft nicht weiter sorglos vorantreiben. (Langfassung des Interviews; Wojciech Czaja, 13.9.2015)